Читать книгу Nach der Schafskälte - Benedikta zu Stolberg - Страница 8

Kapitel 2

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Hannes parkte den Geländewagen genau vor der Haustür. Das würde Gönna missfallen, aber er musste gleich nach dem Abendessen noch einmal los. Schließlich hatte er Frerk Petersen versprochen, ihm beim Umtreiben der Schafe behilflich zu sein. Es hatte ihn einige Überredungskunst gekostet, den kauzigen Landwirt davon zu überzeugen, dass es sowohl dem Deich als auch seinen Schafen guttat, wenn sie wenigstens einmal im Sommer die Weidefläche wechselten. Die Grasnarbe konnte sich dann erholen; und für die Schafe war es nur von Vorteil, wenn ihr Tisch einmal neu gedeckt wurde. So hatte Hannes es formuliert. Frerk hatte nur den Kopf geschüttelt und sich an die Stirn getippt. „Na, wenn du dann auch mal mit anpackst, meinetwegen.“ Wie üblich hatte Frerk die Laute, die er ohnehin so sparsam wie möglich setzte, tonlos durch seine fast geschlossenen Lippen geschoben. Heute Abend war es so weit: Schafauftrieb. Eine neue Aufgabe für Hannes, die sich unauffällig an seine vielen anderen Tätigkeiten koppelte. Über Beschäftigungsmangel konnte er sich nicht beklagen. Aber er liebte seinen Job auch nach all den Jahren noch ebenso wie am ersten Tag. Hannes packte gern an, niemand musste ihn lange bitten. Wenn er gebraucht wurde, half er. Ihm war klar, dass seine Hilfsbereitschaft der Grund war, warum er so viele Freunde hatte und mehr Einladungen bekam, als er wahrnehmen konnte. Seit sieben Jahren war er als Ranger beim Verein Grüne-Westküste-Wattenmeer in Husum angestellt und kümmerte sich verantwortlich um das Naturschutzgebiet Wietriffharder Koog.

Hannes war in Hamburg geboren und aufgewachsen, im Stadtteil Winterhude. Wenn er zurückdachte, kam es ihm so vor, als hätte er während seiner Kindheit den größten Teil seiner freien Zeit im Stadtpark verbracht. Von klein auf faszinierte ihn alles, was mit der Natur zusammenhing. Deshalb widersetzte er sich nach der mittleren Reife den Wünschen seiner Eltern nach einer weiterführenden Schulbildung und ging ins Alte Land, um dort Landschafts- und Gartenbau zu lernen. Dreizehn Jahre lang arbeitete er im Obstbau, anfangs in einem konventionellen Betrieb, die längste Zeit aber bei einem Biobauern. 1996 lernte er im Hofladen Gönna kennen, die mit ihren Eltern zu einem Sonntagsausflug ins Alte Land gefahren war. Am folgenden Sonntag stand sie wieder im Laden, diesmal allein. Nach seiner Schicht tranken sie den ersten Kaffee zusammen.

Ein halbes Jahr später zog er zu Gönna nach Hollerstedt. Er machte eine Umschulung zum geprüften Natur- und Landschaftspfleger und war auch heute noch davon überzeugt, dass er mit seiner Einstellung beim Verein Grüne-Westküste-Wattenmeer das große Los gezogen hatte. Nur die Verbindung mit Gönna hatte ihm kein Glück gebracht. Aber man konnte vielleicht nicht alles vom Leben verlangen. Gönna und er schlossen kurz nach Sinas Taufe ein Abkommen: Solange Sina klein war, würden sie sich nicht trennen. Unbedingt sollte ihre Tochter mit Vater und Mutter aufwachsen. Sie wollten sich bemühen, respektvoll miteinander umzugehen. Leider gelang ihnen das immer seltener. Manchmal war es Gönna, die stichelte, manchmal er selbst, der seine Enttäuschung nicht länger unterdrücken konnte und sie seine Frau durch bissige Bemerkungen spüren ließ. An einem Abend stocherte Gönna beim Abendessen lustlos in ihrem Gemüse herum.

„Ist irgendwas?“ Immerhin fragte er. Sie berichtete von neuen Mobbingvorfällen, von Stress mit ihrem Chef.

„Einige Kollegen nehmen sich so viel raus“, sagte sie mit unterdrücktem Schluchzen und barg das Gesicht in ihren Händen, „und selbst wenn ich mir nicht alles gefallen lasse, bin ich am Ende doch die Dumme.“ Das alles hatte er schon oft gehört. „Niemand hat dich gezwungen, Bänkerin zu werden. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass Schwiegervater das überhaupt nicht gut fand. Hättest wohl doch besser den Hof übernommen.“ Als Hannes zu seiner künftigen Frau gezogen war, hatten die Schwiegereltern und Gönna die Ländereien gerade erst verkauft. Sie lebten auf dem Resthof mit Stall und großem Garten. Hannes und sein Schwiegervater bedauerten den Verkauf des Landes oft genug abends beim Bier. Dann malten sie sich aus, was Hannes aus dem Hof gemacht hätte: einen mustergültigen Biobetrieb, Gemüseanbau, eine eigene Käserei ...

