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I. Die sexuelle Revolution und die Krise der Moraltheologie

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1.

Die Sache beginnt mit der vom Staat verordneten und getragenen Einführung der Kinder und der Jugend in das Wesen der Sexualität. In Deutschland hat die Gesundheitsministerin Frau Strobel einen Film machen lassen, in dem zum Zweck der Aufklärung alles, was bisher nicht öffentlich gezeigt werden durfte, einschließlich des Geschlechtsverkehrs, nun vorgeführt wurde. Was zunächst nur für die Aufklärung junger Menschen gedacht war, ist danach wie selbstverständlich als allgemeine Möglichkeit angenommen worden.

Ähnliche Wirkungen erzielte der von der österreichischen Regierung herausgegebene »Sexkoffer«. Sex- und Pornofilme wurden nun zu einer Realität bis dahin, dass sie nun auch in den Bahnhofskinos vorgeführt wurden. Ich erinnere mich noch, wie ich eines Tages in die Stadt Regensburg gehend vor einem großen Kino Menschenmassen stehen und warten sah, wie wir sie vorher nur in Kriegszeiten erlebt hatten, wenn irgendeine Sonderzuteilung zu erhoffen war. Im Gedächtnis ist mir auch geblieben, wie ich am Karfreitag 1970 in die Stadt kam und dort alle Plakatsäulen mit einem Werbeplakat verklebt waren, das zwei völlig nackte Personen im Großformat in enger Umarmung vorstellte.

Zu den Freiheiten, die die Revolution von 1968 erkämpfen wollte, gehörte auch diese völlige sexuelle Freiheit, die keine Normen mehr zuließ. Die Gewaltbereitschaft, die diese Jahre kennzeichnete, ist mit diesem seelischen Zusammenbruch eng verbunden. In der Tat wurde in Flugzeugen kein Sexfilm mehr zugelassen, weil in der kleinen Gemeinschaft der Passagiere Gewalttätigkeit ausbrach. Weil die Auswüchse im Bereich der Kleidung ebenfalls Aggression hervorriefen, haben auch Schulleiter versucht, eine Schulkleidung einzuführen, die ein Klima des Lernens ermöglichen sollte.

Zu der Physiognomie der 68er Revolution gehörte, dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde. Wenigstens für die jungen Menschen in der Kirche, aber nicht nur für sie, war dies in vieler Hinsicht eine sehr schwierige Zeit. Ich habe mich immer gefragt, wie junge Menschen in dieser Situation auf das Priestertum zugehen und es mit all seinen Konsequenzen annehmen konnten. Der weitgehende Zusammenbruch des Priesternachwuchses in jenen Jahren und die übergroße Zahl von Laisierungen waren eine Konsequenz all dieser Vorgänge.


2.

Unabhängig von dieser Entwicklung hat sich in derselben Zeit ein Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie ereignet, der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte. Ich versuche ganz kurz den Hergang dieser Entwicklung zu skizzieren. Bis hin zum II. Vaticanum wurde die katholische Moraltheologie weitgehend naturrechtlich begründet, während die Heilige Schrift nur als Hintergrund oder Bekräftigung angeführt wurde. Im Ringen des Konzils um ein neues Verstehen der Offenbarung wurde die naturrechtliche Option weitgehend abgelegt und eine ganz auf die Bibel begründete Moraltheologie gefordert. Ich erinnere mich noch, wie die Jesuiten-Fakultät in Frankfurt einen höchst begabten jungen Pater (Schüller) für den Aufbau einer ganz auf die Schrift gegründeten Moral vorbereiten ließ. Die schöne Dissertation von Pater Schüller zeigt einen ersten Schritt zum Aufbau einer auf die Schrift gegründeten Moral. Pater Schüller wurde dann nach Amerika zu weiteren Studien geschickt und kam mit der Erkenntnis zurück, dass von der Bibel allein her Moral nicht systematisch dargestellt werden konnte. Er hat dann eine mehr pragmatisch vorgehende Moraltheologie versucht, ohne damit eine Antwort auf die Krise der Moral geben zu können.

Schließlich hat sich dann weitgehend die These durchgesetzt, dass Moral allein von den Zwecken des menschlichen Handelns her zu bestimmen sei. Der alte Satz »Der Zweck heiligt die Mittel« wurde zwar nicht in dieser groben Form bestätigt, aber seine Denkform war bestimmend geworden. So konnte es nun auch nichts schlechthin Gutes und ebensowenig etwas immer Böses geben, sondern nur relative Wertungen. Es gab nicht mehr das Gute, sondern nur noch das relativ, im Augenblick und von den Umständen abhängige Bessere.

Die Krise der Begründung und Darstellung der katholischen Moral erreichte in den ausgehenden 80er und in den 90er Jahren dramatische Formen. Am 5. Januar 1989 erschien die von 15 katholischen Theologie-Professoren unterzeichnete »Kölner Erklärung«, die verschiedene Krisenpunkte im Verhältnis zwischen bischöflichem Lehramt und der Aufgabe der Theologie im Auge hatte. Dieser Text, der zunächst nicht über das übliche Maß von Protesten hinausging, wuchs ganz schnell zu einem Aufschrei gegen das kirchliche Lehramt an und sammelte das Protestpotential laut sicht- und hörbar, das sich weltweit gegen die zu erwartenden Lehrtexte von Johannes Paul II. erhob (vgl. D. Mieth, Kölner Erklärung, LThK, VI3, 196).

