Читать книгу Mo Morris und die Anti-CO2-Maschine - Benedict Dana - Страница 5

2

Оглавление

Das 80 Meilen ostsüdöstlich vom Londoner Zentrum am Ärmelkanal liegende Städtchen Ramsgate sollte sich für einige Zeit als der letzte Ort erweisen, an dem sie sicheres Festland unter ihren Füßen gespürt hatten. Mo beobachtete sorgenvoll, wie sich die beängstigend großen Wellen mit einer hoch aufspritzenden Gischt vor den Hafenmauern brachen und wie ihre Ausläufer selbst noch die Boote in den innersten Bereichen des Hafenbeckens zum Tanzen brachten. Das Bild des Hafens mit den schwankenden Masten der Segeljachten und den sich im Hintergrund über den Uferbefestigungen auftürmenden Häuserzeilen der Stadt wurde von oben durch ein paar schwarze, tief hängende Wolkenbänke begrenzt, unter denen Schwärme von kreischenden Seemöwen unruhig ihre Bahnen zogen. Der kalte Wind und der leichte Nieselregen hatten die Touristen verscheucht, so dass er auf einer der breiten Kaimauern fast alleine war.

Schon bald wurde seine Aufmerksamkeit von den Vorgängen im Hafen und den Silhouetten der Stadt abgelenkt und richtete sich auf eine schnell näher kommende Segeljacht, deren mahagonifarbener Rumpf sich so wild in den Wellen hob und senkte, als bedeutete Ramsgate das heiß ersehnte Ziel einer Hochseeregatta. Durch ihre angewitterten hölzernen Decksaufbauten wirkte die zweimastige 18-Meter-Jacht wie eine alt erfahrene, aber etwas müde Kämpferin, deren langjährige Beziehung zur See ihr eine Aura von besonderer Würde und Erhabenheit verliehen hatte. Erst als sie schon fast die Hafenmole erreicht hatte, konnte er ihre Aufschriften entziffern und fand in dem Namen „Miss Mary Blue“ die endgültige Bestätigung, dass es das Schiff war, das er erwartete. Über dem Namen war ein weißes, im Wind flatterndes Transparent an die Reling gespannt, auf der neben der Darstellung einer Blüte in bunten Regenbogenfarben „Aqua City“ stand; das Heck hingegen wurde von einer ungewöhnlich großen amerikanischen Flagge dominiert, so als hätten die Eigner der Jacht es darauf angelegt, in den fremden britischen Gewässern einen besonderen patriotischen Stolz zu demonstrieren.

Die Einfahrt der Miss Mary Blue in den Hafen von Ramsgate verlief genauso riskant wie spektakulär, da sie trotz des scharfen Windes erst im letzten Moment das Hauptsegel einholte und mit viel zu hoher Geschwindigkeit von einer großen Welle durch die Öffnung der Hafenmole gespült wurde. Erst im Vorbecken des Hafens bremste sie ihr Tempo mit Hilfe des Motors endgültig aus, wobei sie so große, schwarz rußende Abgaswolken ausstieß, dass sich eine Gruppe schaulustiger Seeleute neugierig auf einer der Kaimauern versammelte.

Für eine halbe Stunde hatte Mo einen schwer wiegenden Konflikt verdrängen können, doch als er nun Marys zierliche, in einer Regenjacke steckende Gestalt mit ein paar Einkaufstüten in der Hand auf sich zukommen sah, riss dieser Konflikt innerhalb einer Sekunde wieder auf. Die Dinge hatten sich nach ihrem Besuch bei Ronan Donovan sehr schnell in ihr Gegenteil verkehrt, denn je mehr es ihm widerstrebt hatte, seine zwar hochintelligente, jedoch in der kriminalistischen Praxis völlig unerfahrene Universitätskollegin in einen womöglich gefährlichen Fall zu verwickeln, desto mehr hatte sie plötzlich vehement darauf bestanden, ihn nach England zu begleiten. Er hatte deswegen eine schlimme Tirade von Mrs. Higgins über sich ergehen lassen müssen, da sie sich voll und ganz in ihrer Prophezeiung bestätigt gesehen hatte, er würde schon sehr bald nach Marys ganzer Hand greifen, wenn sie ihm nur – wie sie es mit ihrer Begleitung zu seinem Treffen mit Donovan getan hatte - den kleinen Finger reichte. Trotz all dem teilte er mit Mary eine gut versteckte, tiefe Freude über die gemeinsame Reise, während es sie nach außen hin so aussehen ließen, als würden sie sich nur deshalb zusammen nach Aqua City begeben, weil Donovan es von ihnen als Bedingung für den Auftrag gefordert hatte.

Sie schnappten ihre Reisetaschen und eilten zu der Anlegestelle, an der die „Miss Mary Blue“ mittlerweile dabei war festzumachen. Als schließlich eine schmale Gangway polternd vor ihre Füße fiel, landeten kurz darauf drei Seewasser triefende junge Leute an, die sich mit ausgelassenem Lachen eilig in Richtung der Stadt verzogen. Sie sahen mir ihren versalzten, filzigen Haaren und ihrer bunten, legeren Kleidung nicht wie seriöse Angestellte von Aqua City, sondern eher wie ein paar grüne Umweltaktivisten aus. Sie beachteten Mo und Mary so gut wie nicht, wofür sie kurz darauf ein älterer, grauhaariger Mann, der grinsend an der Reling erschien, mit umso größerer Freundlichkeit willkommen hieß. Er kletterte über die Gangway zu ihnen hinunter und raunte ihnen vertraulich zu:

„Sie sind Dr. Morris und Dr. Kelly, nicht wahr? Sie dürfen den jungen Flegeln ihr Verhalten nicht übel nehmen. Unsere Crew besteht zurzeit aus ein paar Ökologiestudenten und -studentinnen, die ein Praktikum auf Aqua City absolvieren. Ich gebe zu, wir nutzen ihre Gratis-Arbeitskraft etwas aus, dafür dürfen sie in diesem Semester ein paar interessante Erlebnisse in ihr Tagebuch schreiben. Sie haben keine Ahnung, wer Sie sind und warum Sie hier sind. Ja, sie wissen nicht mal, dass unser heutiger Törn an das Festland allein dem Zweck dient, Sie beide abzuholen. Sie glauben, wir kaufen Vorräte ein und vertreiben sich die Zeit in irgendeinem Hafenpub. Ich hoffe, sie werden nachher noch in der Lage sein, die Segel zu setzen!“

Während er sich für einen Moment einem kernigen Seebären-Lachen hingab, musterte Mo sein Aussehen genauer. Sein wettergegerbtes Gesicht, sein dichter grauer Bart, seine orangefarbene Segeljacke und sein weißes Skipper-Käppi ließen es wahrscheinlich wirken, dass er der Kapitän des Schiffes war. Auf jeden Fall war er Amerikaner, was jede Silbe seiner Aussprache deutlich verriet.

„Ich bin Joshua McNamara, aber mich nennen hier alle nur Josh. Keine Angst, ich werd’ Ihnen nicht ungefragt meine glorreiche Autobiographie unter die Nase reiben, denn ich hab’ heute vor allem nur eine Aufgabe hier: Ich soll das Empfangskomitee für ein paar Meisterdetektive bilden und ihnen von Anfang an einschärfen, dass ihre Arbeit absolut vertraulich ablaufen muss.“

Als in diesem Moment zwei weitere junge Leute das Schiff verließen, schob er Mo und Mary ein Stück zur Seite und fuhr erst nach dem Verschwinden der Beiden fort:

„Sagen Sie niemandem Ihren Namen, bevor Sie mit Su gesprochen haben. Sie ist gewissermaßen unsere Chefin hier. Sie hat sich eine Story ausgedacht, die Sie Ihnen nachher unter Deck verklickern wird. Wir auf Aqua City sind wie eine große, eingeschworene Familie, in der sich Gerüchte entsprechend schnell verbreiten. Insofern ist es von Anfang an wichtig, was wir über Sie erzählen werden.“

„Ich verstehe voll und ganz. Erklärt sich Ihre Vorsicht auch daraus, dass Sie einige Ihrer eigenen Mitarbeiter der Sabotageakte verdächtigen?“, verlor Mo keine Zeit, noch vor dem Betreten des Schiffes in die Rolle des detektivischen Fragestellers zu schlüpfen.