„Ich muss gleich wieder los. Gibt‘s was zu essen?“ Ohne aufzublicken nickte Gönna zum Herd hinüber. „Kartoffelgratin, ist noch warm.“ Hannes füllte sich auf und setzte sich an den Tisch. Sina hatte die Küche verlassen, es war Zeit für die Sesamstraße. „Superlecker“, sagte er kauend. „Ach, übrigens, Gönna: Wir bekommen eine neue Bundesfreiwilligendienstlerin. Für das Schutzgebiet. Anfang August kommt sie ins Alte Schöpfwerk. Frauke Meyer soll sie heißen. Na, wie das wohl wird.“

„Wie immer“, sagte Gönna gelangweilt und schob das Rätselheft zur Seite. Sie griff nach der Tageszeitung und schlug sie in der Mitte auf. Das tat sie nur, um ihn auf Abstand zu halten. Das letzte Mal, als er versucht hatte, sie abends beim Fernsehen in den Arm zu nehmen, hatte sie „lass es“ gezischt und war von ihm abgerückt. „Aber eine junge Frau da draußen? Da sind doch immer nur Männer, weil das Alte Schöpfwerk so abgeschieden liegt.“

„Jung ist sie nicht, die Frau ist in unserem Alter.“

„In den Vierzigern?“

„Genau. Witwe, hat zwei erwachsene Kinder.“

„Und dann hat sie nichts Besseres zu tun, als BFD zu machen? Na, das muss ja eine Schnepfe sein! Ich wünsch dir viel Spaß, Hannes. Vielleicht findest du ja endlich eine verwandte Seele. Eine Naturliebhaberin, die genauso begeistert durchs Schilf kriecht wie du. Immer auf der Suche nach der untergegangenen Welt der Rohrdommel.“

Er hatte es doch gewusst. Hätte er nur nichts gesagt. Es lief immer auf dasselbe hinaus: Anwürfe, Unterstellungen, Verdächtigungen. Wenn er nur in Gönnas Nähe kam, verspritzte sie schon ihr Gift. Hannes leerte einen zweiten Teller mit lauwarmem Gratin. Dann ging er hinauf zu Sina, um ihr gute Nacht zu sagen.

Als er eine halbe Stunde später aufbrach und unter der Haustür nach dem Wetter sah, hingen die graugelb geschwungenen Wolkenbänder so leicht unter dem blauen Himmel, als könnten sie sich jeden Moment losreißen und über den Horizont davonschweben. Er machte sich auf den Weg zum Norderdeich. Auch wenn er Frerk nicht besonders mochte, hoffte er doch, nach dem Umtreiben der Schafe zu einem Bier auf dem Petersen-Hof eingeladen zu werden. Die Abende in Frerks Küche endeten regelmäßig in einem Besäufnis, und das war genau das, wonach er sich heute sehnte. Irgendwie hatte die Neuigkeit von der Freiwilligen, die Anfang August ins Alte Schöpfwerk ziehen würde, ihn aus dem inneren Gleichgewicht gebracht. Und Gönnas ätzende Worte hatten ihn noch mehr aufgewühlt. Vielleicht teilte die neue Helferin ja tatsächlich sein Interesse für die Natur, den Naturschutz, für die Flora und Fauna seines geliebten Naturschutzgebietes Wietriffharder Koog. Es war sein Job, sie in ihre Aufgaben einzuweisen und zu betreuen. Das hatte er schon oft getan. Jedes Jahr kamen Freiwillige ins Alte Schöpfwerk. Aber es waren bislang immer junge Männer gewesen, die nach dem Abitur ein Freiwilliges Ökologisches Jahr absolvierten, um Zeit für die Planung ihrer Ausbildung zu finden, praktische Erfahrung zu sammeln, Selbstbewusstsein aufzubauen. Er hatte sich immer gern um seine Schützlinge gekümmert. Die meisten von ihnen arbeiteten engagiert. Doch irgendwie waren die jungen Leute und er nie über ein Lehrer-Schüler-Verhältnis hinausgekommen: Rückfragen vor Entscheidungen, anerkennendes Schulterklopfen. Und nun eine Frau in seinem Alter. Würden sie auf Augenhöhe miteinander sprechen, Hand in Hand arbeiten? Wie sie wohl aussah? Hannes drückte die Linke gegen seinen Bauch. Dieses Kribbeln in der Magengrube hatte er lange nicht mehr gespürt. Er war doch eigentlich zufrieden mit seinem Leben.

