Читать книгу Nach der Schafskälte - Benedikta zu Stolberg - Страница 7
Kapitel 1
ОглавлениеDurch das halbgeöffnete Küchenfenster drang der Geruch nach Erde und Harz. Den ganzen Nachmittag schon hatte Frauke am Küchentisch gesessen und hinaus auf die nebelverhangenen Bergspitzen geblickt. Neben einem Becher Kamillentee lag ihr Strickzeug. Sie hatte es nicht einmal zur Hand genommen. Hatte einfach nur dagesessen, die Hände auf der Tischplatte gefaltet, und reglos hinaus in den Regen gestarrt. Wie ein Igel, der nach langem Winterschlaf nur mühsam wieder zu sich kommt. Als Leo sich auf die Hinterbeine setzte und zu winseln begann, stand sie auf, drückte eine Tablette aus der Packung, nahm die Dose mit Leberwurst aus dem Kühlschrank und steckte das Medikament in einen kleinen Happen. „Das wird dir guttun.“ Leo schnappte nach dem Leckerbissen. Leberwurst nahm er immer, auch bei starken Schmerzen. Sie kraulte seinen Nacken. „Gleich geht‘s dir besser, Leohund. Gleich sind die Schmerzen weg.“ Hoffentlich stimmte das. Sein Zustand verschlechterte sich von Monat zu Monat. Würde er sie auch noch verlassen, genauso wie ...
Es klingelte. Frauke richtete sich auf und ging langsam durch die Diele. Sie hatte keine Lust auf Besuch. Sie legte ihre Wange gegen die Tür und fragte, ohne den Schlüssel zu drehen: „Wer ist da?“
„Ich bin‘s, Frauke, mach auf!“ Erika, ihre Schwiegermutter. Unwillig schloss sie auf und nahm die Umarmung der Eintretenden entgegen, ohne sie zu erwidern.
„Hast du einen Kaffee für mich? Ich will mit dir sprechen, Liebes.“
Eine Viertelstunde später saßen die beiden Frauen mit einer Kanne Kaffee und einem Teller Haferkeksen im Wohnzimmer. Leo hatte sich neben Erikas Füße gelegt. Er mochte sie, genauso wie alle anderen Mitglieder und Freunde der Familie. Frauke wusste, was sie erwartete. Es war nicht das erste Mal, dass die Schwiegermutter ihr ins Gewissen reden wollte. Und Erika war nicht die Frau, lange herumzudrucksen. Sie kam sofort zur Sache. „Frauke, du hast dein Leben nicht mehr im Griff! Es entgleitet dir mehr und mehr, ich sehe es. Du latschst hier nur noch mit hängenden Schultern rum.“
„Na und? Wen stört das?“
„So kann es einfach nicht mehr weitergehen. Niko hätte das nicht gewollt, sicher nicht. Und Jakob und Lili brauchen dich.“
„Sie sind erwachsen.“
„Aber sie müssen auch mit seinem Tod fertig werden. Den Vater haben sie schon verloren, und ihre Mutter ist zurzeit kaum ansprechbar. Reiß dich zusammen, Frauke, komm zu dir!“
Frauke hob die Hände. „Nicht schon wieder. Ich brauch einfach Zeit. Ist das denn so schwer zu verstehen?“
„Liebes, Niko ist seit einem Jahr tot. Du bist dreiundvierzig. Kein Alter, um sich aus dem Leben zurückzuziehen. Es ist schon schlimm genug, dass Niko ...“ Erika zog ein Taschentuch aus der Jacke und schnäuzte sich. Leo erhob sich und schlurfte durch die Diele zu seiner Matte neben der Haustür. Mit einem tiefen Seufzer ließ er sich fallen. Erika schob eine Broschüre über den Tisch. „Du musst einfach mal hier raus, Kind. Schau dir mal diesen Prospekt an. Es geht um Bundesfreiwilligendienst. Verzieh nicht gleich das Gesicht, es ist eine gute Sache. Du könntest da was Soziales machen, was für andere Menschen tun. Vielleicht in einem Kindergarten. Das würde dich auf andere Gedanken bringen, dir neue Perspektiven aufzeigen. Denk an Jako und Lili! Sie leiden darunter, dass du aus deiner Trauer nicht mehr rausfindest.“ Frauke blätterte die Broschüre durch. Bundesfreiwilligendienst. Schon das Wort klang abstoßend. Wie kam Erika nur auf eine solche Idee?
