Читать книгу Etwas ist immer - Ben Worthmann - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеAbends, als die Kinder im Bett lagen, fing Anna damit an, das neue Haus einzurichten. Sie lief in unserer Wohnung hin und her und erzählte mir, was wir von unserer Einrichtung noch gebrauchen könnten und was wir neu anschaffen müssten. Es kam, so weit ich das verfolgen konnte, darauf hinaus, dass wir praktisch alles neu brauchten – für das große Wohnzimmer, das fast das gesamte Erdgeschoss einnahm, für ein zusätzliches Kinderzimmer – bisher teilten sich Max und Paul einen Raum -, für das Gästezimmer, für unser eheliches Gemach unter dem geräumigen Giebeldach. Im Handumdrehen hatte Anna einen potenziellen Bedarf an Einrichtungsgegenständen zusammengerechnet, mit dessen Deckung ein mittleres Möbelhaus seinen Jahresumsatz hätte verdoppeln können. Ich sah schon geschniegelte Geschäftsführer mit devotem Augenaufschlag um ihre neue Großkundin herumspringen, ihr die Tür aufhalten und sie mit Beweisen höchster Ehrerbietung überschütten, um sich dann anschließend, wenn sie hinaus war, feixend die Hände zu reiben.
„Wenn man ein bisschen geschickt ist, kann man das alles über die Baufinanzierung regeln“, sagte Anna. „So machen das doch alle.“
Ich hatte das etwas anders gehört. Ich hatte es in diversen Gesprächen mit erfahrenen Kollegen so verstanden, dass man eine geschickte Baufinanzierung daran erkennt, dass hinterher Geld genug für ein neues Auto übrig bleibt, nicht aber für Möbel, Lampen und Vorhänge. „Ein Daimler müsste dabei immer rausspringen“, sagten sie. Mannhaft unterdrückte ich den Drang, Anna auf diesen kleinen Unterschied hinzuweisen – schon deshalb, weil wir uns eben erst ein neues Auto gekauft hatten. Wir hatten beide gemeint, dass es, wenn wir erst bauten, auf ein paar tausend Mark mehr oder weniger auch nicht mehr ankomme und also kühn unsere Ersparnisse angegriffen. Ich hatte das Projekt „Autokauf vor Hausbau“ für mich dahingehend zu legitimieren versucht, dass man nicht zum Sklaven zeitlicher Abläufe werden dürfe, dass es mithin also gleichgültig sei, ob man das mittels Baufinanzierung zu erwerbende Auto vor Baubeginn oder erst nach dem Einzug anschaffe. Außerdem hatten wir den neuen Wagen wirklich dringend gebraucht, schon aus Vernunftgründen, weil der alte nicht mehr durch den TÜV gekommen wäre.
Im Übrigen hatte ich nicht die geringste Lust, mich an diesem Abend mit Anna über Autos, Häuser und Geld zu unterhalten. Ich wollte noch ein Glas Rotwein trinken, in Ruhe eine Zigarette rauchen und ins Bett, mit ihr. Sie wusste das auch, wir wussten das beide schon seit dem Nachmittag.
Anna nahm einen Zettel und begann, Zahlen untereinander zu schreiben. Jedes Mal, wenn es um irgendwelche Vorhaben und um Geld ging, nahm sie Zettel und schrieb Zahlen auf. Sie machte sich vor jedem Einkauf einen Zettel, aber ich hatte noch nie erlebt, dass sie ihn auch mitnahm. Sobald sie einen Einkaufzettel geschrieben hatte, verlor sie jegliches Interesse daran und verlegte ihn. Zwar fragte sie manchmal pro forma: „Ach, wo ist denn nur mein Einkaufszettel?“, aber in Wahrheit wollte sie das gar nicht wissen. Bestimmt hätte es sie völlig aus dem Konzept gebracht, wenn sie ihn wirklich wiedergefunden haben würde. Deshalb maß ich ihrem abendlichen Treiben keine allzu große Bedeutung bei. Ohnehin ging es hier um Summen, die den üblichen Rahmen von Einkaufszetteln deutlich sprengten. Das Ganze kam mir, ehrlich gesagt, ein wenig absurd vor.