Sie hatte diesen Landstrich ganz anders in Erinnerung. Das letzte Mal war sie vor zehn Jahren mit Niko, Erika, Jakob und Lili für drei Wochen Ferien nach St. Peter-Ording gefahren. Frauke konnte immer noch fühlen, wie der warme Sand durch ihre Finger rieselte, fast wie die Sonnentage, die sich in ebenmäßigem Strahlen aneinanderreihten: Picknick am Strand, Buddeln im Sand, Burgen bauen, die Juchzer der Kinder, wenn sie im Wasser planschten. Lili im rotweiß gepunkteten Schwimmring und Jakob, der in den flachen Wellen am Spülsaum mit seinem Plastikkrokodil rang. Jeden Abend, wenn die Schwiegermutter den Schlaf der Kleinen in der Ferienwohnung bewachte, brachen Niko und sie auf zu einer weiten Wanderung über den Strand und durch die Dünenwälder. Auf dem hölzernen Aussichtsturm beobachteten sie den Sinkflug einer Sternschnuppe. Ohne ein Wort zu sagen, zogen sie sich aus und liebten sich. Am nächsten Morgen half Niko ihr, einen Splitter aus dem linken Schulterblatt zu ziehen. Er nannte sie seine Prinzessin auf dem Splitter.

Niko und sie hatten sich für die flache Landschaft Eiderstedts begeistert: unbeschränkte Weite, ein Horizont, der sich in die Unendlichkeit wölbte. Aber so präsentierte die Gegend sich an diesem strahlenden Sommermorgen ganz und gar nicht mehr. Die Weite war zersplittert. Überall rotierten Windräder durch das Blau, in schleppenden Drehungen spulten ihre Flügel die Horizontlinie auf und verquirlten die Wolken. Die Schatten der Rotoren jagten über das Land. Wie moderne Raubritterburgen erhoben sich grüne Türme und Kuppeln von Biogasanlagen über die Marsch. Auf Ständer montierte Dächer trugen Sonnenkollektoren, die funkelnde Zwiesprache mit Außerirdischen zu halten schienen. Windturbinen, die sich endlos drehten und Strom produzierten, den niemand abnahm. Biogasanlagen, die Boden und Grundwasser belasteten. Viele Insekten, Vögel und kleine Säugetiere hatten die Knicks und Feldränder schon verlassen. Unter den riesigen Sonnenkollektoren weideten Schafe, winzig und verloren wie Relikte der Vergangenheit. Heute war die Zeit der industriellen Agrarwirtschaft mit ihren riesigen, hektarweit auf besten Ackerböden und Grünflächen aufgestellten Anlagen. Der alte Traum der Menschheit, Stroh zu Gold zu spinnen.

Frauke erinnerte sich, wie Niko und sie sich während der Fahrt durch Eiderstedt ausgelassen in mittelalterliche Vorstellungen hineinfabuliert hatten: Die Erde eine Scheibe, der Mittelpunkt des Universums. Wenn sie einfach immer weiterfuhren, würden sie über den Rand stürzen. Die Menschen hatten dieses Denken überwunden, wie so viele andere irrige Glaubenssätze. Und doch saßen sie immer neuen Irrtümern auf. Einer davon war die Maxime, sich die Natur untertan zu machen. Wie oft hatten Niko und sie dieses Thema diskutiert. Wie viel Industrialisierung ertrug die Natur? Wie weit durfte man gehen? War die Grenze nicht längst überschritten?

Niko hatte sich im Lauf seiner Tätigkeit als Tierarzt auf dem Land verändert. Anfangs hatte er unbeirrt die Positionen der Nutztierhalter vertreten: Ein bäuerlicher Betrieb musste Gewinn abwerfen, sonst funktionierte das Ganze nicht. Doch mit der zunehmenden Industrialisierung der Landwirtschaft hatte er seine Meinung anfangs zögerlich, später immer entschlossener und schließlich radikal geändert. „Sie haben keine Hemmungen mehr, die Erde und ihre nichtmenschlichen Bewohner auszubeuten“, klagte er, „sie quetschen alles an Profit aus den Wäldern, Äckern, Weiden und Tieren heraus, was nur möglich ist. Um jeden Preis.“

Immer öfter kam er niedergeschlagen von seinen Einsätzen in den Großraumställen des Harzer Vorlandes zurück, ließ seinen Behandlungskoffer in der Diele fallen und warf sich aufs Sofa. Dann verschränkte er die Hände hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Frauke wusste, dass sie ihn besser in Ruhe ließ, bis er von selbst zu sprechen begann.

Eines Abends teilte er ihr mit, dass er ab sofort den Praxisbetrieb auf die Behandlung von Kleintieren umstellen würde. „Ich verordne keine einzige Antibiotikumprophylaxe mehr für eine Schweineherde!“, sagte er und knallte den Kaffeebecher auf den Tisch. „Keinen Tag länger lass ich mich zum Handlanger der Veterinärpharmaindustrie machen!“

Sie schluckte. Die Erinnerung an die Gespräche mit ihrem verstorbenen Mann bedrückte sie. Nun fuhr sie schon seit Stunden durch eine Küstenlandschaft, die sich in einigen Abschnitten in einförmiges Ödland verwandelt hatte. Nordfriesland fächerte sich vor ihr auf, immer noch weiträumig und grün, aber um viele Arten von Flora und Fauna beraubt. Eine ausgeräumte Landschaft. Am liebsten wäre sie einfach umgedreht und zurückgefahren. Neben der Straße folgte ihr ein Vogelschatten. Das Tier selbst sah sie nicht.

Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Ärgerlich drehte sie am Regler des Autoradios. Der MDR war nicht klar zu empfangen, also lauschte sie den norddeutschen Regionalnachrichten. Alles klang fremd, die Ortsnamen ebenso wie die Nachrichten über Auseinandersetzungen zwischen Regionalpolitikern, Krabbenfischern und Umweltschützern. Nein, sie wollte sich auf diese Themen nicht einlassen. Sie hatte eine klare Vorstellung von ihrer Arbeit als Bundesfreiwilligendienstlerin. Sie würde ihre Aufgaben gewissenhaft und mit Eifer erledigen. Aber der Feierabend sollte nur ihr gehören. Sie hatte Erikas Vorschlag aufgegriffen und sich ein dickes Notizbuch gekauft, um Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Niko hineinzuschreiben. Schreibend wollte sie die glücklichen Jahre mit ihrem Mann und den Kindern noch einmal zum Leben erwecken. Hinten im Kofferraum stand ein großer Karton mit unsortierten Fotos. Sie würde sich in Husum ein oder zwei Alben besorgen und die Aufnahmen einkleben und beschriften. Nachruf auf eine sorglose Zeit. Und wenn ihr Dienst im Wietriffharder Koog abgelaufen war, wollte sie dem Naturschutzverein eine annehmbare Arbeit hinterlassen, aber auch ihr persönliches Feld gepflügt, gedüngt und frisch eingesät mit in ihren Neustart nehmen. Den Aufenthalt in diesem entlegenen Landstrich wollte sie nutzen, um endlich einen Schlussstrich unter ihre Trauer zu ziehen. Wenn sie nach Hause zurückkehrte, wollte sie wissen, was sie in Zukunft tun, wo, wie und wofür sie leben würde. Sie musste sich Klarheit verschaffen.

Beinahe hätte sie die Abfahrt nach Husum verpasst. Sie nahm den Fuß vom Gas und setzte den Blinker. Wenig später parkte sie auf einem kostenpflichtigen Parkplatz in der Husumer Altstadt und ließ Leo aus dem Kofferraum. Nachdem er eine halbe Minute an einer Hausecke geschnüffelt hatte, durchquerten sie eine enge Gasse, die zum Hafen hinunterführte, wo Frauke der Beschreibung nach das Haus des Vereins Grüne-Westküste-Wattenmeer finden würde.

Es war inzwischen zwei Uhr mittags. Sie hatte bohrenden Hunger. Sie schlenderte durch die Hafenstraße und fand schließlich einen Bäcker. Vor der Tür stand eine Schale mit Wasser. Leo trank gierig. Frauke setzte sich an einen der freien Tische unter einer Markise mit Blick auf den Hafen.

„Was kann ich Ihnen bringen?“

„Einen kleinen Salat, ein Käsebrötchen und eine Tasse Kaffee, bitte.“ Es war Ebbe. Segelyachten, ein Katamaran und ein Restaurantschiff staken schief im Schlick oder lehnten an der Kaimauer. Möwen spazierten am Grunde des Hafenbeckens umher, immer wieder flogen sie auf und kreisten über den Spaziergängern, forderten kreischend ihren Zoll an Fischbrötchen und Vanillewaffeln. Vor den Cafés und Eisdielen saßen die Menschen in kurzen Hosen und ärmellosen Tops und genossen den warmen Augustmittag. Beinahe wie zuhause, dachte Frauke, dieselben zugleich entspannten und gelangweilten Gesichter der Urlauber. Nur dass sie in Waldberg nicht am Hafen saßen, sondern im Kurpark am Fuß der Harzer Berge.

Frisch gestärkt setzte sie ihren Weg fort. Bevor sie das Vereinshaus betrat, fuhr sie sich mit den Händen durch das Haar. Hoffentlich roch sie nicht nach Schweiß. Es war im Auto viel zu warm gewesen, denn Leo bekam von der Klimaanlage Atemschwierigkeiten und seine Augen tränten. Nun nahm sie ihn an die kurze Leine und trat durch die offene Glastür ins Innere des Gebäudes.

„Frauke Meyer. Ich bin mit Frau Wilkens verabredet.“ Das junge Mädchen sah vom Bildschirm auf direkt in Fraukes Augen, drückte eine Taste ihres Telefons und meldete der Vorgesetzten ihre Ankunft. Frauke trat an einen der Schaukästen, die an den Wänden des Foyers aufgestellt waren. Ein ausgestopfter Austernfischer bewachte ein Gelege mit drei Eiern, eindrucksvoll in seinem schwarzweißen Federkleid, dem roten Schnabel und den roten Beinen. Wenig später erschien eine Frau in Fraukes Alter. Sie trug Jeans und ein grünes T-Shirt mit dem Emblem des Vereins. „Angela Wilkens. Wir sind hier alle per du. Ist doch okay für dich, oder?“ Frauke nickte. Angela bat sie mit hinauf in ihr Büro im ersten Stock. Die Geschäftsführerin des Naturschutzvereins gab ihr zwei T-Shirts, zwei Pullover und eine Drillichjacke, alles in Grün und mit dem Vereinsabzeichen versehen. Dann zog sie einen Aktenordner aus dem Regal. „So, hier ist dein Vertrag. Hund, ja …“, sie warf Leo einen Blick zu, „ist abgesprochen. Deine Arbeitszeit: sechs Stunden täglich. Obligatorische Teilnahme an den Seminaren, na ja, das weißt du doch alles schon.“ Sie klappte den Ordner wieder zu und lächelte. „Aber sag mal, hast du dir wirklich gut überlegt, auf was du dich da einlässt? Das Alte Schöpfwerk liegt total einsam, bis zum nächsten Hof ist es fast ein Kilometer! Außerdem erwartest du hoffentlich kein Sternehotel. In den letzten Jahren haben da nur junge Männer gewohnt. Die Wohnung ist … naja, nicht gerade tipptopp. Ich vermute, es geht mehr so in Richtung Raubtierkäfig.“ Sie zwinkerte Frauke zu.