„Jeder von uns geht mit der Trauer anders um. Jakob vergräbt sich in sein Studium, Lili sucht Ablenkung. Du, Frauke, wirst krank, wenn du dich weiter so zurückziehst. Sprichst du überhaupt noch mit irgendjemand, außer mit Leo?“
„Mit wem soll ich denn sprechen, wozu. Ich hab das ganze Gerede so satt.“
„Du musst dir eine neue Aufgabe suchen, gerade weil es dir nicht gutgeht! Willst du‘s dir nicht wenigstens mal ansehen?“ Sie deutete auf die Broschüre.
„Später schau ich vielleicht mal rein. Wollen wir jetzt zusammen einen kleinen Gang machen? Der Regen hört heute eh nicht mehr auf. Und Leo braucht seinen Auslauf.“ Die Frauen gingen in die Diele. Frauke schlüpfte in ihren knöchellangen Regenmantel und griff gewohnheitsmäßig nach der Leine. „Wie geht‘s Leo eigentlich“, fragte Erika.
„Wenn ich nicht so feige wäre, würde ich diesen gewissenlosen Züchter anzeigen. Oder noch besser: Umbringen. Und die Vereinsvorstände, Gutachter – alle, die an der Ware Hund mitverdienen, gleich mit. Skrupellose Profiteure.“ Frauke hockte sich neben Leos Korb. „Armer Kerl.“ Sie streichelte ihm über den Kopf. Der Hund streckte alle viere aus und gähnte vernehmlich. „Gassi gehen, Brüderchen, nun komm schon!“ Schwerfällig erhob der löwengelbe Labrador sich, einen Moment stand er wackelig auf den Beinen. Frauke hielt ihn am Halsband.
„Frauke, du hast so viel Groll in dir. Niko würde das nicht gefallen. Er war so stolz auf dich, als du ohne Zögern die Fürsorge für Leo übernommen hast. Aber die Welt kannst du nicht retten.“
„Es ist eine Schande, was er alles durchmachen muss. Von der OP hat er sich auch noch nicht ganz erholt. Aber Rüster sagt, es wird. Nun muss er schon wieder Antibiotika schlucken. Hätte Niko ihn operiert, dann ...“ „Sei nicht ungerecht. Sven ist ein guter Tierarzt. Wir sollten froh sein, dass Nikos Praxis in so kompetente Hände gegangen ist. Stell dir vor, du hättest keinen Nachfolger gefunden.“ Frauke zuckte mit den Schultern und kickte mit dem rechten Fuß Leos Spielzeug zur Seite. Seit langem lief er keinem Ball mehr hinterher. Sie verließen das Haus.
