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Kapitel 5
Оглавление„Anna ist nicht mitgekommen?“
„Ach, weißt du, sie fühlte sich nicht so besonders, außerdem die Kinder...“ (Eine glatte Lüge. Sie fühlte sich, abgesehen von jener leichten situationsbedingten Traurigkeit, hervorragend nach unserer vorigen Nacht. Aber sie wollte einfach nicht mit, wie sie gleich angekündigt hatte, und ich verstand das nur zu gut. Und ich, ich wollte das alles nur so schnell wie möglich hinter mich bringen.)
„Aber zur Beerdigung kommt ihr doch hoffentlich alle?“
„Natürlich, klar. Wann ist denn die überhaupt?“
(Als hätte ich nicht gewusst, dass man die Leichen traditionell drei volle Tage im Sarg stehen ließ, bevor man sie einscharrte, die Beerdigung also wohl am kommenden Mittwoch sein würde, wie ich mir ausrechnen konnte.)
„Nächsten Mittwoch.“
„Was meinst du, kann ich den Wagen so stehen lassen?“
(Warum musste ich diese Frage ausgerechnet meiner Mutter stellen, die noch nie in ihrem Leben hinter einem Lenkrad gesessen hatte? Ich ging mir selbst auf die Nerven.)
„Stell ihn doch lieber in die Einfahrt“, sagte meine Mutter. „Ich gehe schon mal wieder rein, die Nachbarn sind da. Ich habe übrigens, glaube ich, nicht genug im Haus. Könntest du schnell noch ein bisschen Bier besorgen?“
Sie wirkte nicht übermäßig bedrückt – was mich kaum erstaunte –, aber was mich doch wunderte, war, dass sie nicht einmal mein neues Auto wahrgenommen hatte. Das heißt, eigentlich wunderte ich mich gar nicht. So war sie eben – eine eigentümliche Mischung aus Lethargie, Weltfremdheit und Ignoranz, was die meisten Dinge des täglichen Lebens anbetraf. Nun hatte sie, nachdem sie mit dreißig Jahren Witwe geworden war, ihren alten Vater
„totgepflegt“, wie es hier auf dem Lande so schön hieß, ohne dass sich jemand etwas Hintersinniges dabei dachte, obschon es in dem einen oder anderen Fall von „totpflegen“ aus kriminalistischer Sicht sicherlich lohnend gewesen wäre, ein paar Nachforschungen anzustellen.
Indem sie im Haus ihres Vaters die Zeit damit zubrachte, auf dessen Tod zu warten und ihm bis dahin das Essen zu kochen und seine Wäsche zu machen, hatte sich meine Mutter zweifellos eine Handvoll moralischer Meriten erworben, und dass sie dadurch außerdem in den Besitz des Hauses gelangte, empfand zumindest sie selbst als angemessene Belohnung.
Unter anderen Bedingungen hätte ich jetzt wegen ihrer kognitiven Dissonanz bezüglich meines neuen Wagens wohl gern eine spitze Bemerkung gemacht. Aber so, nachdem Gevatter Tod eben erst zu Gast gewesen war und so etwas wie eine allgemeine Friedenspflicht das Gebot der Stunde war, verspürte ich keinen großen Drang, mit irgendjemandem herumzuzanken. Die ganze Situation war mir ohnehin höchst unangenehm. Ich will nicht gerade behaupten, dass ich bestürzt war angesichts des Ablebens jenes Mannes, in dessen Haus und unter dessen Obhut ich aufgewachsen war. Aber ein wenig ging mir das alles schon an die Nieren. Und ganz besonders erschreckte mich die Aussicht, in der kommenden Woche anlässlich der Beerdigung der versammelten Verwandtschaft begegnen zu müssen. Ich schätze Familienzusammenkünfte noch weniger als Beerdigungen, und wenn beides zusammenkommt, wie es bekanntlich meistens der Fall ist, sofern es sich bei dem Verstorbenen nicht um einen hoffnungslosen Außenseiter handelt, möchte ich am liebsten sofort das Weite suchen. Ich merkte deutlich, wie meine Stimmung immer schlechter wurde.