Papst Johannes Paul II., der die Situation der Moraltheologie sehr gut kannte und sie mit Aufmerksamkeit verfolgte, ließ nun mit der Arbeit an einer Enzyklika beginnen, die diese Dinge wieder zurechtrücken sollte. Sie ist unter dem Titel »Veritatis splendor« am 6. August 1993 erschienen und hat heftige Gegenreaktionen von Seiten der Moral­theologen bewirkt. Vorher schon war es der »Katechismus der katholischen Kirche«, der in überzeugender Weise die von der Kirche verkündete Moral systematisch darstellte.

Unvergessen bleibt mir, wie der damals führende deutsche Moraltheologe Franz Böckle, nach seiner Emeritierung in seine Schweizer Heimat zurückgekehrt, im Blick auf die möglichen Entscheidungen der Enzyklika »Veritatis splendor« erklärte, wenn die Enzyklika entscheiden sollte, dass es Handlungen gebe, die immer und unter allen Umständen als schlecht einzustufen seien, wolle er dagegen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften seine Stimme erheben. Der gütige Gott hat ihm die Ausführung dieses Entschlusses erspart; Böckle starb am 8. Juli 1991. Die Enzyklika wurde am 6. August 1993 veröffentlicht und enthielt in der Tat die Entscheidung, dass es Handlungen gebe, die nie gut werden können. Der Papst war sich des Gewichts dieser Entscheidung in seiner Stunde voll bewusst und hatte gerade für diesen Teil seines Schreibens noch einmal erste Spezialisten befragt, die an sich nicht an der Redaktion der Enzyklika teilnahmen. Er konnte und durfte keinen Zweifel daran lassen, dass die Moral der Güterabwägung eine letzte Grenze respektieren muss. Es gibt Güter, die nie zur Abwägung stehen. Es gibt Werte, die nie um eines noch höheren Wertes wegen preisgegeben werden dürfen und die auch über dem Erhalt des physischen Lebens stehen. Es gibt das Martyrium. Gott ist mehr, auch als das physische Überleben. Ein Leben, das durch die Leugnung Gottes erkauft wäre, ein Leben, das auf einer letzten Lüge beruht, ist ein Unleben. Das Martyrium ist eine Grundkategorie der christlichen Existenz. Dass es in der von Böckle und von vielen anderen vertretenen Theorie im Grunde nicht mehr moralisch nötig ist, zeigt, dass hier das Wesen des Christentums selbst auf dem Spiel steht.

In der Moraltheologie war freilich inzwischen eine andere Fragestellung dringend geworden: Es setzte sich weithin die These durch, dass dem kirchlichen Lehramt nur in eigentlichen Glaubensfragen endgültige Kompetenz (»Unfehlbarkeit«) zukommt, Fragen der Moral könnten nicht Gegenstand unfehlbarer Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes werden. An dieser These ist wohl Richtiges, das weiter diskutiert zu werden verdient. Aber es gibt ein Minimum morale, das mit der Grundentscheidung des Glaubens unlöslich verknüpft ist und das verteidigt werden muss, wenn man Glauben nicht auf eine Theorie reduzieren will, sondern in seinem Anspruch an das konkrete Leben anerkennt. Aus alledem wird sichtbar, wie grundsätzlich die Autorität der Kirche in Sachen Moral zur Frage steht. Wer der Kirche in diesem Bereich eine letzte Lehrkompetenz abspricht, zwingt sie zu einem Schweigen gerade da, wo es sich um die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge handelt.

Unabhängig von dieser Frage wurde in weiten Kreisen der Moraltheologie die These entwickelt, dass die Kirche keine eigene Moral hat und haben kann. Dabei wird darauf hingewiesen, dass alle moralischen Thesen auch Parallelen in den übrigen Religionen kennen würden und ein christliches Proprium daher nicht existieren könne. Aber die Frage nach dem Proprium einer biblischen Moral wird nicht dadurch beantwortet, dass man zu jedem einzelnen Satz irgendwo auch eine Parallele in anderen Religionen finden kann. Vielmehr geht es um das Ganze der biblischen Moral, das als solches neu und anders ist gegenüber den einzelnen Teilen. Die Morallehre der Heiligen Schrift hat ihre Besonderheit letztlich in ihrer Verankerung im Gottesbild, im Glauben an den einen Gott, der sich in Jesus Christus gezeigt und der als Mensch gelebt hat. Der Dekalog ist eine Anwendung des biblischen Gottesglaubens auf das menschliche Leben. Gottesbild und Moral gehören zusammen und ergeben so das besondere Neue der christlichen Einstellung zur Welt und zum menschlichen Leben. Im übrigen ist das Christentum von Anfang an mit dem Wort hodós beschrieben worden. Der Glaube ist ein Weg, eine Weise zu leben. In der alten Kirche wurde das Katechumenat gegenüber einer immer mehr demoralisierten Kultur als Lebensraum geschaffen, in dem das Besondere und Neue der christlichen Weise zu leben eingeübt wurde und zugleich geschützt war gegenüber der allgemeinen Lebensweise. Ich denke, dass auch heute so etwas wie katechumenale Gemeinschaften notwendig sind, damit überhaupt christliches Leben in seiner Eigenart sich behaupten kann.


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