Vor der Tür atmete Frauke tief durch. Die Luft hatte noch immer ihren bitteren winterlichen Duft; Nebel hing über den Tälern und verhüllte die Bergspitzen. Vermutlich würde es noch einmal Schnee geben. „Wollen wir zum Wald rauf?“
„Gern“, sagte Erika, „aber ich will noch mal auf meinen Vorschlag zurückkommen. Du könntest versuchen, den Weg der Wüstenväter zu gehen, dieser Männer, die im dritten Jahrhundert nach Christus im Sinai gelebt haben.“
„Kirchenväter? Erika, du weißt, ich bin …“ „Wenn diese Männer an ihrer Bestimmung und ihrem Glauben zweifelten, zogen sie sich zurück in die Wüste und lebten eine Zeit lang als Eremiten in Askese, Gebet und Arbeit. Auf diese Weise fanden sie ihren inneren Frieden wieder.“
Frauke lachte auf. „Du meinst, ich finde im Bundesfreiwilligendienst mein inneres Gleichgewicht wieder? Ohne Niko? Erika, wie stellst du dir das vor? Du weißt, dass ich nie kirchentreu war wie du, Manfred und Niko. Und ich werde es auch nie sein, weil …“ „Das ist egal. Auch Manfred hatte sich in den letzten Jahren der Kirche entfremdet. Das hat weder Niko noch mich gestört. Askese würde dir guttun.“
„Ich hasse schon das Wort.“
„Es sind doch nur Bezeichnungen für bestimmte Inhalte. Ich gebe zu: Askese – das sagt uns heute nicht mehr viel. Aber Besinnung auf das Wesentliche, Abstand zum Lärm des Alltags, darum geht es. Das ist heilsam, für jeden. Ich stelle mir dich und Leo vor wie den Heiligen Hieronymus in seiner Klause, mit seinem Löwen und seinem Hund. Du könntest deine Trauer aufschreiben, Frauke. Sie in Erinnerungen übersetzen, Erinnerungen an dein Leben mit Niko. Das würde dir guttun. Und den Kindern auch.“
Sie gab es nur unwillig zu, aber das Bild des Heiligen Hieronymus mit seinen Tieren gefiel Frauke. „Ich lebe hier doch schon wie in einer Einsiedelei. Nachdem ich nicht mehr in der Praxis bin und Jakob und Lili aus dem Haus sind, hab ich Tag und Nacht genug Leere um mich rum.“
„Nein, Frauke, das hat nichts mit Meditation zu tun. Stille ist nicht Leere. Du hast keine Aufgabe, das ist das Problem. Geh durch deine Trauer hindurch, aber in Verbindung mit einer sinnvollen Aufgabe. Dann findest du deine Kraft wieder. Und den Weg, der für dich richtig ist.“
„Warum bist du eigentlich nicht Pastorin geworden, Erika?“
„Zu meiner Zeit war das noch undenkbar. Ich hätte gerne Theologie studiert und wäre in den Kirchendienst gegangen. Aber mein Leben war und ist auch so gut.“
„Und Nikos Tod?“
Frauke schämte sich, kaum dass ihr diese Worte herausgerutscht waren. Es dauerte eine Weile, bis die Schwiegermutter antwortete. „Es ist auch für mich nicht leicht. Aber ich verzweifle nicht. Außerdem sehen wir ihn wieder. Er hat nur früher als wir zurückgefunden ins Paradies.“
Sie erreichten den Wald und stapften schweigend hügelaufwärts. Im Unterholz hatten sich bereits erste Frühjahrsblüher durch das trockene Laub gekämpft; Scharbockskraut und Anemonen reckten ihre gelben und weißen Blüten dem Licht entgegen.
„Lass Leo los. Er ist doch noch nie weggelaufen.“
Frauke bückte sich und knipste die Hundeleine vom Halsband. „Geh spielen, Leolöwe.“
Leo setzte sich in Bewegung und schlingerte wedelnd am Wegesrand voraus, die Nase am Boden.