Ich wendete und fuhr in Richtung Dorf. Der Gedanke, in die Stadt zu fahren, war mir ein Gräuel, obwohl das Bier dort im Supermarkt gewiss billiger war. Aber in der Stadt würden mir womöglich alte Bekannte aus meinen Jugendtagen über den Weg laufen, und das hätte mir jetzt gerade noch gefehlt. Die Gastwirtschaft am Dorfrand – sie verdiente diese leicht anachronistische Bezeichnung tatsächlich noch, denn sie hatte sich gegen alle Einflüsse des gastronomischen Zeitgeistes erfolgreich behauptet – war erstaunlicherweise geöffnet. Jahrzehntelang hatte in dem düsteren, verräucherten Schankraum ein trunksüchtiger Koloss von Wirt hinter der Theke gestanden, der die elementarsten Grundregeln der Hygiene konsequent missachtete, mit schmutzigen Fingern in die vollen Gläser langte, mittels seiner Hustenanfälle die Schaumkronen in Schneegestöber verwandelte – und dabei als der beste Pilszapfer weit und breit galt. Ich hatte es aber selbst in meinen wildesten Pennälerzeiten, als es meine Altersgenossen und ich zuweilen in besonders abseitige Lokalitäten zog, niemals über mich gebracht, die Probe aufs Exempel zu machen. Es gab in Mellingen und Umgebung gewiss nicht viele Kneipen, in denen ich noch nie ein Bier getrunken hatte. Doch diese war eine davon. Womöglich wäre ich an diesem Tag sogar in der passenden Laune gewesen, das fragwürdige Abenteuer nach vielen Jahren doch noch nachzuholen. Der Genuss eines schmackhaften, wenn auch unter bedenklichen Umständen servierten Glases Pils musste mir allerdings versagt bleiben, und zwar aus zwingenden Gründen. Der Wirt war nämlich, wie ich wusste, unlängst seiner Leberzirrhose erlegen, gegen deren Wüten er sich fast unmenschlich lange mit aller verbliebenen Kraft seines aufgedunsenen Körpers gestemmt hatte. Wahrscheinlich hatte ihn der Alkohol über die natürliche Frist seines Daseins hinaus so weit konserviert, dass er noch Jahre seinen Dienst am Zapfhahn versehen konnte, obwohl er „im Prinzip“, wie unser Architekt Stawitzki gesagt hätte, längst unter den Toten weilte.
Wie auch immer, der Nachfolger – offenbar sein Sohn – verkaufte mir wortlos einen Kasten Bier und eine Flasche Doppelkorn. Der junge Mann war, nach seinem Äußeren zu urteilen, auf dem besten Wege, ein kongenialer Verfechter jener Ideale zu werden, für die sein Vater sein Leben hingegeben hatte. Er schien mir ganz in jene Gefilde der alkoholbedingten Unerschütterlichkeit entrückt zu sein, in denen sich nur die wahrhaften Überzeugungstrinker aufhalten, die nicht nach der Uhr schauen, bevor sie das erste Glas des Tages leeren. Seine Handbewegungen hatten etwas Mechanisches, und seine Getränkepreise waren, wie ich befürchtet hatte, die reine Unverschämtheit. Ich versagte es mir dennoch, diesen Sachverhalt kritisch zu kommentieren, obwohl mir das nicht leichtfiel. Das heißt, eigentlich fiel es mir doch leicht, denn es drängte sich mir der Eindruck auf, dass der Spross des genialen Zapfers seine Stärken nicht auf dem Gebiet der Rezeption und Artikulation des gesprochenen Wortes hatte. Ich hätte, wenn ich etwas gesagt hätte, gegen eine Wand geredet. Also bezahlte ich schweigend.