„Hör auf damit“, sagte ich, „das ist doch jetzt noch gar nicht akut.“
Sie lenkte erstaunlich schnell ein. Es gab Tage, da wussten wir morgens, wie sie enden würden, ein paar Blicke und Gesten genügten und uns beiden war klar, worauf es hinauslaufen würde. Das war in meinen Augen seit jeher der unbestreitbare Vorzug einer dauerhaften, intakten Zweierbeziehung. Man konnte sich den Zeit- und Nervenaufwand ersparen, den andere benötigten, nur um sich hin und wieder in den Genuss eines Beischlafs zu bringen. Erotische Abwechslung mag ihren Reiz haben – erotische Verlässlichkeit ist jedoch eine Errungenschaft, die letzten Endes mehr wiegt. Es ist kaum übertrieben, sie zu den großen kulturellen Aneignungen der Menschheit zu rechnen. Die Vorzüge der Monogamie zu preisen hat nichts mit Moral zu tun. Es ist einfach eine Frage der Zweckmäßigkeit und der richtigen Balance von Aufwand und Nutzen.
Ich kannte eine ganze Reihe von Leuten, Geschiedene und Singles, die sozusagen mit triefenden Lefzen durchs Leben hechelten, immer auf der Jagd nach einer Sexualpartnerschaft, immerzu gestresst, meistens frustriert. Gelang es ihnen, jemanden zu erbeuten und klappte es mal für eine Nacht, machten sie sich sofort Gedanken, ob es nicht auch vielleicht drei Jahre oder ein ganzes Leben gut gehen könnte. Ging es drei Wochen gut, begannen sie zu grübeln, ob nicht etwas falsch lief und ob es nicht besser gewesen wäre, die Sache nach drei Tagen zu beenden.
Ronald beispielsweise, ein früherer Kollege, stellte nach einem Jahr fest, dass seine Ehe nicht mehr funktionierte, wie er sich mir gegenüber ausdrückte. Ich bohrte ein bisschen nach, und er breitete sein gesamtes Intimleben vor mir aus, bis hin zu den seiner Ansicht nach lieb- und reizlosen Unterbekleidungsgewohnheiten seiner überaus attraktiven Frau sowie gewissen, daraus folgenden Retardierungen des beiderseitigen koitalen Temperaments. Es stellte sich heraus, dass Ronalds Ehe im Grunde noch nie funktioniert hatte, da die beiden nicht wie richtige Eheleute zusammen-, sondern wie zwei Einzelgänger nebeneinander lebten. Am Wochenende ging er seinem Hobby nach – Fotografieren – und sie pflegte ihre Migräne. Wenn sie hin und wieder miteinander ins Bett gingen, schmierte sie sich vorher das Gesicht mit Fettcreme ein und zog ein Flanellnachthemd an. Das fand er entsetzlich. Am Sonntagabend zog er sich zurück, um sich mit seinen Fotos zu beschäftigen und ließ sie allein vor dem Fernseher sitzen, was sie ihrerseits nicht in Ordnung fand. Schließlich wurde ihre Unterwäsche immer rustikaler und ihr Cremeverbrauch erreichte ein solches Ausmaß, dass er darin massive Anzeichen für vorsätzliche Verweigerung erblicken zu müssen meinte, jedenfalls was die Ausübung des Sexualaktes mit ihm, Ronald, betraf.
Eines Tages dann entdeckte er, dass sie heimlich seidene Slips zu tragen begann, und als er von einer Dienstreise zurückkehrte, war die Wohnung halb leer geräumt und die Angetraute weg. Sie hatte, wie ihm alsbald zur Kenntnis gebracht wurde, einen Anderen gefunden, und sie wurde umgehend schwanger, während Ronald erst in Depressionen versank, dann zu trinken anfing und schließlich hektisch durch alle möglichen Betten turnte. Jedes Mal, wenn er wieder eine neue Frau fürs Leben entdeckt hatte, erzählte er mir haargenau, wie es mit ihr lief. Falls seine Berichte zutrafen – was ich bisweilen bezweifelte, manches erschien mir ein bisschen übertrieben –, führte er ein wahrhaft zügelloses, aber eben auch sehr aufreibendes Leben. Seine Fotos waren, nebenbei bemerkt, nicht halb so gut, wie er selbst glaubte.
Wenn ich einen Zeugen für meine These nötig hätte, dass die erotische Vertrautheit und die sexuelle Verlässlichkeit der diesbezüglichen Abwechslung bei weitem vorzuziehen sind, müsste ich mir nur Ronald vor mein geistiges Auge rufen, stellvertretend für all jene meiner Geschlechtsgenossen, die nach Art übermotivierter, neurotischer Trüffelschweine in einem trüffelfreien Wald ständig nach den zwei ultimativen weiblichen Schenkeln schnüffeln, zwischen denen sie Linderung zu erfahren hoffen, ohne sie indes je erlangen zu können.