Frauke war in Rottbek geboren und auf dem Betrieb ihres Vaters aufgewachsen, einer Landschlachterei. „Rottbek hat seinen Namen bekommen, als einer unserer Vorväter die erste Schlachterei betrieb“, hatte ihr Vater oft gesagt. „Beim Schlachten lief das Blut in den Bach hinter dem Hof und färbte ihn rot. Rottbek – der beste Ort für unser Gewerbe! Was sollten die Leute ohne uns essen?“ Ihr Vater war stolz, die Schlachterei bereits in sechster Generation zu führen. Er hielt auf Tradition und bereitete die Wurst immer noch nach alten, handgeschriebenen Rezepten der Urgroßmutter zu. Als Erste aus der Familie Beermann hatte Frauke in Lübeck das Abitur abgelegt. Seit sie zehn Jahre alt war, hatte sie nur einen Berufswunsch gehabt, sie wollte Tierärztin werden. Während ihres Studiums an der Hochschule Hannover lernte sie Nikolaus Meyer kennen. Noch immer spürte sie das Kribbeln in ihrem Bauch, das sie überfallen hatte, wenn Niko zu spät zur Vorlesung kam, sich neben sie setzte, beim Schreiben zu ihr herüberlinste und sie anstrahlte. Einmal wandte er seinen Blick so lange nicht von ihr ab, bis er über den Rand des Collegeblockes auf der Tischplatte schrieb. Prustend stürmten sie aus dem Hörsaal. Unter der Neonbeleuchtung im Flur küssten sie sich zum ersten Mal. So lange, bis die Vorlesung zu Ende war, die Kommilitonen in den Gang strömten und sie auseinander scheuchten. Niko machte seinen Abschluss, als sie ins vierte Semester kam. Wenig später starb sein Vater an einem Herzinfarkt und er musste von heute auf morgen die Praxis übernehmen. Eine Weile sahen Frauke und er sich nur am Wochenende. Dann fragte er sie kurz vor ihrer Zwischenprüfung, ob sie ihn heiraten und ihm in der Praxis helfen wollte. Nach einigen Tagen Bedenkzeit nahm sie seinen Antrag an. Sie brach ihr Studium ab und zog zu ihm. Mühelos lebte sie sich in Waldberg ein. Mit ihrer Schwiegermutter Erika verstand sie sich auf Anhieb. Nikos Vater hatte sie nur einige Male bei Besuchen gesehen. Nach einigen Wochen sagte sie ihrem Mann, dass sie sich so wohl fühlte wie nie zuvor. Endlich hatte sie ihre eigene Familie. „Nur ein Kind fehlt noch“, alberte sie und drohte ihm mit erhobenem Zeigefinger, „nimm dir mehr Zeit für uns beide.“
Zwei Jahre später kam Jakob zur Welt, ein Jahr danach Lilian. Nach Lilis Geburt kam Niko eines Tages von einem Einsatz zurück und schenkte ihr eine Kette mit einem aus Amethyst gearbeiteten Anhänger. „Ein Engelsflügel“, sagte er und legte ihr das Schmuckstück um den Hals, „er soll dir Glück bringen. Und außerdem ist er wandelbar: Wenn dir mal alles zu viel ist mit uns, dann betrachte den Anhänger als einen Vogelflügel, mit dem du davonfliegen kannst. Aber versprich mir, dass du nicht zu weit fliegst und nicht zu lange wegbleibst.“ Dann hatte er sie geküsst und in ihr Ohr geflüstert: „Oder hast du niemals Fluchtgedanken?“
„Nein“, hatte sie geantwortet, „ich möchte nirgendwo anders sein als hier, mit dir und den Kindern.“
„Dann bleibt es eben beim Engelsflügel“, hatte er geraunt und seine Nase in ihrem Haar vergraben, „segensreichen Beistand kann jeder brauchen, auch der Glücklichste!“