Bevor ich zurückfuhr, blieb ich eine Weile im Auto sitzen und legte eine alte Kassette von den Hollies ein, die immer mitfuhr, egal, welches Auto es gerade war. Ich war noch nie ein Hollies-Fan gewesen, sondern stand seit jeher auf Rolling Stones, Dvorak, Beethoven, Pink Floyd und, na ja, Beatles – aber nur die sehr frühen und die ganz späten Stücke. Als ich das erste Mal „Love me do“ hörte, ging ich förmlich in die Knie. Und das Weiße Album hütete ich wie einen Schatz. Aber richtig ins Schwingen und Schweben kam meine Seele eigentlich erst bei den Neunten von Beethoven und Dvorak. Und über den Stones kam für mich nur noch der Himmel. Ich fragte mich manchmal, wie die Menschen es ausgehalten hatten, bevor es solche Musik gab. Die Hollies hatten, streng genommen, nichts als schieren Schlagerkitsch gespielt, aber es waren zwei, drei Songs darunter, die derart unschuldsvoll-reine Schnulzen waren, dass man vergehen konnte. Ich habe nun mal eine sentimentale Ader. Oder, wie mein Chefredakteur einmal sagte: „Man muss gelegentlich auch den Mut zum Kitsch haben.“ Also hörte ich mir die Hollies an.
Ich blickte die Straße hinunter, die in der Ferne eine scharfe Rechtskurve machte und direkt an unserem Haus vorbeiführte, an jenem Haus, das mein Großvater gebaut hatte, als er selbst Familienvater wurde. Hier hatte ich nach dem Tod meines Vaters – er starb, als ich sechs war – gelebt, bis ich keine Lust mehr hatte, ein hauptberuflicher Sohn und Enkel zu sein, sondern weg wollte, und das möglichst schnell.
Es war ein kleines, anderthalbstöckiges Haus, das deutlich, in nahezu überheblicher Manier, von den beiden Häusern rechts und links überragt wurde und kaum zu sehen war zwischen den vielen Obstbäumen rings umher. Es bot einen beschaulichen Anblick. Wenn man Häuser aus einem gewissen Abstand betrachtet, mag man kaum glauben, was in ihrem Innern alles vor sich geht. Da wird gestritten und geschlafen, gevögelt und gestorben und gesoffen und geredet und gelacht und geheult und neu tapeziert, und hin und wieder schmeißt jemand einen Gegenstand durch ein geschlossenes Fenster. So geschehen bei Veigels, unseren Nachbarn, bei denen am Heiligabend einmal eine brennende Spielzeugdampfmaschine aus dem Fenster geflogen kam. Untermalt wurde diese kometenhafte, um nicht zu sagen bethlehemeske Szene – leuchtender Himmelskörper, schlichtes Wohngebäude – vom Gebrüll des Vaters, nachdem kurz zuvor noch alle zusammen „Stille Nacht“ geblökt hatten.
Doch das meiste von dem, was innerhalb eines Hauses stattfindet, bleibt sein Geheimnis. Und das ist auch ganz in Ordnung so. Ich stellte mir nun vor, wie die Bewohner der beiden Nachbarhäuser, Pothmüllers und Dresslers, Backmanns und Veigels, dort unten in dem kleinen Haus bei meiner Mutter im Wohnzimmer hockten und die Gläser auf meinen Großvater hoben, der nebenan im Schlafzimmer seinen ewigen Schlaf hielt, bevor ihn die Leute vom Bestattungsunternehmen bald abholen würden. Bestimmt warteten sie schon auf Nachschub. „He's my brother“, behaupteten die Hollies, und ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn die Räder meines Autos plötzlich Wurzeln geschlagen hätten. Ich überlegte ernsthaft, ob ich einen Schluck von dem Doppelkorn nehmen sollte, ließ es dann aber bleiben. Schließlich musste ich noch fahren. Es hatte Zeiten gegeben, da ich grundsätzlich zu jedem Unsinn aufgelegt war und mir manchmal schon morgens Cognac hinter die Binde gekippt hatte. Aber das war lange, bevor ich Anna kennenlernte und vernünftig wurde.