„Das macht nichts.“ Frauke lehnte sich vor. „Ich freue mich darauf, in der Natur zu arbeiten.“

„Prima“, erwiderte Angela, „dann gebe ich dir jetzt mal den Schlüssel und wünsch dir eine gute Zeit. Wir haben dir ja schon geschrieben, dass dein Betreuer Hannes Persson heißt. Ich denke, er wird sich morgen bei dir vorstellen. Komm erst mal an und richte dich ein bisschen ein. Und denk dran, Frauke, dass du dir hier aus Husum Vorräte mitnimmst. Da draußen gibt es nichts, wirklich gar nichts.“ Sie tätschelte Leos Rücken und begleitete Frauke ins Untergeschoss. „Alles Gute!“, rief sie ihr nach.

Auf dem Weg stadtauswärts steuerte Frauke einen Supermarkt an und deckte sich mit Lebensmitteln und Getränken ein. Konventionelles Futter vertrug Leo schon lange nicht mehr. Sie hatte seine spezielle Diät im Wagen hinter dem Vordersitz verstaut. Wenn die Vorräte zur Neige gingen, würde sie Dr. Rüster anrufen und er würde Nachschub schicken.

Als Frauke nach ein paar Kilometern in die Hollerstedter Marsch bog, parkte sie am Rand des schmalen Weges, stieg aus und ließ ihren Blick schweifen. Wie träumend spannten die Marschwiesen sich um sie herum, einige Bereiche waren von der Sonne versengt, an schattigeren Plätzen stand das Gras auch jetzt im August noch hoch. Hier draußen war weit und breit kein Mensch zu sehen, der Ort schien weltvergessen. Sie ließ Leo aus dem Wagen. Er war erschöpft von der langen Fahrt. Lustlos trottete er hinter ihr her. Eine leichte Brise wehte ihr um die Nase, und über ihrem Kopf sang eine Lerche so hoch, dass Frauke sie nur als flatternden Punkt im Blau ausmachen konnte. Auf den Weiden lagerten Kühe und käuten wieder. Schafe grasten auf dem Deich, einige führten spätgeborene Lämmer bei sich, in ausgelassenen Sätzen sprangen sie um ihre Mütter. Frauke warf die Arme über die Schultern und streckte sich. Hier sah es friedlich aus, idyllisch. So langsam bekam sie Lust auf ihre neue Umgebung. Eigentlich sollte sie Erika dankbar sein, denn die hatte sie schließlich auf die Idee gebracht, hierher zu kommen. Die Arbeit in der Natur, die frische Seeluft und die Ruhe würden ihr sicher guttun. Gleich am nächsten Tag würde sie ans Meer gehen und schwimmen. Um sich von den ewigen Grübeleien abzulenken und sich auf ihre neue Umgebung vorzubereiten, hatte sie sich noch in Waldberg ein Buch über Nordfriesland gekauft. Darin hatte sie gelesen, dass die Hollerstedter Marsch schon im 14. und 15. Jahrhundert eingedeicht worden war. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich dann eine Hollerstedter-Commüne gegründet, ein Vorläufer des heutigen Zweckverbands. In gemeinsamer Arbeit entwässerten die Bewohner das Schwemmland. Das Alte Schöpfwerk, in dem sie wohnen würde, hatte längst ausgedient. Aber die Wasserbewirtschaftung war in diesem Gebiet unverändert wichtig. Ebenso wie früher war sie die Grundlage des Lebens an diesem Ort.

Frauke zog ihr Fernglas aus dem Rucksack und hob es an die Augen. Sie sah Häuserreihen, die wie aufgereiht auf ehemaligen Deichen oder Sandbänken lagen. Einzelne Häuser und Gehöfte standen in der Marsch, einige von ihnen auf Warften. Das Dorf Hollerstedt lag am Geestrand. Viel mehr als die Spitze des Kirchturms konnte Frauke von hier nicht sehen. Um sie herum nur Natur, Stille, Einsamkeit. Genau das hatte sie gewollt. Sie überlegte, ob sie auf den Deich klettern sollte, um einen ersten Blick in das seewärts gelegene Naturschutzgebiet zu werfen, verschob dieses Vorhaben aber auf später. Sie wollte erst einmal zu ihrer neuen Wohnung fahren. Leo brauchte Erholung. Er würde ohnehin noch eine ganze Weile seine neue Umgebung beschnuppern, bis er sich endlich auf seinem Schaffell niederlassen und zur Ruhe kommen würde.