„Ich bin nicht dafür zuständig, das zu beantworten. Sie können das mit Su besprechen. Kommen Sie erst mal an Bord und machen Sie es sich gemütlich.

Aqua City ist zurzeit zwar nur etwas mehr als 11 Seemeilen von hier entfernt, trotzdem könnte sich die Überfahrt bei diesem Wetter auf weit über zwei Stunden hinziehen, da wir wahrscheinlich gegen den Wind kreuzen müssen. So wie Sie gekleidet sind, werden Sie sich unter Deck aufhalten müssen. Oder haben Sie heute früh Ihre Morgendusche verpasst und haben etwas nachzuholen?“

Joshua grinste Mo so aufreizend an, als wollte er ihn dadurch zu einer verweichlichten Landratte degradieren, wobei er mit einer nicht ganz ernst gemeinten Verächtlichkeit an seiner dünnen Windjacke und seiner hellen Stoffhose herabsah. Es war klar, dass er ihn eigentlich nur unterschätzen konnte, weil er nichts von den Abenteuern wusste, die der leicht untersetzte und sich manchmal absichtlich auf täuschende Art unscheinbar gebende Detektiv aus Rutherford bereits durchlebt hatte.

„Probleme mit mangelnder Hygiene haben wir an sich nicht. Gestatten Sie mir bitte eine Frage, von deren Beantwortung meine Entscheidung abhängt, ob ich mich an Bord dieses Schiffes begeben werde oder nicht: Waren Sie es, der die Miss Mary Blue vorhin so waghalsig in den Hafen manövrierte? Ich hatte Angst, sie könnte an der Hafenmole glatt zerschellen!“

Joshua konnte hierauf nicht anders, als abermals ein dröhnendes Seemannslachen anzustimmen, was offenbar eine typische Eigenart von ihm war.

„Wenn Ihnen so etwas auffällt, haben Sie für einen Laien immerhin ein gutes Auge. Obwohl ich offiziell der Kapitän bin, war die Chefin dafür verantwortlich. Sie ist eine leidenschaftliche Seglerin, die gerne an die Grenzen geht. Vielleicht liegt es daran, dass es reizt aufzufallen, wenn man unter Beobachtung steht. Aqua City ist in ganz England sehr gut bekannt, weshalb wir fast schon eine Art Prominentenstatus genießen.

Sehen Sie die beiden Leute mit den Kameras da oben an der Uferpromenade? Es wäre sehr gut möglich, dass es keine Touristen, sondern irgendwelche Zeitungsreporter sind, die sich für alles, was mit Aqua City zusammenhängt, sehr interessieren. Wir haben die Jacht schon öfters in Zeitschriften oder im TV gesehen. Uns stört es nicht, denn wenn sich die Storys über uns gut verkaufen, ist das natürlich eine willkommene Gratiswerbung für uns.“

Der Kapitän nahm Mary galant die Einkaufstüten und die Reisetasche ab und forderte die beiden „Landratten“ auf, sich an Bord zu begeben. Als Mo von der schmalen Gangway über die Bordwand auf die nassen Holzplanken der Miss Mary Blue sprang, meinte er für einen Moment zu spüren, dass darin etwas Bedeutendes und Unumkehrbares lag. Die vielen Salzspuren an den angefressenen hölzernen Decksaufbauten zeugten von einer langen Geschichte der alten Jacht, die schon auf unzähligen Hochseefahrten von der Gischt überspült worden sein musste. Sie bekamen kaum Gelegenheit, sich auf Deck näher umzusehen, da Joshua sie wegen des Winds und Regens sofort über eine steile Stiege in den Schiffsbauch drängte. Dabei begegneten sie niemandem, da die ganze Mannschaft auf Landgang war.

Auf dem halbdunklen Unterdeckgang schlug ihnen ein etwas muffiger und modriger Geruch entgegen und durch zwei offen stehende Türen konnten sie schmale Pritschen in engen, unaufgeräumten Kabinen sehen, deren salzverkrustete Bullaugen keinen klaren Blick nach draußen zuließen. Als McNamara im Heck die Tür der Hauptkajüte öffnete, war es, als gelangten sie mit dem Überschreiten der hoch liegenden Schwelle in ein anderes Reich. Die etwas heruntergekommene Miss Mary Blue schien sich mit einem Mal von einem abgearbeiteten „Nutzesel“ in eine Vergnügungsjacht zu verwandeln, deren Interieur mit seinen glänzenden Mahagonioberflächen und polierten Messingeinfassungen ganz im Stil einer niveauvollen Offizierskajüte gehalten war.

Die Frau, die in einem roten, wasserdichten Segeloverall an einem zierlichen, mit der Wandverkleidung verschraubten Schreibtischchen saß, war im Schein einer kleinen Messinglampe über ein Buch mit blanken Seiten gebeugt, die sie mit einem goldenen Füllfederhalter konzentriert beschrieb. Die vielen Bücher, die über ihr in einem sturmsicheren Regal fast die Hälfte der Backbordwand bedeckten, rundeten das Bild passend und verliehen dem Ambiente eine besondere Energie. Als sie zu ihnen aufschaute, verbreitete sie eine so aufgeräumte und bedächtige Stimmung, als läge die Aufsehen erregende Einfahrt in den Hafen schon lang zurück und als hätte sie bereits seit Stunden vor ihrem Buch gesessen. Sie schlug ihre langen, brünetten Haare schwungvoll über die Schultern zurück, wobei ihr eine mit einer Kordel verbundene Lesebrille von der Nase fiel und den Blick auf ein ausdrucksvolles, schmales Gesicht mit hoher Stirn und einigen Altersfalten freigab. Erst durch die Falten verstand Mo, wer „Su“ war, weshalb er erstaunt stammelte:

„Wenn mich nicht alles täuscht, müssen Sie Susan Donovan sein, nicht wahr? Ich hatte nicht erwartet, Sie hier anzutreffen.“

„Ah, unser Meisterdetektiv Morton Morris ist endlich eingetroffen. Sie sind fürwahr ein schlaues Köpfchen und haben’s schnell begriffen!“, neckte sie ihn grinsend mit einer nicht ernst gemeinten Überheblichkeit, während sich Joshua unauffällig aus der Kajüte zurückzog. Sie musste etwa zehn Jahre jünger als ihr Mann Ronan sein, doch durch ihre schlanke, sportliche Figur und ihre gesunde Gesichtsfarbe wirkte es, als müssten es über zwanzig sein. Sie wies Mo und Mary den Platz auf einer schmalen Sitzbank vor einem kleinen Klapptisch zu und meinte dann:

„Falls Sie erwartet haben, dass wir Sie mit einer schnittigen Motorjacht oder einem Helikopter abholen würden, sind Sie jetzt sicher enttäuscht. Für uns ist das Segeln eine bevorzugte Fortbewegungsart, weil es keine Emissionen erzeugt. All diejenigen, die für den Umwelt- und Klimaschutz kämpfen, werden ja besonders kritisch daraufhin geprüft, ob sie sich auch selber politisch korrekt verhalten und kein Gramm CO2 zuviel in die Atmosphäre jagen. Eine solche Haltung scheint allerdings zu tolerieren, dass jeder, der auf die Umwelt pfeift, sie auch nach Herzenslust verpesten darf.“

„Dann werde ich Ihnen gern einen kleinen Gefallen tun und niemandem etwas über die schwarzen Abgaswolken sagen, die vorhin Ihr Manöver im Hafen verursacht hat“, stichelte Mo trocken und brachte sie damit zum Lachen. Dabei war ihr anzumerken, wie sehr ihr die Tollkühnheit ihres Segelmanövers bewusst war.