Frauke genoss das turbulente Familienleben. Sie kochte, putzte, half bei den Hausaufgaben, fragte Vokabeln ab. Wann immer Zeit übrig war, arbeitete sie in Nikos Praxis mit. Sobald beide Kinder die Oberstufe erreicht hatten, entließ Niko eine Sprechstundenhilfe und Frauke assistierte regelmäßig am Behandlungstisch. Niko bot Operationen für Hunde, die an Zuchtfehlern litten, besonders günstig an. „Ich schlage aus der Not dieser Tiere keinen Profit“, sagte er. Als vor vier Jahren Leo als ein solcher Patient in ihr Leben kam, schien das Glück der Familie Meyer perfekt. Leo war chronisch krank. Die Laboruntersuchungen und Röntgenaufnahmen zeigten, wie schwer seine Ellenbogengelenke geschädigt waren. Er litt unter Ellenbogendysplasie, einer genetisch bedingten Erkrankung seiner Rasse. Darüber hinaus hatte er eine Futtermittelallergie, die lange falsch behandelt worden war. Sein Fell sah räudig aus, seine Haut war übersät von Pusteln. Der Juckreiz musste ihm Höllenqualen bereiten. Seine Besitzer, ein junges kinderloses Paar, ehrgeizige Werbegraphiker, wollten die Kosten und Mühen der Behandlung nicht auf sich nehmen und kündigten an, den Hund einschläfern zu lassen. Leo saß auf dem Behandlungstisch, sah aufmerksam in die Runde und wedelte mit dem Schwanz. Frauke zögerte keinen Moment. Nicht einmal mit Niko sprach sie sich ab. „Einschläfern kommt überhaupt nicht in Frage“, stellte sie kategorisch fest und legte ihre Hand auf Leos Schulter, „ich kümmere mich um ihn.“ Das junge Paar war einverstanden. Besser konnte ihr Hund es ja nicht treffen, als im Haushalt eines Tierarztes zu leben. Niko schüttelte nur kurz den Kopf und murmelte: „Typisch meine Frauke. Hat ein Herz so weit wie die Welt.“
Familie Meyer nahm Leo voller Freude in ihren Kreis auf, ganz besonders Jakob und Lilian. Aber Leo hatte sich vom ersten Tag an Frauke angeschlossen, als wüsste er, dass sie ihn vor einem ungewissen Schicksal bewahrt hatte.
Inzwischen hatten sie den Waldrand erreicht. „Gib mir Leo mal, ich hab ihn so lange nicht mehr geführt.“
„Gern“, sagte Frauke und reichte ihrer Schwiegermutter die Leine. Es war nicht schwer, Leo zu lotsen. Er ging zuverlässig bei Fuß. „Ich hab nur nicht so viel Lust zum Reden, Erika. Ich mache mir gerade ein paar Gedanken, in Ordnung?“
„Ja, sicher, Liebes. Aber denk auch über meinen Vorschlag nach.“
Sozialarbeit. Frauke fragte sich, ob sie einer verantwortungsvollen Tätigkeit in ihrer jetzigen Situation überhaupt gewachsen war. Seit Nikos Tod waren ihre Tage nichts als einförmige Modulationen in Moll, aneinandergereihte Strophen eines dunklen Liedes. Wie in einer Endlosschleife kehrten ihre Gedanken immer wieder zurück zu jenem Tag vor gut eineinhalb Jahren. Jakob war bereits im zweiten Semester seines Lehramtsstudiums in Tübingen, und Lili bereitete sich auf das Abitur in wenigen Monaten vor. Frauke hatte an dem Morgen die Tür der Praxis aufgeschlossen. Wie üblich drängten die ersten Klienten mit ihren Hunden, Katzen und Meerschweinchen ins Wartezimmer. „Wieder einmal!“, hatte Frauke gestöhnt, nachdem sie den Anruf von Frau Mühlheim entgegengenommen hatte. Frau Mühlheim rief mindestens zweimal die Woche nach Niko. Ihr Pferd war uralt, ebenso wie sie selbst. Neben Nikos regelmäßiger Medikation konnte man die Arthrose des hochbetagten Wallachs nur mit Kräuterwickeln lindern. Immer wieder bot Frau Mühlheims Tochter an, diese Aufgabe zu übernehmen. Doch die alte Dame bestand darauf, dass der Herr Doktor persönlich kam und nach ihrem Liebling sah. Auch an diesem Tag beorderte sie Niko einmal mehr direkt vom Frühstückstisch zu sich nach Hochdorf. Frauke rechnete damit, dass sich der Beginn der Sprechstunde um nicht viel mehr als eine halbe Stunde verschieben würde. Das Wartezimmer füllte sich zusehends. „Platz! Sitz, aber, willst du wohl!