Sie parkte direkt vor dem Eingang des Alten Schöpfwerks. Der Schlüssel klemmte, erst nach mehreren Versuchen gab das Schloss nach. Erleichtert atmete sie auf. Sie hatte schon befürchtet, noch einmal nach Husum zurückfahren zu müssen. Der Treppenaufgang zur Wohnung im oberen Stock war wenig einladend: eine abgetretene Holztreppe, und von der Wand blätterte Putz. Frauke schluckte, als sie in die winzige Diele trat. Von diesem Viereck ging es in einen Raum mit Aussicht auf den Deich, ihr zukünftiges Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer. Spinnweben hingen von der Decke, die ausgeblichene Tapete löste sich an den Kanten von der Wand. Ihre ursprüngliche Farbe hatte sich von Hellgrün in ein öliges Grau verwandelt. Sie setzte den Rucksack ab und atmete laut aus. Dann trat sie ans Fenster und fuhr mit dem Finger durch eine dicke Staubschicht. Wenn sie die Scheiben geputzt hatte, würde sie das Meer auf der anderen Seite des Deiches sehen können. Immerhin. Sie durchquerte den kleinen Mittelraum. Wollmäuse huschten vor ihren Füßen über die abgenutzten Dielenbretter. Wie sollte sie sich in diesem Kabuff hier je etwas zu Essen zubereiten? Eine Schicht aus altem Fett und Staub bedeckte das Inventar ebenso wie die Wände. Einige Becher standen in der Spüle, als hätte jemand sie abwaschen wollen, es aber dann vergessen. Frauke nahm einen auf und sah hinein. Schlieren von Tee- oder Kaffeeresten, eingetrocknete Fertigsuppe. Selbst den Wasserkocher überzog eine Art erstarrter Leim. Sie war nicht kleinlich, aber der Zustand dieser Bude entmutigte sie. Beklommen ging sie in das größere Zimmer und hob die Bettdecke. Die Matratze war durchgelegen, das Kopfkissen fast nur mehr eine schlabberige Hülle. Sicher waren die meisten Daunen längst zerfallen. Sie setzte sich auf den Stuhl vor dem Arbeitstisch am Fenster und blickte über den Deich in Richtung Naturschutzgebiet, über das Vorland und das Meer. Der Blick bot immerhin eine gewisse Entschädigung für den wenig komfortablen Zustand der Innenräume. Sie setzte sich auf und straffte den Rücken. Das Beste war, die Wohnung erst einmal gründlich sauber zu machen, bevor sie ihre Sachen heraufbrachte. Nach einer Grundreinigung würde sie es sich gemütlich machen, irgendwie. Sie entdeckte ein Paar Gummihandschuhe unter der Spüle und machte sich an die Arbeit.

Eine Stunde später sah ihr neues Zuhause schon wohnlicher aus. Sie blickte sich um.

„Und, Leo, was sagst du nun? Ist doch ganz okay hier, oder?“ Leo lag ausgestreckt auf seinem Schaffell unter dem Schreibtisch. Er schlief so tief, dass er sie nicht hörte. Im Schlaf zuckten seine Beine, als müsse er die ganze Strecke von Waldberg bis hier herauf in die Hollerstedter Marsch noch einmal auf seinen vier Pfoten nachlaufen.

Inzwischen war es sechs geworden; die Sonne stand tief über dem Deich. Frauke sortierte eben ihre Wäsche in den Schrank, als das Telefon klingelte. Sie schrak zusammen. In den letzten Stunden hatte sie bis auf das Klappern des Putzeimers und Leos Atem kein Geräusch gehört.

„Schutzstation Altes Schöpfwerk, Frauke Meyer“, sagte sie. Die ungewohnten Worte holperten schwerfällig aus ihrem Mund.

„Mama!“ Lilis Stimme klang belustigt. „Bist du gut angekommen? Wie ist es da oben auf deinem arktischen Außenposten?“

„Lili, meine Liebe! Nett, dass du anrufst. Naja, am Polarkreis bin ich ja noch nicht ganz. Hier ist herrliches Wetter, es ist ganz warm. Alles ist gut. Und wie geht‘s bei dir?“