„Tja, ein Jeder hat irgendwo ein paar kleine Fleckchen auf der weißen Weste, nicht wahr? Kommen wir mal zu Ihren Sünden. Da sollte es also eine promovierte Ermittlerin namens Dr. Mary Kelly in Ihrem Detektivbüro geben“, meinte sie mit einer eigentümlichen Mischung aus Gutmütigkeit und Schärfe, wobei sie Mary eindringlich ansah. Die sah in einem betretenen Schweigen die beste Reaktion und sandte Mo Hilfe suchende Blicke zu. „Mein Mann und meine Tochter haben es einfach geglaubt und nicht weiter nachgeforscht, weil sie zu viele andere Dinge um die Ohren haben. Dabei hat es mich nur ein paar Minuten Internetrecherche gekostet, um in der Sache klar zu sehen. Die Psychologie der Täter- und Opferbeziehung – über besondere Fälle einer extremen Bindung – hieß nicht so das Seminar, das Sie zuletzt an der kleinen Universität von Rutherford gehalten haben, liebe Dr. Kelly?

Ich durchschaue Ihre Beweggründe, Dr. Morris. Sie haben nicht einen einzigen Mitarbeiter in Ihrer Detektei. Es war übrigens meine Idee, Sie zu engagieren. Ich hatte nämlich darüber gelesen, dass aus Ihrem letzten Fall eine Zusammenarbeit mit der UN resultiert ist, bei der es darum geht, eine Sklavenhalteroase in Südlibyen in ein Flüchtlingsauffanglager umzuwandeln. Das ist eine wirklich großartige Sache, finde ich. Der Idealismus, der dahinter steht, ist verwandt mit unserem. Aus diesem Grund werde ich Ihnen Ihre kleine Flunkerei auch nachsehen. Außerdem habe ich so meine Ahnungen, was Ihre Beziehung zu Dr. Kelly angeht. Man muss Sie beide ja nur mal ansehen. Glauben Sie, nur Sie wären ein guter Psychologe und verfügten über eine überdurchschnittliche Intuition?

Wenn ich nicht glauben würde, dass Ihre Zusammenarbeit Sinn machen könnte, hätte ich es sicher nicht bis zur Ihrer gemeinsamen Ankunft hier auf der Miss Mary Blue kommen lassen. Da Dr. Kelly als Psychologin immerhin auch mit einem Bein in der Kriminologie tätig zu sein scheint, wird sie hier nicht ganz fehl am Platz sein.“

„Sie ist nicht nur nicht ganz fehl am Platz, sondern wird mir eine sehr große Hilfe sein!“, verteidigte Mo selbstbewusst Marys Ehre, obwohl sie durch das Auffliegen ihrer kleinen Lüge in eine schwache Position geraten waren. „Ich nehme an, Sie sind nicht nur mit nach Ramsgate gekommen, weil Sie Spaß am Segeln haben, sondern auch, um uns in Empfang zu nehmen und zu instruieren, Mrs. Donovan, nicht wahr?“

„Natürlich. Gewöhnen Sie sich bitte sofort an, mich Susan oder Su zu nennen, wie es die Meisten tun. Unser Kapitän Josh hat Ihnen hoffentlich bereits erklärt, dass Sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit arbeiten werden und Ihre Namen nicht verwenden können. Wie Sie sicher bereits vermutet haben, ist dies angebracht, weil Mitarbeiter von uns in die Sabotageakte involviert sein könnten. Hoffentlich wird Sie niemand erkennen, Dr. Morris. Ihr Gesicht war ja vor zwei Jahren des Öfteren in den Medien zu sehen, als Sie mit der Aufklärung der großen Internetmanipulationen in den USA befasst waren.

Mein Mann, meine Tochter und ich haben entschieden, Sie beide als Reporter auf Aqua City einzuführen. Reporter und Detektive haben viel gemeinsam. Sie schnüffeln überall herum und stellen viele Fragen. Es ist also die ideale Rolle für Sie. Sie werden sich als Larry Keene und Esther Morgan von dem Bostoner Online-Newsportal Eye of the East ausgeben. Das hat mein Mann in Absprache mit einem befreundeten Redakteur für Sie bewirkt. Falls jemand Nachforschungen anstellt, wird er immerhin herausfinden können, dass diese Namen tatsächlich auf der Gehaltsliste der Redaktion stehen.

Also, dann werde ich Sie von jetzt an Esther und Larry nennen. Am besten gewöhnen wir uns sofort daran!“

„Und an was für einer Reportage arbeiten Esther und Larry offiziell? Wofür sollen wir uns vor Ihren Leuten besonders interessieren?“, warf Mary mit erwachendem Interesse ein. Ein Rollenspiel als Reporter schien ihr spannende und abwechslungsreiche Erfahrungen zu versprechen, die sie aus ihrem beschaulichen Universitätsleben nicht kannte.

„Um einen längeren Aufenthalt auf Aqua City und ein breites Interesse für all unsere Forschungs- und Arbeitsbereiche plausibel erscheinen zu lassen, arbeiten Sie eben an einer ganz allgemeinen, umfangreichen Reportage. Wichtig ist vor allem, dass Ihnen Ihre Arbeit einen Zugang zu allen Bereichen der Insel ermöglicht. Sie können jeden alles fragen, nur das Wort Sabotage nehmen Sie bitte nicht in den Mund. Da unsere offizielle Haltung ist, die Sabotageakte vor den Medien zu verschweigen, wäre es natürlich komisch, wenn Sie dazu Fragen stellen.

Alles, was die Sabotage und die technischen Details der 16 Forschungsinseln von Aqua City betrifft, können Sie mit einem unserer Ingenieure besprechen. Ich habe dazu Dr. Regina Flores bestimmt, eine Amerikanerin mit venezolanischen Wurzeln, die seit anderthalb Jahren für uns arbeitet. Regina ist eine ganz vortreffliche Frau, die meine ganzen Sympathien hat. Sie ist in Ihre wahre Identität eingeweiht. Mit Josh und mir sind es damit auf Aqua City bisher erst Drei. Wenn Sie gut arbeiten, sollte es dabei auch bleiben. Josh ist übrigens eine Art Mädchen für Alles hier. Ihm gehörte früher das Schiff und weil er in Geldnöten war, haben wir es ihm abgekauft. Später haben wir es ihm dann als Teilhaber mit der Bedingung zurück übereignet, dass er für uns arbeitet. Seitdem leibt und lebt er für Aqua City und würde sich für mich und meinen Mann ein Bein ausreißen. Wenn einer vertrauenswürdig ist, dann er.“

„Dann sollte er es am besten übernehmen, uns in die verschiedenen Bereiche der Insel zu führen und alles zu zeigen. Dr. Flores werden wir dann nur bei Bedarf zu Rate ziehen“, schlug Mo in einer einvernehmlichen Stimmung vor, da die Ausführungen von Ronans eloquenter Ehefrau Hand und Fuß zu haben schienen.

„Genauso ist es auch vorgesehen. Ich selbst werde Ihnen natürlich auch zur Verfügung stehen“, ließ Susan volle Zustimmung erkennen. Mo schaute sie versonnen an und war noch immer erstaunt darüber, welche Entwicklung sie irgendwann einmal durchlaufen haben musste. Als sie vor rund 30 Jahren Ronan Donovan nach dem Tod von dessen erster Frau Lara geheiratet hatte, hatte ihre Aufgabe vor allem darin bestanden, Una zur Welt zu bringen und auf einem prächtigen Landsitz in Deep River in Conneticut das sorglose Leben einer reichen Ehefrau zu führen. Anstatt dadurch zu einem verwöhnten und dekadenten „Püppchen“ zu werden, hatte sie sich durch ihr späteres, wachsendes Engagement für die diversen Projekte ihres Mannes zu einer bemerkenswerten Persönlichkeit entwickelt, von der eine starke Energie ausging. Durch ihre besondere Liebe für Aqua City schien sie für den reibungslosen Ablauf aller Prozesse auf der Forschungsinsel unabkömmlich geworden zu sein und hatte damit ihren Mann sogar ein Stück weit überflügelt, weil er durch seine Krankheit großen Einschränkungen unterworfen war.