“ Unterdrücktes Knurren, eine Katze miaute kläglich in ihrem mit einer Wolldecke abgedunkelten Korb, ein schwarzer Pudel saß auf den Hinterbacken und winselte sein Herrchen an. Frauke, die gerade eine Nierenschale mit Infusionsbesteck durchs Wartezimmer trug, beugte sich herunter zu dem zitternden Tier. „Prinz, beruhige dich doch. Musst doch keine Angst haben, der Doktor will nur dein Herz abhören.“
„Sonst fürchtet er weder Tod noch Teufel“, erklärte sein Besitzer und lachte Frauke zwischen blitzenden Goldzähnen an, „aber der Herr Doktor – vor dem hat er Respekt!“
„Uns geht es nicht anders, wenn wir zum Zahnarzt müssen, oder?“ Frauke tastete in ihrer Kitteltasche nach einem Leckerli und hielt es Prinz hin. Der Hund wandte den Kopf ab. Sie gab den Keks an einen anderen Hund und setzte ihren Weg in Richtung Behandlungszimmer fort. Die Tür des Wartezimmers öffnete sich und ließ einen kalten Luftzug ein. Frauke wandte sich um und sah die Eingetretenen erstaunt an. Die Polizisten, ein Mann und eine Frau, nahmen ihre Mützen ab. „Wir möchten Frau Meyer sprechen.“
„Das bin ich.“ Frauke fühlte, wie eine eisige Klammer sich um ihr Herz legte. Im Geist scannte sie die Standorte ihrer Angehörigen ab: Jakob in Tübingen im Seminar, Lili im Chemieraum ihres Gymnasiums, in der ersten Stunde hatte sie Herrn Hohmann; Niko bei der alten Frau Mühlheim und ihrem lahmen Wallach, die Schwiegermutter in ihrem Haus auf der anderen Seite der Straße, vermutlich gerade beim Frühstück. Vielleicht war mit ihrer Mutter etwas nicht in Ordnung. Im vergangenen Winter hatte Dorothea immer wieder über Herzrhythmusstörungen geklagt.
„Wo können wir ungestört mit Ihnen sprechen?“ Sie ging voraus ins Arztzimmer.
„Jacqueline, lass uns bitte einen Moment allein.“ Während die Sprechstundenhilfe zur Tür ging, huschte ihr Blick zwischen Frauke und den Polizisten hin und her.
„Frau Meyer, Ihr Mann hatte einen schweren Unfall. Er ist auf der Bundesstraße von der regennassen Straße abgekommen.“ Die Uhr über dem Medikamentenschrank. Frauke hatte sie noch nie so laut ticken gehört.
„Und?“ Ihr Herzschlag wurde immer langsamer. Sie war nicht sicher, ob er nicht gleich aussetzen würde. Hoffentlich bemerkten die Polizisten nicht, wie das untere Lid ihres rechten Auges zitterte.
„Er wurde auf die Intensivstation des Städtischen Krankenhauses gebracht. Die Ärzte haben ihn in ein künstliches Koma versetzt. Es ist sehr ernst.“ Im oberen Stockwerk kratzte Leo an der Zwischentür. Steifbeinig und mit Schwindel im Kopf stieg Frauke die Treppe hinauf und ließ ihn frei. Er lief vor ihr ins Behandlungszimmer, beschnupperte die Polizisten und setzte sich neben ihren Stuhl.
In den folgenden Tagen und Nächten bewegte sie sich wie automatisch von ihrem Haus ins Krankenhaus und zurück, durch Nebel, Kälte und Stille. Stundenlang saßen Jakob und Lili mit ihr an Nicos Bett, oft schmiegten die beiden sich schutzsuchend an sie. Keiner von ihnen weinte im Krankenzimmer. Wenn sie nach Hause kamen, war Leo da und begrüßte sie voller Begeisterung. Immer wieder versuchte er, Jakob und Lili zum Spielen aufzufordern, sie aufzuheitern. Öfter als sonst kam er zu Frauke und legte seinen Kopf auf ihr Knie. Stupste sie an. Beobachtete sie.