„Ach, ganz okay. Soll dich auch von Jakob grüßen, ich hab vorhin kurz mit ihm telefoniert. Du sollst ihn mal anrufen, er will dir Neuigkeiten erzählen. Aber sag mal, Mama, ist das wirklich so ganz abgelegen, da, wo du jetzt wohnst? Nicht, dass ich mir Sorgen mache. Leo ist ja auch bei dir. Aber …“ Frauke unterbrach ihre Tochter und trat ans Fenster. Lili sollte sich nicht beunruhigen. „Mach dir keine Gedanken, Lili, der nächste Bauernhof ist in Rufweite. Und außer Seevögeln und Schwalben ist hier nichts, gar nichts. Mir geht‘s hier richtig gut. Morgen kommt mein Betreuer und weist mich in meine Arbeit ein.“ Es klingelte, und unten an der Haustür war aufgeregtes Klopfen zu hören. „Lilischatz, ich ruf dich später nochmal an, hier ist jemand. Vielleicht mein neuer Chef! Bis bald, Liebling, ciao!“ Leo stand bereits in der Tür. Erwartungsvoll sah er sich nach ihr um. „Komm mit!“, rief Frauke und eilte die Treppe hinunter. Irgendwie war sie froh, jemanden zu sehen. Ihr ganzes bisheriges Leben hatte sie in enger Nachbarschaft mit Menschen verbracht. Es würde vielleicht doch nicht so leicht sein, sich an die Einsamkeit zu gewöhnen. Als sie die Haustür aufriss, standen zwei junge Mädchen vor ihr. Sie hatten rote Wangen und keuchten, als hätten sie einen Tausendmeterlauf hinter sich. Wenige Schritte hinter ihnen sah Frauke zwei gegen den Deich geworfene Räder.

„Moin“, rief eine der beiden und wedelte mit den Händen vor ihrem verschwitzten Gesicht, „wir sind von der Nachbarstation Hamburger Hallig. In der Zentrale ist ein Schweinswal gemeldet worden. Hast du was gesehen?“

„Eine Lebendstrandung“, fügte die Zweite an.

„Äh … ich bin gerade erst vor zwei Stunden angekommen. Es tut mir leid, aber ich habe gar keine Ahnung. Ich war noch nicht mal oben auf dem Deich. Ein Schweinswal? Hier an der Nordseeküste?“

„Du musst mitkommen, uns suchen helfen. Wenn du dich noch nicht auskennst, fährst du am besten mit Ronja nach Norden, immer geradeaus über den Deich.“ Sie wandte sich um nach ihrer Kollegin. „Ronnie, nimm du die Neue mit! Ich übernehme heute noch mal das Schutzgebiet, sie kennt es ja noch nicht. Gibt‘s noch ein Fahrrad?“

Frauke streckte den Mädchen ihre Hand entgegen. „Ich bin übrigens Frauke, und das ist Leo.“

„Süßer Hund. Also, wir sind Charlotte und Ronja. Komm, wir dürfen keine Zeit verlieren!“

Frauke brachte Leo zurück in die Wohnung und wies ihn an, auf seinem Ruheplatz auf sie zu warten. Sie wusste, dass es ihm nichts ausmachte, in einer fremden Umgebung allein zu bleiben. Er vertraute ihr und war sicher, dass sie immer zu ihm zurückkam und für ihn sorgte. „Scheint hier ja ziemlich abenteuerlich zuzugehen, Leo“, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor sie die Treppe hinuntereilte. Ronja zeigte ihr den Eingang zur Maschinenhalle auf der Rückseite des Alten Schöpfwerks. Frauke warf einen flüchtigen Blick auf die Unmengen von Gerümpel: aufgebockte Boote, Holzklötze, Taue, Seilwinden. Alles von Staub bedeckt. „Da steht das Fahrrad von deinem Vorgänger“, sagte Ronja und lachte. „Kannst von Glück reden, dass es ein Damenrad ist. Wir hatten in den ersten Tagen nur Herrenräder auf der Station.“

Während sie in nördlicher Richtung über die Deichkrone radelten, stießen immer wieder Böen vom Land her so jäh gegen Fraukes Körper, dass sie fast das Gleichgewicht verlor. Ronja hinter ihr rief: „An den Wind gewöhnst du dich noch. Der ist hier immer, überall. Egal, wohin du fährst – in Nordfriesland kommt der Wind immer von vorn.“

Von Zeit zu Zeit rief Ronja „Stopp!“, und sie hielten kurz an, um ihre Ferngläser vor die Augen zu heben und die Blicke über die Küstenlinie schweifen zu lassen. Es war Hochwasser. Der Himmel färbte sich allmählich orange und rosenfarben, und das Licht spiegelte sich schaukelnd im Wasser. Nach einiger Zeit kamen von Norden her zwei Gestalten auf sie zu. Auch sie trugen die grünen Jacken des Naturschutzvereins und hielten immer wieder an, um das Meer mit ihren Gläsern abzusuchen. Als sie auf gleicher Höhe waren, stellte Ronja die beiden jungen Männer vor. „Eine Schweinswalsichtung ist doch ein ordentlicher Einstand“, sagte einer der beiden lachend. „Nur schade, dass wir ihn nicht gesehen haben. Wir haben unseren Abschnitt komplett abgesucht. Deshalb kehren wir jetzt um und machen Feierabend. Spätestens morgen erfahren wir, ob es eine Falschmeldung war, oder ob der Schweinswal irgendwo gefunden wurde.