Als sie gerade dazu ansetzen wollte, hinsichtlich der Sabotageakte konkreter zu werden, wurde sie davon abgehalten, weil Joshua mit einem Tablett hineinpolterte. Nachdem er eine Thermoskanne und drei Tassen auf den Klapptisch vor Mo und Mary gestellt hatte, fischte er mit einer schnellen und geübten Geste eine Flasche Rum aus einem Einbauwandschrank hervor. Dabei verhielt er sich so, als ob er vor den Anderen keinerlei Zurückhaltung an den Tag zu legen bräuchte und als ob alles an dem Schiff nach wie vor in jeder Hinsicht sein uneingeschränktes persönliches Eigentum wäre.

„Ein heißer Kaffee wird unseren Meisterdetektiven – Entschuldigung, ich meine natürlich Reportern – gut tun. Ein Schuss Rum bei dem Wetterchen umso mehr. Die Überfahrt könnte nachher ziemlich ungemütlich werden. Sobald die Crew mit ihren Einkäufen und ihren Bieren im Pub fertig ist, geht es los!“

Als er bereits verschwinden wollte, beeilte sich Mo ihn zu fragen:

„Was glauben eigentlich Sie, wer hinter den Sabotagen steckt? Sie wissen doch über alles auf Aqua City Bescheid und müssten eine besondere Meinung dazu haben.“

„Besondere Meinung? Nein, nein, ich halte es da ganz mit Mr. Donovan. Das mit der Bekenneremail dieser vermeintlich christlich-fundamentalistischen Sekte ist natürlich totaler Schwachsinn. Für mich steckt eindeutig die Konkurrenz dahinter. Für den Diebstahl von Gamma 2 gibt es genau zwei Gründe: Zum einen möchte man den Fortschritt unserer Forschungen sabotieren und zum anderen den Stand unserer Technik ausspionieren. Vielleicht waren’s die Russen oder Chinesen, weil Sie Zeit gewinnen wollen, um Geoengineering-Marktführer zu werden. Oder was weiß ich…“

„Das möchte ich wiederum für großen Schwachsinn halten. Ist es nicht ein paranoider, typisch westlicher Reflex, ständig die ach so bösen Russen oder Chinesen für alles verantwortlich zu machen?“, konterte Mary ein bisschen zu empört und direkt, um nicht einen Ausdruck deutlichen Unwillens im Gesicht des Kapitäns hervorzurufen. Er entschied sich jedoch wegen des reizenden Lächelns, das sie wie zur Entschuldigung hinterherschickte, gutmütig zu bleiben und brummte bloß:

„Linke Demokratin, wie? Hm, wie auch immer. Vielleicht wäre es das Klügste, zu diesem Zeitpunkt immer noch alles für möglich zu halten und nichts voreilig auszuschließen. Damit blieben selbst die christlichen Fundamentalisten im Rennen.

Was denken Sie denn, Dr. Morris? Oder sollte ich lieber Larry sagen?“

„Ja, sagen Sie ruhig Larry, dann gewöhnen wir uns gleich alle daran. Ich teile Ihre Meinung, im Moment noch nichts auszuschließen. Voreilige Schlüsse sind eine verführerische Falle für jeden Detektiv, die ihn später womöglich viel Zeit kosten kann.“

Joshua nickte zustimmend und stellte dann seufzend fest:

„Leider muss man ganze vier Wochen nach dem Verschwinden von Gamma 2 sagen, dass wir uns hinsichtlich unserer Erkenntnisse immer noch um den Nullpunkt herum bewegen. Die Untersuchungen der englischen Polizei und Küstenwache verlaufen sehr schleppend. Angeblich hat sich mittlerweile auf Druck eines Ausschusses der amerikanischen Regierung der englische Geheimdienst GCHQ eingeschaltet. Es ist eine neue Information, die Susan und ich erst gestern von Ronan erhalten haben. Falls wir und die Polizei dadurch endlich bald Zugang zu allen relevanten Satellitenaufnahmen erhalten sollten, die zu dem entsprechenden Zeitpunkt von unserem Standort in der Nordsee gemacht wurden, wäre das natürlich eine sehr positive Entwicklung. Davon abgesehen gibt es wenig Anlass zur Hoffnung. Der einzige Lichtblick ist die Ankunft von Ihnen beiden hier. Allerdings frage ich mich, wo Sie ohne irgendwelche Indizien mit Ihren Untersuchungen ansetzen wollen.“

„Also ganz ohne Indizien sind wir ja nicht“, entgegnete Mo mit einem wissenden Lächeln und berief sich dann auf einige Informationen, die Sie von Ronan Donovan auf Block Island noch erfahren hatten.

„Wie ich von Mr. Donovan hörte, wurde Gamma 2 mit nur geringfügigen Spuren von Gewalteinwirkung von Aqua City abgekoppelt. Die 32 dicken Stahlbolzen, mit denen die Plattform in das unter Wasser liegende, alle Nachbarinseln unsichtbar verbindende Eisengerüst eingekoppelt ist, wurden fein säuberlich herausgetrennt. Die beiden Stege aus Eisenrosten, über die man von Gamma 2 zu den beiden weiter innen liegenden Forschungsplattformen Beta 2 und 3 gelangen konnte, wurden abgeschraubt und zurückgelassen. Insgesamt acht rund um die Insel angebrachte Überwachungskameras wurden durch das Entkoppeln der unter den Stegen verlaufenden Hauptkabelbäume, durch die Gamma 2 mit dem Zentrallabor auf der Hauptinsel verbunden ist, von Anfang an außer Gefecht gesetzt. Ich möchte das alles für ein sehr wichtiges Indiz halten!“

„Sie meinen, es ist ein Indiz dafür, dass die Täter über die entsprechenden technischen Details sehr gut Bescheid gewusst haben mussten?“, fasste Joshua eine Schlussfolgerung in Worte, die auf Aqua City längst dem allgemeinen Stand der Erkenntnisse entsprach.

„Ja natürlich, anders hätten die Täter die Insel so schnell nicht abtrennen können und hätten erheblich länger als nur zwei oder drei Stunden in der tiefen Nacht dafür gebraucht. Für das Herausschlagen der Bolzen müssen Taucher eingesetzt worden sein, die genau wussten, was sie taten. Folgerichtig hat sich daraus der allgemeine Verdacht entwickelt, dass irgendeiner unter ihren heutigen oder früheren Mitarbeitern absichtlich oder unabsichtlich technisches Wissen weitergegeben haben könnte.

Ich verfolge allerdings noch einen weiteren Ansatz und habe noch vor meinem Abflug nach London entsprechende Maßnahmen zu Hause eingeleitet.“

„Dann weihen Sie uns ein!“, verlangte Susan und verriet damit, von diesem Ansatz noch keine Ahnung zu haben, obwohl Mo in enger Absprache mit ihrem Mann Ronan gehandelt hatte.

„Ich nehme an, Mr. Donovan hat die Sache nicht an die große Glocke gehängt, weil er zunächst erste Erfolge abwarten wollte. Es geht um den Verdacht, die Täter könnten ihre Informationen durch diejenigen erhalten haben, die Aqua City entwickelt und gebaut haben. Auch hier gelten die beiden Varianten, dass es entweder absichtlich oder unabsichtlich geschehen sein könnte. Konkret dreht es sich um mehrere Ingenieurbüros sowie den amerikanischen Konstrukteur Bloom & Blacksmith, der auf den Bau von Sonderschiffen und großen, technischen Modulen für Bohrinseln spezialisiert ist. Die Konstruktionspläne von Aqua City liegen auf den Servern der beteiligten Firmen und könnten im Auftrag der Täter gehackt worden sein. Da ich dies ohne fremde Hilfe nicht herausfinden kann, habe ich meine Kontakte zu dem bekannten Detektiv Tim Diamond reaktiviert, der über hervorragende Verbindungen und Möglichkeiten verfügt. Er wird herausfinden, ob es Hackerangriffe auf die betreffenden Firmen gab. Falls ja, wird er es mit Hilfe von Spezialisten vielleicht sogar schaffen, den Weg zu den Urhebern zurückzuverfolgen. Das ist eine aufwändige detektivische Arbeit, die wohl weder die englische Polizei noch der englische Geheimdienst übernehmen würde. Da müssen wir schon selber ran! Um Satellitenaufnahmen wollte sich Diamond übrigens ebenfalls kümmern!“

„Alle Achtung, Larry! Vor kaum einer Woche haben Sie meinen Mann auf Block Island getroffen und heute sitzen Sie bereits hier auf der Miss Mary Blue und haben einige komplexe Untersuchungen in die Wege geleitet“, belohnte Susan Mos Ausführungen mit einem dicken Lob.