Ich steckte mir lieber eine Camel an und bildete mir ein, dass das Auto schon nicht mehr ganz so fabrikfrisch roch. Mein Blick glitt die Straße hinunter, mit der sich spektakuläre Erinnerungen verbanden – größtenteils in Form mündlicher Überlieferung an meine Generation, teils aber auch noch als Reminiszenzen an Erlebnisse aus sehr frühen Kindertagen. Jahrelang war die Straße durchschnittlich einmal pro Woche Schauplatz eines mehr oder minder schweren Verkehrsunfalls gewesen. Autos flogen aus der Kurve und landeten im Graben oder krachten gegen Bäume. Insassen wurden herausgeschleudert und verfingen sich blutend in Weidezäunen, Wagen überschlugen sich und rutschten scheppernd auf dem Dach vorüber. Es gab Zusammenstöße, nach denen die Feuerwehr eingeklemmte Menschen aus den Wracks befreien musste, und oft genug glich die Straße einem regelrechten Schlachtfeld.
Der Anblick von Blutlachen, gespickt mit Glassplittern und garniert mit zerbeulten Autoteilen, wurde für die Anwohner zu einem vertrauten Bild. Sieht man einmal von den ausgewiesenen Kriegsgebieten dieser Erde ab, so weiß ich nicht, ob es noch sehr viele andere Orte gibt, an denen Heranwachsende derart massiert mit Verletzung, Zerstörung und Tod konfrontiert wurden, wie das bei mir und unseren Nachbarskindern der Fall war.
Ob die unschuldigen Seelen daran Schaden genommen haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Auf jeden Fall konnten wir Kinder dem Ganzen auch unterhaltsame Seiten abgewinnen. Einmal verunglückte ein Lieferwagen mit einer Ladung Süßigkeiten, und wir zogen wie die Plünderer mit Eimern und Taschen los, um die verlorene Fracht einzusammeln. Veigels Kinder, die trotz – oder vielleicht auch wegen – der besonders kirchenstrengen Erziehungsmethoden ihrer Eltern mitunter eine mir durchaus sympathische Vorliebe für frivole Extravaganzen an den Tag legten, etwa, indem sie lebende Regenwürmer verzehrten oder die Katze der Nachbarn quälten, postierten sich an bestimmten Wochentagen zu bestimmten Uhrzeiten, wenn die Unfallwahrscheinlichkeit nach unseren Erfahrungswerten besonders hoch war, in der Kurve – natürlich in sicherem Abstand – und warteten darauf, dass ein Autofahrer vom rechten Wege abkommen möge, um einen Unfall sozusagen live beobachten zu können. Als ihr Vater das herauskriegte, tobte er vor Zorn und sperrte seine Brut für einen halben Tag in den Keller.
Ich starrte in Gedanken versunken weiter auf die Straße und wartete darauf, dass mein Auto festwachsen würde. Aber den Gefallen tat es mir leider nicht. Die Hollies waren längst verstummt und ich überlegte, ob ich noch Dvorak nachschieben sollte. Aber es half ja alles nichts. Ich musste da wohl durch.
Ich drückte die Zigarette aus und fuhr los. In der Kurve trat ich intuitiv auf die Bremse, obschon dieser Risikoabschnitt längst durch Straßenbaumaßnahmen entschärft worden und die Unfallhäufigkeit rapide zurückgegangen war.
Ich parkte den Wagen in der Hofeinfahrt, schleppte die Getränke ins Haus und bahnte mir im Wohnzimmer einen Weg durch all den Qualm von Zigarren und Zigaretten. Ich habe nichts gegen Tabaksqualm, aber nur solange es sich um meinen eigenen handelt. Die alten Knaben hier schienen schon ziemlich in Stimmung zu sein. Ich fragte mich, womit ich das alles eigentlich verdient hatte.