Nach vier Tagen starb Niko, ohne noch einmal das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Noch am Abend nach der Beisetzung fuhr Jakob nach Bochum zurück. Lili schaffte trotz allem ihr Abitur. „Das bin ich Papa schuldig“, sagte sie, wenn sie gleich nach dem Mittagessen in ihr Zimmer hinaufging, um zu lernen. Frauke schämte sich. Sie akzeptierte die Situation einfach nicht. Sie hasste den Tod, der ihr Nico genommen, ihr gewohntes Leben zerstört und sie ins Nichts gestoßen hatte. Alles Blödsinn, was der Pfarrer im Trauergottesdienst erzählt hatte: Gottes Ratschluss. Sie hasste diesen Gott, der Nicos unsinnigen Tod zugelassen hatte. Wie im Traum bewegte sie sich durch Tage und Nächte, die sich nicht voneinander unterschieden. Alle Farben waren aus ihrem Leben verschwunden. Die Kinder lebten ihr Leben weiter. Kürzlich hatte Jakob sich eine Homepage eingerichtet, auf der er seine Zeichnungen und Fotografien ausstellte. Mit einem Porträt von sich und Leo als Profilbild. Sie hatte erst davon erfahren, als Erika erzählte, welch begeisterten Kommentar sie in Jakobs Gästebuch geschrieben hatte. Wenige Tage später bekam Frauke eine Postkarte aus Aveiro: Viele liebe Grüße von der herrlich sonnigen Atlantikküste! Lili hatte bei ihrem letzten Telefonat vor zehn Tagen nichts von ihrer Reise nach Portugal gesagt. Eigentlich sollte sie froh sein, dass ihre Kinder trotz allem ein unabhängiges Leben führten. Sie hatte Jakob und Lili zur Selbständigkeit angeleitet. Ihnen früh Freiräume gelassen, sich selbst zurückgenommen. Aber jetzt war sie allein. Die Kinder fehlten ihr. Niko. Ihr gemeinsames Leben – einfach aufgelöst. Dabei gab es in den Monaten nach seinem Tod so viel zu tun. Als Erstes musste sie einen Nachfolger für die Praxis suchen. Als sie endlich Sven Rüster fand, erklärte er sich bereit, die komplette Praxiseinrichtung zu übernehmen, aber von dem Nippes hielt er nichts. Es hatte sich so viel angesammelt in den Jahren. Frauke hatte es nie übers Herz gebracht, die Geschenke der Vertreter sowie dankbarer Hunde- oder Katzenhalter wegzuwerfen. Nun raffte sie alles zusammen und warf es in einen Karton: aus Sperrholz gesägte Gänse mit blaukarierten Schleifen, Stofftiere, den möwengroßen Hundefloh aus Kunststoff. Nach der Praxisübergabe verkaufte sie das Haus und suchte sich eine kleine Wohnung. Nein, zum Grübeln hatte sie keine Zeit gehabt. Erst jetzt, nachdem alles abgewickelt war, packte die Trauer sie, hinterrücks, als habe sie all die Zeit in einer Ecke ihres Bewusstseins gelauert. Sie hatte zu nichts mehr Lust. Oft genug vergaß sie, etwas für sich einzukaufen, kochte schon lange nicht mehr. Ab und zu brachte Erika ihr eine warme Mahlzeit, die sie meist nicht einmal aufaß. Nur um Leo kümmerte sie sich wie eh und je. Vielleicht hatte Erika recht. Vielleicht sollte sie sich eine Aufgabe suchen, etwas Sinnvolles tun. Vielleicht würde sie so ihre Energie zurückgewinnen und konnte dann die Weichen für die Zukunft stellen. Vielleicht ...
Sie nahm die Hundeleine wieder in die Hand. „Erika, ich glaube, ich mache das mit diesem Bundesfreiwilligendienst. Heute Abend sehe ich mir die Broschüre an und recherchiere im Internet, was es für offene Stellen gibt. Danke für den Tipp.“ Sie legte ihren Arm um die Schulter der Schwiegermutter und drückte sie an sich. Der Regen hatte nachgelassen. Nur von den Bäumen tropfte es noch. Im Westen schimmerte die Vorfrühlingssonne blass durch das glänzende Blattwerk.