„Würden Sie mir glauben, dass Miss Kelly, beziehungsweise Esther, mit einigen entscheidenden Überlegungen zu dieser Vorgehensweise beigetragen hat?“, bemühte sich Mo einen Teil der Lorbeeren an Mary weiterzureichen, um ihre Mitarbeit an dem Fall gerechtfertigt erscheinen zu lassen.

„Sie haben ein sehr ehrliches Gesicht. Offen gesagt finde ich Sie sogar richtig süß. Warum sollte ich Ihnen also nicht glauben? Aber nun sagen Sie mir mal, wie Sie in den nächsten Tagen vorgehen wollen. Haben Sie schon einen Plan?“

Mo brauchte einen Augenblick, um das ihm unpassend erscheinende „Süß“ zu verdauen, und erwiderte betont nüchtern und distanziert:

„Nun ja, wir werden uns zunächst ein umfassendes Bild von Aqua City machen und darauf hoffen, demnächst Hinweise durch die Satellitenaufnahmen zu erhalten. Sobald es erste konkrete Spuren und Untersuchungsansätze gibt, werde ich sie nach New York zu Diamond Investigations weiterleiten. Sollte daraus irgendein konkreter Handlungsbedarf resultieren, werde ich wahrscheinlich die persönliche Hilfe meiner Kollegen Michael King und Betty Cadena anfordern. Das dürfte dann den Fortschritt der Arbeit sehr bald beschleunigen.“

Obwohl wegen der fehlenden Spuren und mangelnden Ermittlungsergebnisse der Polizei genügend Zweifel und Unsicherheiten an ihm nagten, versuchte er sich vor Susan betont zuversichtlich zu geben. Als ihm zufällig ihr aufgeschlagenes, noch immer auf dem kleinen Schreibtischchen liegendes Notizbuch in die Augen fiel, wollte er wissen:

„Ist das so etwas wie ein Tagebuch? Falls ja, könnten für mich die Eintragungen der Tage im Zeitraum des unmittelbaren Verschwindens von Gamma 2 interessant sein.“

„Ja stimmt, es ist ein Tagebuch. Wenn man an einem Ort wie Aqua City lebt, lohnt es sich, eines zu führen. Allerdings sind die Eintragungen des betreffenden Tages dürftig und Sie werden ihnen nichts Neues entnehmen können. Gamma 2 war über Nacht plötzlich spurlos verschwunden, ohne dass irgendjemand auch nur das Geringste bemerkt hätte. Das war’s, basta! Fragen Sie mich lieber selber, anstatt in meinem privaten Tagebuch zu lesen.“

„Gut, dann würde ich von Ihnen gerne mehr über die besondere Funktion von Gamma 2 erfahren. Ihr Mann deutete lediglich an, dass man sich auf der Forschungsplattform mit der künstlichen Fotosynthese beschäftigt hat. Er sagte, weiteres würde man mir hier vor Ort erklären.“

„Damit sprechen Sie den bedeutungsvollsten und heikelsten Punkt an. Ronan hielt sich diesbezüglich Ihnen gegenüber bedeckt, weil er noch unentschieden war, inwieweit man Sie in den Stand unserer Forschungen einweihen dürfte. Er gab mir inzwischen grünes Licht, weitestgehend offen mit Ihnen zu sein, weil Geheimniskrämerei Ihre Untersuchungen zu sehr behindern würde. Außerdem wollte er zunächst sicher gehen, dass Sie beide auch tatsächlich hier erscheinen und nicht im letzten Moment abspringen würden. In dem Fall hätte man ihnen im Vorfeld zu viel erzählt.“

„Das hatte ich mir bereits gedacht“, unterbrach Mo sie schnell, um ihr einige sehr richtige Vermutungen unter die Nase zu reiben. „Ich kann aus Ronans Verhalten nur schließen, dass die Künstliche-Fotosynthese-Forschung von Donovan EAW einen sehr hohen Level erreicht hat. Wahrscheinlich steht Ihre Firma kurz davor, ein Bahn brechendes Patent anzumelden. Das würde natürlich gut erklären, warum Sie den Verdacht haben, eine konkurrierende Firma könnte hinter dem Diebstahl von Gamma 2 stecken.“

„Das haben Sie sehr klar erkannt, Larry“, lobte ihn Susan mit einem bedeutungsvollen Augenaufschlag. „Meine Aufgaben liegen nicht in der Forschung und Technik, sondern darin, die wesentlichen Abläufe auf Aqua City für meinen Mann vor Ort zu koordinieren. Sie haben ja mittlerweile verstanden, wie sehr das Projekt eine Herzensangelegenheit für ihn ist. Aus diesem Grund will er es in vertrauten Händen wissen.

Ich werde es Josh überlassen, Ihnen etwas über unsere Arbeit auf Gamma 2 zu berichten. Es wird allerhöchste Zeit zu enthüllen, dass er kein gewöhnlicher Kapitän, sondern ein promovierter Biologe ist, der sich früher selbstständig mit Meeresforschungen beschäftigte. Leider ging ihm irgendwann das Geld für seine Arbeit aus. Wie mein Mann ihn und sein Schiff freikaufte und in unsere Dienste stellte, habe ich Ihnen ja bereits erzählt.“

Während Joshs Verwandlung von einem raubeinigen und eher einfach gestrickten Seemann zu einem hoch gebildeten Wissenschaftler in Mos und Marys Wahrnehmung einige Sekunden Zeit in Anspruch nahm, setzte dieser bereitwillig zu der ihm zugedachten Erklärung an.

„Ich versuche es kurz zu machen, weil wahrscheinlich bald die Crew zurückkommt und wir den Anker lichten werden. Wir werden ja später noch genug Gelegenheit zum Reden haben.

Wie Sie schon sehr richtig vermutet haben, Larry, ist uns in der Künstliche-Fotosynthese-Forschung ein Bahn brechender Durchbruch gelungen. Ich sage Ihnen nur, was Sie wissen dürfen und müssen. Die eigentlichen technischen und chemischen Details bleiben bis zu der kurz bevorstehenden Anmeldung des Patents geheim und könnten von Ihnen als Laie ohnehin nicht auf Anhieb verstanden werden.

Wie fast jeder aus der Schule weiß, gewinnen Pflanzen im natürlichen Fotosyntheseprozess mit Hilfe von Sonnenlicht, Wasser und CO2 Energie in Form von Kohlehydrat und setzen dabei Sauerstoff frei. Wir haben bei unserer Forschung ein Augenmerk darauf gelegt, den natürlichen Prozess in seinen stofflichen Mengenverhältnissen annähernd zu imitieren, um bei der künstlichen Umwandlung von CO2 im Verhältnis nicht mehr Sauerstoff freizusetzen, als Pflanzen es tun würden. Falls die künstliche Fotosynthese eines Tages in großem Umfang eingesetzt würde, sollte auf diese Weise gewährleistet werden, dass die natürliche und ideale Zusammensetzung der Erdatmosphäre nicht zu sehr aus dem Gleichgewicht kommen würde. Uns geht es um reines Geoengineering und nicht primär um die Gewinnung von Energie. Wir wollten niemals Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe aus CO2 herstellen, sondern vor allem CO2 in Sauerstoff umwandeln, um in der späteren, umfangreichen Anwendung wie in einem großen Experiment Erkenntnisse über den Treibhauseffekt und alle mit ihm zusammenhängenden Klimaphänomene zu gewinnen. Die frei werdende Energie sollte möglichst in elektrische Energie umgewandelt und für den Betrieb der Anlage selber verwendet werden. Wir nahmen uns von Anfang an die Arbeit der Natur – also die der Pflanzen – zum Vorbild. Einer der Grundgedanken war, dass für jeden seit Beginn der industriellen Revolution gefällten, an Krankheiten gestorbenen und in Waldbränden umgekommenen Baum ein künstliches Ersatzmodul geschaffen werden muss, um den Ausfall seines CO2-Bindungsvermögens zu kompensieren. Sehr idealistisch gedacht sollte uns dies die Zeit einbringen, um die Erde über Jahrzehnte, ja über Jahrhunderte gründlich wieder aufzuforsten. So formuliert Ronan Donovan das geistige und praktische Erbe, das er an die Welt weiter geben will.