Anna und ich, wir begaben uns an diesem Abend also auf unser Nachtlager, und wir hielten uns nicht lange mit Präliminarien auf. Das ist manchmal besonders angenehm, einfach schnurstracks zur Sache zu kommen, das hat nichts mit ehelicher Routine zu tun, ganz im Gegenteil. Man kann sich den Genuss der bewussten Direktheit – um es einmal so zu nennen – nur dann richtig gönnen, wenn man einander sehr gut kennt.
Annas Atem ging bereits schwer und sie war eben dabei, mich in die richtige Position zu dirigieren, als das Telefon in der Diele sich meldete.
„Ach, lass doch“, ließ sich meine Frau etwas verwaschen vernehmen, „wer wird das um diese Zeit schon sein.“
Sie machte einfach weiter. Das Telefon machte ebenfalls weiter. Ich merkte, dass ich in gewisse Schwierigkeiten geriet, die Anna allerdings zu ignorieren versuchte. Aber es war schon zu spät. Ich löste mich aus ihrer Umklammerung, stieg aus dem Bett, stolperte aus dem Zimmer, stieß gegen das Telefontischchen und nahm leise fluchend den Hörer ab.
„Ja, bitte!“, sagte ich so geschäftsmäßig wie möglich, damit gleich klar war, wie wenig gelegen mir dieser Anruf kam.
„Opa ist tot“, sagte meine Mutter.
„Oh“, sagte ich.
„Er ist ganz ruhig eingeschlafen“, fuhr sie fort. „Ich wollte noch mal nach ihm sehen – und da lag er da und atmete nicht mehr.“
„Und was machst du jetzt?“, fragte ich. „Ich meine, bist du jetzt...allein...mit ihm? Kannst du schlafen, während er...nebenan...?“
„Anton Veigel ist rübergekommen“, sagte sie, „er sitzt noch hier. Aber es wäre schön, wenn du morgen...“
„Sicher“, sagte ich, „natürlich, ich komme. Das heißt, wir kommen. Am späten Vormittag sind wir da.“
Ich ging zurück ins Schlafzimmer. Anna hatte das Gespräch mitbekommen und wusste Bescheid.
„Bring uns doch mal eine Zigarette“, sagte sie. Ich tastete mich zurück durch die Diele ins Wohnzimmer, angelte meine Schachtel Camel vom Regal und holte einen Aschenbecher.
Dann lagen wir nebeneinander und rauchten abwechselnd dieselbe Zigarette. Auf unseren erhitzten Körpern hatte sich ein dünner Schweißfilm gebildet, und ich dachte an den erkaltenden, allmählich starr werdenden Körper meines Großvaters, der hundert Kilometer entfernt, in dem Haus, in dem ich geboren und aufgewachsen war, in dem Bett lag, in dem er viele Nächte seines Lebens geschlafen hatte.
„Fahr du mal morgen allein nach Mellingen“, sagte Anna.
„Bist du traurig?“, fragte ich sie. „Ich meine, er war ein sehr alter Mann, fast neunzig, und er war krank.“
„Trotzdem“, sagte sie, „ja, ich bin traurig, ich habe ihn sehr gemocht.“
Du kanntest ihn ja auch nicht so gut wie ich, dachte ich. Irgendwann, gegen Ende, habe ich ihn auch gemocht, aber vorher hatte ich ihn oft genug zum Teufel gewünscht. Ich blickte auf Annas Körper, der schlank und hell war und nicht im Entferntesten vermuten ließ, dass aus ihm schon zweimal neues menschliches Leben gepresst worden war, und wie durch ein Wunder löste sich das Bild meines Großvaters in Nichts auf. Ich drückte die Zigarette aus, stellte den Aschenbecher weg, löschte das Licht – durch die Jalousienritzen kam gerade genug Mondschein, um es nicht stockfinster sein zu lassen – und hatte plötzlich den dringenden Wunsch, dort fortzufahren, wo wir aufgehört hatten.
Als ich den Arm um Anna legte, um sie an mich zu drücken, spürte ich erst einen leisen Widerstand, wahrscheinlich spielte so etwas wie Pietät dabei eine gewisse Rolle. Aber dann gab sie nach. Sie war sehr sanft, als sie mich auf sich zog, und ich wusste immer noch nicht, ob sie wirklich wollte oder ob sie nur deshalb mitmachte, weil sie fühlte, wie wichtig es gerade jetzt für mich war. Es war mir, ehrlich gesagt, auch ziemlich egal, weshalb sie das tat, was sie tat. Hauptsache, sie tat es.