„Ein feines Auto hast du da“, erklärte mir Veigel mit schon etwas schwerer Zunge. „Wie geht's denn zu Hause und bei der Arbeit?“
Bevor ich antworten konnte, meldete sich Dressler mit seiner Bassstimme. „Dein Opa, das war ein braver Mann, hat viel schuften müssen.“
Dressler hatte, so weit ich mich erinnern konnte, immer schon die Stimme und die Statur eines alternden Berggorillas gehabt. Er sah aus, als könne er kräftig zupacken – ein Täuschungsmanöver der Natur. Früher war er manchmal herübergekommen, wenn bei uns ein Schrank von der Wand gerückt oder der Herd verschoben werden musste. „Kein Problem, das haben wir gleich“, sagte Dressler dann, rollte die Ärmel hoch, ging in die Hocke – und richtete sich sogleich mit verzerrtem Gesicht wieder auf. „Au, verdammt, der Rücken.“ Er war ein typischer Maulheld, wie so manche der Erwachsenen, mit denen ich es in meiner Kinderzeit zu tun hatte. Mir war das damals nur nie so richtig klar gewesen. Ich hielt es für normal, dass die Großen groß mit Worten taten. Auch mein Großvater konnte mächtig vom Leder ziehen. Meistens, wenn ein paar Leute zusammensaßen und ihre Reden führten, ging meine Großmutter in den Garten. Sie konnte es einfach nicht mit anhören.
„Trink einen Schnaps mit uns“, dröhnte Dressler und prostete mir mit seinem Glas zu. Ich wies darauf hin, dass ich noch fahren müsse. Selbst wenn ich einen Chauffeur dabei gehabt hätte oder einen Taxigutschein für zwanzigtausend Kilometer, hätte ich hier keinen Tropfen angerührt. Es ging mir einfach gegen den Strich. August Pothmeier war bereits erheblich angeschlagen und stierte mich aus schweinskleinen roten Augen an. Backmann, sein Schwiegersohn, der jetzt noch oben bei ihm unterm Dach wohnte und nur darauf wartete, das Haus zu erben, krähte etwas von Schicksal und arbeitender Bevölkerung und ungerechten Verhältnissen und schimpfte auf die Regierung. Backmann war, wie allgemein bekannt, ein überzeugter „Roter“, aber das reichte bei weitem nicht aus, ihn mir erträglich erscheinen zu lassen.
„Pothmeiers und Backmanns sind Angeber“, pflegte mein Großvater zu sagen. Er konnte sie nicht leiden, was ich irgendwie verstehen konnte. Ich bin aber nie dahinter gekommen, ob seine Aversion, zumindest zeitweilig, auch etwas mit politischen Anschauungen zu tun hatte. Doch obschon mein Großvater die meiste Zeit seines Lebens ein „Schwarzer“ war, glaube ich es eigentlich nicht. Er behauptete zwar früher, Pothmeier sehe im Profil aus wie Nikita Chruschtschow, der damalige kommunistische Parteichef im Kreml, „genau so verschlagen“, aber das meinte er wohl weniger ideologisch als physiognomisch. Ursprünglich war mein Großvater ein Zentrumsmann, dann, nach dem Krieg, wählte er natürlich Adenauer. Doch als Brandt kam, setzte bei ihm von einem auf den anderen Tag so etwas wie ein später Prozess der politischen Bewusstseinsveränderung ein. Die Ostpolitik fand er gut, Strauß und Barzel hingegen fand er furchtbar. Auf seine alten Tage konvertierte mein Großvater auf wundersame Weise noch zu den Sozis und, praktisch ganz nebenbei, auch zu den Agnostikern, was dazu führte, dass wir uns ein bisschen näher kamen. Je älter er wurde, umso verständiger schien er zu werden, und bisweilen gelang es uns, einigermaßen vernünftig miteinander zu reden. Sogar seine sonntäglichen Kirchenbesuche wurden spärlicher, und eines Tages stellte er sie ganz ein. Vom Papst wollte er überhaupt nichts mehr wissen – anders als seine fromme Schwester Martha, die schon bei Rundfunkübertragungen vom Petersplatz auf dem abgetretenen Linoleumfußboden ihrer Wohnküche in die Knie sank. So war er, als Anna ihn kennenlernte, und wenn ich ihr mitunter erzählte, wie er in früheren Zeiten gewesen war, sah sie mich jedes Mal zweifelnd an.