Alles, was Ziel unserer Forschung war, haben wir mittlerweile fast erreicht. Unsere Pilotanlage auf Gamma 2 konnte der Atmosphäre innerhalb der letzten 6 Monate annähernd 13 Tonnen CO2 entziehen, was ungefähr der CO2-Speicherfähigkeit von einem Hektar durchschnittlichen europäischen Waldes innerhalb eines Jahres entspricht. Dabei gelang es uns, die entstehende Energie in Form eines elementaren Kohlenstoffs zu gewinnen und durch eine Kohlenstoff-Brennstoffzelle in elektrische Energie umzuwandeln. Das bei der Verbrennung entstehende CO2 liegt natürlich ganz erheblich unter der Menge, die zuvor gebunden worden war.“

„Das hört sich so an, als wäre Ihnen tatsächlich eine bahnbrechende und Welt verändernde Erfindung gelungen!“, zeigte sich Mo aufrichtig beeindruckt. „Ist das alles bereits so ausgereift, um in näherer Zukunft größere Anlagen bauen und in Betrieb nehmen zu können?“

„Im Grunde schon. Unsere Testreihen befanden sich im Endstadium und die Anmeldung des Patents war bereits in greifbare Nähe gerückt. Sobald wir das Patent in der Tasche haben, werden wir erheblich leichter einen Geldgeber finden, der bereit ist, sein Kapital in den Bau einer ersten, großen Künstliche-Fotosynthese-Anlage zu investieren. Es existieren bereits Pläne, sie an der Küste Norwegens zu bauen. Sie wissen ja, die Norweger sind in der Anwendung und Entwicklung von innovativen Energiegewinnungs- und Umwelttechnologien anderen europäischen Ländern oft einen Schritt voraus.“

Joshua hielt inne, weil er Stimmen und Schritte an Deck hörte, die von der wiederkehrenden Mannschaft stammten. Mary nahm die Unterbrechung zum Anlass, um schnell einzuwerfen:

„Diejenigen, die Gamma 2 kaperten, passten dafür offenbar den Zeitpunkt genau ab. Es sieht so aus, als wären sie über den Stand der Entwicklung genau im Bild gewesen. Sie brauchten sich nur noch die fertig gebaute Erfindung in die Tasche zu stecken. Wieso behaupten eigentlich so viele, Gamma 2 wäre versenkt worden? Es ist doch erheblich wahrscheinlicher, dass man die Plattform gestohlen hat.“

„Beides ist wahr, Esther. Die Plattform wurde sicher versenkt, weil sie zu groß war, um sie verschwinden zu lassen. Schließlich wurde sie in den Tagen und Wochen nach dem Diebstahl weder auf See noch an einer Küste gesichtet. Das technische Herz der Anlage wurde wahrscheinlich zuvor ausgebaut und an Bord irgendeines Schiffes geschafft.

Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss an Deck und die Mannschaft instruieren. Sobald alle zurückgekehrt sind, stechen wir in See.“

Als Joshua daraufhin bereits seinen großen, kräftigen Körper durch die schmale Kajütentür zwängen wollte, hielt Mo ihn noch für einen Moment zurück.

„Sie müssten doch momentan mit Hochdruck daran arbeiten, das Patent so schnell wie möglich anzumelden. Es ist ja jetzt so etwas wie ein Wettlauf darum mit den Dieben von Gamma 2 entstanden, nicht wahr?“

„Natürlich, ja. Zwar würden sich diejenigen verraten, die in nächster Zeit unsere Erfindung anmelden, aber ein Diebstahl wäre schwer nachzuweisen, wenn die Erfindung über anonyme Dritte erworben wurde. Leider sind wir gezwungen die Anlage schnell wieder aufzubauen, weil zur endgültigen Anmeldung des Patents noch einige Testreihen und Verfeinerungen nötig sind. Da unsere Werft Bloom & Blacksmith sobald keinen Ersatz für Gamma 2 liefern kann, haben wir diese Arbeit am Festland in einer Industriehalle in den Docklands von London begonnen, bis wir Platz auf einer der anderen Forschungsplattformen geschaffen haben. Es schreitet alles gut voran, aber es ist natürlich trotzdem unglaublich ärgerlich, kostspielig und nervenaufreibend für uns.

Und nun wünsche ich Ihnen schon einmal eine angenehme Überfahrt. Seien Sie froh, dass ich das Schiff auf dem Rückweg führen werde. Mit Susan am Steuerrad würde es sehr ungemütlich werden. Sie ist ein richtiger kleiner Dämon zur See, der selbst einen alten Seebären wie mich mit Leichtigkeit in die Tasche stecken kann!“

-

Die kleine Segeljacht wurde während der Überfahrt von einem so starken Wellengang geschüttelt, dass Mo und Mary es vorzogen, bei Susan in der Kajüte zu bleiben und sie weiter über Aqua City zu befragen. Die erfahrene Seglerin stellte dabei eine aufreizende Ruhe zur Schau, obwohl immer wieder Bestandteile der Inneneinrichtung laut scheppernd zu Boden fielen und der Holzrumpf der betagten Segeljacht so heftig gegen die Wellen knallte, als ob er jederzeit zu zerbrechen drohte.

Als sie kurz vor dem Erreichen des Zieles von einem Mitglied der Crew zu Joshua auf Deck gebeten wurden, folgten sie der Aufforderung nur widerwillig. Beim Öffnen der Abdeckung des Niedergangs klatschte ihnen ein Schwall kaltes Nordseewasser auf die Haare und als sie sich zu dem Kapitän in den engen, das Steuerrad überdachenden Decksaufbau zwängten, war ihre Kleidung schon halb durchnässt. Er machte wegen des jaulenden Winds keine großen Worte und deutete bloß nach vorne, wo sich mittlerweile in nicht viel mehr als einer Meile Entfernung die breite Silhouette ihres Zieles abzeichnete.

Sie hatten den Grundriss von Aqua City in den USA genau studiert und wussten daher, dass der Durchmesser der bewohnten Hauptinsel 50 Meter und ihre Fläche somit knapp 2000 Quadratmeter betrug. Sie wurde von einem versetzt zueinander liegenden inneren und äußeren Kreis – dem so genannten „Beta- und Gamma-Ring“ - aus je 8 kleineren Forschungsinseln umgeben, die mit ihren 25 Metern Durchmessern genau einem Viertel der Grundfläche der Hauptinsel entsprachen. Einschließlich der stegartigen Verbindungen ergab sich daraus eine Gesamtspannweite von über 160 Metern, die in der horizontalen Perspektive auf See nicht weniger eindrucksvoll als in der Satellitenansicht wirkte.

Sie näherten sich ihrem Ziel kreuzend gegen den Wind und bemerkten bald auf der Seeseite ein an großen Hochseebojen befestigtes, über 200 Meter langes Stahlgitter, das als Wellenbrecher für Aqua City diente. Die hohen Kunststoffkuppeln der kleineren Inseln mit ihren fünf Meter in den Himmel ragenden, der Ansaugung von Luft dienenden Schloten hoben sich deutlich gegen den Horizont ab, während von dem kreisrunden, dreistöckigen Aufbau der Hauptinsel aus dieser Distanz lediglich die Spitze des mit Solarpaneelen bedeckten Daches zu sehen war. An den Außenseiten der acht äußeren Inseln war jeweils ein Ausleger befestigt, an dessen Ende Windräder zur Stromgewinnung aufragten. Aus der Ferne wirkte die Anlage wie die Fantasiekulisse eines grandiosen Science-Fiction-Films; ihre ganze Gestalt schien ein bildhafter Ausdruck des Willens zu sein, die menschliche Zivilisation durch intelligente Technologie auf hoher See neu zu erfinden, nachdem sie an Land in eine bedrohliche Sackgasse geraten war.

