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5.

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Er musste dann doch eingeschlafen sein. Als er die Augen wieder aufschlug, war es halb zehn. Es war hell im Zimmer, da er vergessen hatte, die Rollläden herunterzulassen. Aber es war immer noch eine graue Helligkeit ohne sichtbaren Sonnenanteil, die durch die beiden hohen Fenster hereinkam. Er fühlte sich müde und zerschlagen, wie früher nach einer durchzechten Nacht. Auf schweren Beinen stakste er ins Bad und schälte sich aus seinen vom Nachtschweiß feuchten Kleidern. Bevor er unter die Dusche stieg, stand er lange vor dem großen Spiegel.

Er sah einen gut mittelgroßen Mann mit einer Figur, die sich wohl immer noch als vorzeigbar bezeichnen ließ, auch wenn er seit Jahren so gut wie nichts für seine Fitness tat, abgesehen höchstens davon, dass er meist das Rad statt des Autos benutzte und hin und wieder ein bisschen schwamm oder lief. Mit zwanzig hatte er in der Sportgruppe der Uni zu boxen begonnen und auch eine ganze Weile durchgehalten, zumal er zu seinem eigenen Erstaunen bald Gefallen an der Schinderei des harten Trainings gefunden hatte. Doch nach dem Ende des Studiums war sein Interesse irgendwann geschwunden.

Viele seiner Kollegen bei der Zeitung gingen ins Fitnessstudio; schließlich zählte die umfassende Selbstoptimierung zu den prägenden Paradigmen der Zeit, über die er sich gern mokierte. Wenn die Rede darauf kam, mochten die meisten nicht glauben, dass seine sportliche Statur keiner regelmäßigen Bearbeitung mit Hanteln und anderen Geräten bedurfte, sondern sich im Wesentlichen der Natur verdankte. Er hatte offenbar ganz gute Gene geerbt aus der Linie seines Großvaters, der ein drahtiger Typ gewesen war, mit sichtbaren Muskeln an den Armen noch weit über siebzig.

Ansonsten hatte er aber keine Ähnlichkeit mit ihm, sondern sah in sich eher das Ebenbild seines Vaters, den er nur von Fotos kannte und der das gleiche schmale Gesicht gehabt hatte, dominiert von einer ausgeprägten geraden Nase und mit einem Grübchen im Kinn. Das dunkelblonde, volle Haar trug er lang im Nacken und bis über die Ohren, sodass es sich auch zu einem kleinen Zopf knoten ließ, was Anna besonders gefallen hatte, ihm selbst indes weniger – ein mittlerweile allzu geschmäcklerisches modisches Statement, wie er fand. Das Auffälligste an seinem Gesicht war der etwas melancholische Blick der tiefliegenden blaugrauen Augen, unter denen sich jetzt deutlich dunkle Schatten zeigten.

Das also bist du, Philipp Kamphausen, sagte er leise zu seinem Spiegelbild und war sofort irritiert davon, dass er die Worte tatsächlich aussprach, statt sie lediglich zu denken.

Nach dem Duschen und Rasieren wurde er sich des ähnlich irritierenden Umstandes bewusst, dass er seit ungefähr zweiunddreißig Stunden nichts mehr gegessen hatte, aber dennoch keinen Hunger verspürte. Gerade als er in die Küche gehen wollte, um sich etwas zum Frühstück zuzubereiten, klingelte das Festnetztelefon. Es meldete sich ein Mann mit süddeutschem Akzent, der ihm erklärte, er sei Reinhold Bertram, „der Bruder von der Anna“. Man sei von der Polizei über „dieses schreckliche Unglück“ informiert worden. Und jemand müsse sich ja nun „um die Regelung dieser ganzen traurigen Angelegenheiten kümmern“, die Überführung des Leichnams und „all diese Regularien“, und nach Lage der Dinge obliege dies den nächsten Angehörigen, der Familie, „denn schließlich seid ihr zwei ja nicht richtig verheiratet gewesen“. Da den betagten Eltern all dies kaum zuzumuten sei, werde er sich darum kümmern. Er hoffe, das sei ihm recht. Und ob er bei ihm vorbeikommen dürfe, vielleicht heute noch oder, wenn nicht, dann morgen.

Philipp wusste nicht, ob er das wollte. Am liebsten wäre er davongelaufen, weggefahren, irgendwohin, wenigstens für ein paar Tage, um erst einmal Abstand zu gewinnen. Aber er brachte es auch nicht über sich, den Mann, der Annas Bruder war, einfach abzuwimmeln. Seine Stimme klang so traurig und außerdem nicht unsympathisch.

„Ja, kommen Sie her“, sagte er nach einer kurzen Pause. „Kommen Sie am besten morgen so gegen Mittag.“

Er aß ein paar Bissen Brot, trank eine Tasse Kaffee und verließ dann die Wohnung, ohne sein Handy mitzunehmen. Seinen dunkelgrünen Saab 900, den er selten fuhr, hatte er, wie meistens, ein paar Straßen weiter um die Ecke geparkt. Es war ein älteres, aber gut erhaltenes Modell, „fast schon etwas retro“, wie Anna es genannt hatte. Während er einstieg, musste er kurz daran denken, was jetzt wohl mit ihrem Wagen geschehen würde; auch darum würde sich ihr Bruder kümmern müssen. Er fuhr hinaus aus der Stadt, stellte den Wagen ab und wanderte stundenlang, bis es Abend war und ihm die Füße wehtaten.

Wieder zu Hause, fand er auf seiner Mailbox mehrere Anrufe von Kollegen vor, auch zwei von Weidenfeld. Und dann gab es noch einen von einem Horst Meinecke, der sich als Anwalt und Notar vorstellte und um baldigen Rückruf bat. Der Name sagte Philipp nichts. Für den Anruf war es jetzt ohnehin zu spät. Außerdem war er sehr müde.

Das Grab der Lüge

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