Was meinen Großvater in früheren Jahren von Leuten wie Pothmeier und Backmann unterschied, war weniger die politische Weltanschauung als der soziale Status. Die waren Arbeiter – er aber war Graveur und Goldschmied, ein veritabler Handwerksmeister also. Er war so etwas wie ein Abteilungsleiter in einem Mellinger Betrieb, der sich auf die Herstellung von Devotionalien verlegt hatte. Andere Fabriken in Mellingen mochten Kochtöpfe, Schirmständer, Auspuffrohre oder gusseiserne Füße für Nachttischlampen herstellen. Der Betrieb, in dem mein Großvater beschäftigt war, produzierte Medaillons mit Reliefs von Heiligen, Christophorus-Plaketten, die man in katholischen Gegenden wie dieser zum Schutz gegen Autounfälle am Armaturenbrett anbrachte – offensichtlich ohne flächendeckenden Erfolg, wie die Ereignisse auf der Straße vor unserem Haus bewiesen –, Rosenkränze und Muttergottesfiguren und natürlich Kruzifixe in allen möglichen Größen und Varianten, „Herrgöttkes“ genannt.
Mein Großvater entwarf all solche Gegenstände des religiösen Alltagsbedarfs und stichelte die entsprechenden Guss- und Prägeformen zurecht. Er war ein großer, knochiger Typ, und seine sehnigen Hände kamen mir immer so vor, als seien sie genau für diese Art von Tätigkeit geschaffen.
Ich habe mir zwar hinsichtlich der Verbreitung der Idee von der Aufklärung in Mellingen und Umgebung nie irgendwelche Illusionen gemacht, aber bisweilen fragte ich mich doch, wer die Käufer und Benutzer dieser ganz und gar unvernünftigen Konsumartikel waren. Irgendwo müssen die zigtausend Madonnen und Heiligen und Herrgöttkes schließlich abgesetzt worden sein, denn der Betrieb, in dem mein Großvater arbeitete, florierte. Wo befanden sich bloß die Verbraucher ganzer Waggonladungen von Rosenkränzen und frommen Plaketten? Wer gab für all diesen schamanischen Ramsch sein sauer verdientes Geld aus? Selbst wenn man großzügig annahm, dass jeder Mensch in Mellingen und Umgebung im Besitz je eines kompletten Satzes Devotionalien war, so blieb es mir doch ein Rätsel, wie neuer Bedarf geweckt wurde, denn das Zeug war schließlich keinem erkennbaren Verschleiß ausgesetzt und wurde in der Regel weitervererbt. Aber womöglich gab es ja Frauen, die zu ihren Männern sagten: „Du, Schatz, übrigens brauche ich mal wieder einen neuen Rosenkranz, der alte taugt nicht mehr viel.“
Mein Großvater übte also, kritisch betrachtet, einen etwas dubiosen Beruf aus, und die Marktgesetze des katholischen Fetischismus haben sich mir nie zur Gänze erschlossen. Ich muss allerdings auch einräumen, dass sie mich in keinem Moment meines Lebens ernstlich interessiert haben. Ich fand aber, dass der Beruf eines Herrgöttkesmachers ganz gut zu meinem Großvater passte, so sittenstreng und gottesfürchtig, wie er damals, zu seinen aktiven Zeiten, war. Seine Frau, meine Großmutter, sah das ähnlich, und wenn in ihrem Urteil über den Vater ihrer Kinder so ein gewisser leiser, nicht übermäßig freundlicher Unterton mitschwang, so schloss das gleich die gesamte Sippe ihres Mannes mit ein.
„Beten und Herrgöttkes machen, das kann er“, sagte sie. „Aber sonst? Na ja, die sind alle so, die haben sich schon immer für was Besseres gehalten.“ Allzu fromme Menschen waren ihr suspekt. Und besonders suspekt waren ihr „die“, womit sie die Familie meines Großvaters meinte, in die sie zu ihrem Unglück eingeheiratet hatte.