Als sie sich ihr schon sehr weit genähert hatten, drehten sie nach backbord ab, so dass sie bald das sich breit in die Küste schneidende Maul der Themsemündung in etwa 15 Meilen Entfernung direkt vor Augen hatten. Die Miss Mary Blue zog eine weite 180-Grad-Schleife und lief dann auf den landwärts zeigenden, zu dem kleinen Hafen von Aqua City führenden Einfahrtskanal zu, dessen Öffnung sich durch das Fehlen einer der verbindenden Stege zwischen den Modulen Beta 5 und Gamma 5 ergab. Der sichtbar über der Wasserlinie liegende Teil der Inseln, die im Beta- und Gamma-Ring lagen, hatte die exakte Form einer Halbkugel und entsprach in seiner Höhe dem Radius seines 25 Meter langen Grunddurchmessers. An jeder Insel zog sich eine breite Lichtöffnung in einem durchgehenden Streifen um die gesamte Kuppel und wurde durch schmale Edelstrahlstreben ästhetisch in wechselnde Dreiecksformen unterteilt; analog dazu wurde das weiße Kunststoffmaterial der Außenhülle überall durch kleine, plane, dreieckige Flächen optisch strukturiert. Was aus der Ferne zunächst Ähnlichkeit mit schwimmenden, pilzförmigen Zeltkuppeln gehabt hatte, wirkte aus der Nähe so raffiniert, erhaben und futuristisch, als hätte man bewusst eine Ähnlichkeit zu einem ultramodernen Forschungsmodul einer imaginären Raumfahrtmission hergestellt.

Der Seegang hatte durch den großen Wellenbrecher nachgelassen, so dass sie bald mit langsamer Maschinenfahrt und gestrichenen Segeln den Hafen anlaufen konnten. Mo und Mary wurden von dem Anblick des dreistöckigen Aufbaus der Hauptinsel gefesselt, der mit seinen großflächigen Fenstern, seiner in verschiedenen Mustern variierenden Verkleidung aus Holz- und Edelstahllamellen und seinem kuppelförmigen, vollständig mit Solarpaneelen bedeckten Dach so durchdacht wie ein postmodernes Architekturexperiment wirkte. Alles, was sie bis hierher staunend in sich aufgenommen hatten, lief immer wieder auf eine absolut nahe liegende Frage hinaus. Es war Mary, die sie schließlich stellte, als Susan kurz vor dem Anlegemanöver an Deck erschien.

„Die Konstruktion von Aqua City muss einen unglaublichen Aufwand bedeutet haben. Wäre es nicht effizienter gewesen, ein Forschungszentrum an Land zu einem Bruchteil der Kosten zu bauen?“

„Das müssten Sie sich eigentlich selber beantworten können, mein Kind!“, reagierte Susan mit einem stolzen Lachen darauf. „In der kapitalistischen Weltordnung ergibt sich Effizienz nicht allein aus einem guten Produkt zu geringen Kosten, sondern zu einem großen Teil auch aus guter Werbung und Image. Fast alles, was Sie hier sehen, hat sich längst dadurch amortisiert, dass uns die Bekanntheit von Aqua City wichtige Geldgeber eingebracht hat. Das gesamte Projekt ist von Anfang an auf Besonderheit angelegt. Sie müssten durch Ihre Recherchen wissen, was uns vor vier Jahren auf einen Schlag weltberühmt machte: Es war die spektakuläre Atlantiküberquerung, die Aqua City nach seiner Fertigstellung von der Küste Virginias an die französische Atlantikküste führte.“

„Gab es bestimmte Gründe außer Werbung, warum Sie nicht in den USA blieben?“, fragte Mary freundlich weiter, obwohl der Ausdruck „mein Kind“ in ihren Ohren etwas großspurig und herablassend klang.

„Oh ja, die gab es allerdings! Das Verlassen der Heimat war als eine Form von Protest darüber zu verstehen, dass die amerikanische Regierung immer wieder die Ratifizierung wichtiger Klimaziele verweigerte. Diesen Protest hatten wir damals intensiv über die Medien kommuniziert. Obwohl die Überquerung des Atlantiks mit Hilfe von Schleppschiffen eine hübsche Stange Geld kostete und leider nicht klimaneutral verlaufen konnte, entschieden wir uns bewusst, die Zukunft unserer Forschung im europäischen Raum zu suchen. Hier ist man im Allgemeinen für Klimaschutz und –politik offener.“

Susan lehnte sich an die Reling und inhalierte genießerisch die salzige Seeluft ein. Nach einer Weile setzte sie hinzu:

„Zu dem Standort auf See ist ansonsten noch zu sagen, dass er nicht nur sehr gesund und inspirierend ist, sondern natürlich auch eine große Freiheit in sich birgt. Bringt zum Beispiel ein Land nicht genügend Interesse für unsere Forschungen auf, steht es uns jederzeit frei, unsere Anker wieder zu lichten und uns einen neuen Standort zu suchen. Die Grundidee von Aqua City war die Schaffung eines Konglomerats von mobilen, schwimmenden Forschungsmodulen, die jederzeit in einen anderen Weltteil verlegt werden können. Die Insel ist nicht nur hochseefest, sondern auch autark, weil wir durch die Solarmodule und Windgeneratoren eine eigene Stromversorgung haben.“

Kurz nach dem Ende von Susans Erläuterungen legte die Jacht an einer großen, frei schwimmenden Holzplattform an, die durch eine Edelstahltreppe mit dem Eingang von „Alpha 1“ verbunden war. Sie wurde rechts und links von zwei langen Masten flankiert, an denen je eine Fahne mit dem bekannten Motiv von Aqua City wehte. Es zeigte ein geometrisches Gebilde in Form einer sternenförmigen Blüte, dessen Grundform exakt der Satellitenansicht der Gesamtinsel entsprach und in das in der Mitte der Name „Aqua City“ in Form eines bunten Logos eingearbeitet war.

Susan, Mo und Mary verließen vor der Crew und dem Kapitän das Schiff und stiegen die von Algen benetzte Edelstahltreppe zu den schmalen, verglasten Eingangstüren von Alpha 1 hinauf. Sie lagen mehrere Meter hoch sicher über der Wasserlinie und waren in wasserdichte Rahmen eingebaut, deren Form an die Schotten eines Dampfers erinnerte. Nach der Eingabe eines Codes schob sich eine von ihnen automatisch zur Seite und ließ sie direkt auf einen breiten Hauptgang gelangen, der sich über den gesamten Durchmesser der Hauptinsel von einem Ende zum anderen zog.

„Seefahrttechnisch betrachtet definiert sich Aqua City als eine Hybridform aus einem Schiff und einer Schwimminsel“, erläuterte Susan derweil. „Es ist eine Schwimminsel, weil es eine ausgedehnte Fläche hat und über keinen eigenen Antrieb verfügt, und ein Schiff, weil die Rümpfe unter der Wasserlinie stromlinienförmig sind und jeweils mit einem synchron geschalteten Ruder ausgestattet sind. Das erleichtert die Manövrierfähigkeit bei einer Verlegung unserer Position ungemein.“

Im Kontrast zu der aufwändigen Fassade wirkte der Gang durch seinen rutschfest gummierten, schwarzen Boden und seine weißen, kunststoffverkleideten Wände simpel und schmucklos und schien überall gegen potentiell einströmendes Wasser gewappnet worden zu sein. Längliche Sichtfenster gaben den Blick in klinisch rein wirkende Forschungslabore frei, die großräumig ineinander verschachtelt waren und mit langen Arbeitstischen sowie einer verwirrenden Vielzahl von Apparaten ausgestattet waren. Während sie vor einer der Scheiben stehen blieben und einige vor Computerbildschirmen sitzende Frauen und Männer bei ihrer Arbeit beobachteten, erklärte Susan weiter:

„Das hier ist sozusagen das Gehirn und die Schaltzentrale von Aqua City. Hier findet in 16 kleinen Abteilungen eine zentrale Auswertung aller Daten statt, die auf den einzelnen Forschungsinseln auflaufen. Am Ende des Gangs befindet sich ein größerer Technikbereich, der mit der Stromsversorgung und den Computeranlagen zusammenhängt. Im ersten Geschoss gibt es neben ein paar weiteren Technikräumen diverse Büros, in denen unter anderem auch zwei Mitarbeiter des Internetblogs arbeiten, den meine Tochter Una von New York aus leitet. Im obersten Geschoß befinden sich dann noch die Unterkünfte und eine Kantine für alle Mitarbeiter. Zurzeit arbeiten bei uns 33 Wissenschaftler sowie 30 weitere Leute - die englischen Ökologie-Studenten einmal nicht mitgezählt.

So, und bevor Sie später mehr erfahren, wird Sie jetzt sicherlich erst einmal Ihre Unterkunft interessieren. Wir haben uns da etwas ganz Besonderes ausgedacht!“

Als sie ihre Gäste bei dieser Ankündigung plötzlich nach links in einen schmalen Gang führte und eine unscheinbare Eisenluke öffnete, spuckte sie Alpha 1 nach wenigen Minuten bereits wieder aus. Ihnen pfiff eine steife Seebrise um die Ohren und sie betraten einen der Stege aus Eisenrosten, die zu den kleineren Inseln hinüberführten. Dabei verursachte der Wind in den Stahllamellen der Außenverkleidung von Alpha 1 eine so interessante Melodie aus ungewöhnlichen Pfeif- und Zischlauten, als ob es Absicht der Konstrukteure gewesen wäre.

Die erneute Eingabe eines Codes öffnete die automatische Schiebetür des Moduls Beta 8, wonach sich sofort ein modriger Algen- und Meerwassergeruch um sie verbreitete. Der Geruch verriet aus sich selbst, dass hier der Forschungsbereich untergebracht sein musste, der sich mit der Aufzucht von Meeresalgen durch CO2 beschäftigte.

„Wir können da nicht ohne Sauerstoffmaske rein, weil die CO2-Konzentration sehr hoch ist. Deshalb gehen wir hier außen entlang“, verriet die „Chefin“ – wie Joshua sie ironisch genannt hatte - als sie in einen verglasten, am rechten Rand der Insel entlang führenden Durchgang abbog. Der gesamte Boden von Beta 8 bestand aus einem einzigen Algenbecken mit Ausnahme einer glänzenden Edelstahlapparatur in der Mitte, die mit dem großen, an der Spitze der Kuppel eintretenden Luftschlot verbunden war. Als sie das andere Ende des unbemannten, lediglich von Kameras überwachten Moduls erreichten, hatten sie die Wahl zwischen zwei Ausgängen, da die Plattformen des außen liegenden Gamma-Rings durch je zwei Stege mit zwei Plattformen des innen liegenden Beta-Rings verbunden waren. Die daraus resultierenden Dreiecksformen ergaben in der Vogelperspektive einen sternenförmigen Umriss, der nicht nur an eine Blüte, sondern durch die Stegverbindungen auch an eine Molekularstruktur erinnerte. Susan wählte den weiter links liegenden Ausgang und meinte beim Verlassen des Moduls mit einem etwas anzüglichen Grinsen zu Mo:

„Ich hoffe, Sie werden die Situation nicht ausnutzen, Larry. Wenn wir Sie beide ganz allein hier draußen unterbringen, dann nicht, weil wir sie etwa verkuppeln wollten. Auf Alpha 1 ist zurzeit kein Quartier mehr frei, weshalb Sie mit einer kleinen Wohneinheit auf Gamma 7 Vorlieb nehmen müssen.“

Da die Abstände zu den rechten und linken Nachbarinseln im äußeren Ring naturgemäß größer wurden, schien ihre Einquartierung auf Gamma 7 einer Verbannung an einen der einsamsten und am weitesten draußen liegenden Orte von Aqua City gleichzukommen. Der diagonal verlaufende Steg war länger als die Stege, die zwischen Alpha 1 und den Beta-Inseln lagen, und wurde an einigen Stellen von der spritzenden Gischt der heftig bewegten See überspült. Die Ächz- und Knarrgeräusche der unter Wasser liegenden Stahlverbindungen der Inseln klangen so bedrohlich bis zu ihnen hinauf, als drohten sie jederzeit auseinander zu brechen.

Als sie es in einem günstigen Augenblick schafften, samt ihres Gepäcks trockenen Fußes hinüberzugelangen, wurden sie beim Betreten des Moduls von einer gespenstischen Stille umfangen. An dem Rumpf und der dicken Außenhülle von Gamma 7 war nur noch ein leichtes Klatschen der Wellen zu hören, während aus dem Zentrum das sonore Surren einer komplexen technischen Anlage an ihre Ohren drang. Sie bestand aus mehreren großen Edelstahlbehältern und einem verwirrenden Geflecht aus Rohren und Apparaturen, deren Funktion für Laien schier undurchschaubar war.

„Staunen Sie nur!“, rief Susan lachend, als sie die großen Augen der beiden Detektive sah. „Die Bedeutung dieser Versuchsanordnung dürfte nicht sehr viel geringer als unsere große Künstliche-Fotosynthese-Forschung anzusetzen sein. Diese Anlage kann CO2 aus der Luft extrahieren und in einen elementaren Kohlenstoff umwandeln. Man kann ihn beliebig lange aufbewahren, bis eines Tages Technologien zu seiner sinnvollen und klimafreundlichen Weiterverwendung entwickelt worden sind. Und auch daran arbeiten wir bereits. Was Sie hier sehen, wäre schon heute im großen Stil anwendbar, wenn nur genügend Regierungen und Geldgeber ernsthaftes Interesse an dem Bau größerer Anlagen zeigen würden. Damit würde sich das CO2-Problem quasi in Luft - beziehungsweise Kohle – auflösen!“

Erst beim Weitergehen bemerkten sie, dass im oberen Bereich der Kuppel ein zweites Geschoss eingebaut war. Es war durch eine eng gewundene, ihm hinteren Bereich des Moduls befindliche Eisenwendeltreppe zu erreichen und lag oberhalb der großen Lichtöffnung, die sich auf halber Höhe der Kuppel rund um ihren gesamten Umfang zog.

„Da oben befindet sich Ihr Quartier. Sie werden dort alles finden, was Sie benötigen. Sie sind hier unter sich, da die Anlage zentral vom Hauptlabor aus gesteuert wird und nur selten jemand hier heraus kommt.

So, und nun lasse ich Sie allein. Joshua wird Ihnen den Rest Ihres Gepäcks bringen und alles Weitere erklären. Er wird Ihnen eine Liste mit allen Türcodes von Aqua City aushändigen, so dass Sie sich uneingeschränkt frei bewegen können. Außerdem wird er Ihnen den Weg zur Kantine zeigen, wo wir nachher alle gemeinsam zu Abend essen werden.“

Susan begab sich zur Tür und ließ die beiden Detektive etwas ratlos mit der sonor summenden Anlage zurück. Beim Hinausgehen rief sie ihnen zum Abschied zu:

„Wussten Sie übrigens, dass Aqua City bei den Engländern bloß Die Anti-CO2-Maschine heißt? Zumindest an der Ostküste ist dieser Name allen bekannt.

Und nun legen Sie sich erst mal trocken. Sie haben mit Ihren Untersuchungen keine Zeit zu verlieren. Am besten werden Sie sich noch heute Abend überall umsehen und die ersten Gespräche mit unseren Leuten führen. Vergessen Sie dabei nicht, in welcher Rolle Sie hierher gekommen sind: Esther Morgan und Larry Keene sind neugierige Reporter und wissen genau, welche Fragen sie stellen dürfen und welche nicht!“

Mo Morris und die Anti-CO2-Maschine

Подняться наверх