„Vielleicht hat er über eins der Seegatts den Rückweg ins offene Meer gefunden“, vermutete einer der Männer. Der Weg zurück zum Schöpfwerk wurde zu einer Herausforderung für Frauke. Der Wind hatte gedreht und blies ihr stramm ins Gesicht. Mit gesenktem Kopf beugte sie sich vor, hielt die Griffe des Lenkers umklammert und strampelte voran. Erschöpft erreichte sie ihr neues Domizil. An diesem Abend würde sie bis auf einen kleinen Gang mit Leo nichts mehr unternehmen. Sie würde Jakob anrufen und sich danach ins Bett legen. Hoffentlich hatte er keine schlechten Nachrichten. Er war nie sehr gesprächig gewesen, aber nach Nikos Tod hatte er sich noch mehr verschlossen und war ihr gegenüber meistens abweisend. Manchmal hatte sie das Gefühl, ihren Sohn nicht mehr zu kennen.

In ihrem neuen Zuhause begrüßte Leo sie, als sei sie monatelang auf See gewesen. Frauke ging mit ihm einige Schritte in die Marsch, aber er schnüffelte endlos an jedem Halm und zeigte immer noch wenig Lust, sich zu bewegen. Die Veränderung machte ihm zu schaffen, genauso wie ihr selbst. Nachdem sie ihn gefüttert und selbst zwei Scheiben Brot mit Käse gegessen hatte, legte sie sich ins Bett. Doch sie fand keine Ruhe und wälzte sich auf der zu weichen und durchgelegenen Matratze von einer Seite auf die andere. Immer wieder glitt ihr Blick hinüber zum Fenster. Die Tage wurden jetzt merklich kürzer; der Sommer hatte seinen Höhepunkt bereits überschritten. Wie gern hätte sie das letzte Blau des Tageslichts festgehalten! Aber das war unmöglich. In wenigen Minuten würde die Dunkelheit sie mit unnachsichtigem Blick anstarren. Frauke schloss die Augen und hoffte, dass sie schnell einschlief. Bevor sie ihr Bewusstsein verlor, fiel ihr ein, dass sie versprochen hatte, Jakob anzurufen. Sie rappelte sich noch einmal auf und griff zum Telefon. „Jakob stell dir vor, ich war auf Schweinswaljagd!“ Er sollte von ihrer niedergeschlagenen Stimmung nichts merken.

„Mama, das klingt superspannend! Du bist also unter die Walfänger gegangen! Wenn du noch einen Harpunier brauchst, sag Bescheid, ich komme!“

„Als wenn du einen Wal harpunieren würdest, Jakob, gerade du!“

„Und wie geht‘s dir da oben?“

„Alles noch ein bisschen fremd. Ich bin ja heute erst angekommen. Aber am Meer ist es doch immer schön, oder? Und bei dir? Lili sagt, du möchtest mir was erzählen.“

„Ja, ich hab mich hier in Tübingen exmatrikuliert. Lehramt ist doch nichts für mich, wirklich nicht. Ich gehe zum Wintersemester nach Wien, dort studiere ich am Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde. Habe gerade eine Zusage bekommen.“

„Jakob – nach Wien? Was genau studierst du dort?“

„Masterstudium Tibetologie und Buddhismuskunde.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Ich gehe seit mehr als einem Jahr regelmäßig ins Haus des Buddhismus hier in Tübingen. Bin durch einen Kommilitonen drauf gekommen, er heißt John. Ich hatte dir schon erzählt, dass wir uns super verstehen und viel zusammen machen. John hat mich mal mitgenommen und ich bin überzeugt davon, dass der Diamantweg meiner ist.“

„Der Diamantweg, was bedeutet das?“

„Es ist einer der drei Wege des Buddhismus. Die Menschen auf dem Diamantweg gehen davon aus, dass die Buddhanatur in ihnen selbst genauso lebt wie in jedem anderen Wesen. Wenn man hinter den Schleier sieht. Furchtlosigkeit, Freude und tatkräftiges Mitgefühl sind die Eigenschaften, die jeder hat und die wir pflegen. Jemand der den Diamantweg beschreitet, wird ihn später anderen Menschen nahe bringen.“

„Sehen wir uns noch mal, bevor du nach Wien gehst? Kommst du mich noch mal besuchen?“

„Nein, das schaffe ich nicht. Ich räume gerade mein Zimmer hier im Studentenwohnheim, und nächste Woche fahre ich schon nach Wien. Da werde ich erstmal eine Weile bei einem Freund von John unterkommen und mir dann einen Job und ein eigenes Zimmer suchen.“

„Ich bin ein bisschen sprachlos, Jakob. Wien, Buddhismuskunde! Ich habe immer gedacht, du wirst ein guter Lehrer.“

„Das werde ich ja vielleicht immer noch. Nur nicht für Englisch und westliche Philosophie. Sobald ich ein bisschen weiter bin auf meinem Weg, reise ich nach Asien. Deutschland ist nicht mein Land. Hier geht es doch nur ums Geld.“

„Ich weiß ja, was du meinst. Ich versteh dich, Jakob. Nur muss ich deine neue Situation erstmal verarbeiten. Und Wien ist so weit weg …“

„Du hast doch jetzt deinen Job da oben bei den Fischen und Wildvögeln. Das wird dir sicher viel Freude machen, Mom. Ich wünsche es dir.“

Frauke beendete das Gespräch mit gemischten Gefühlen. Als Jakob ein kleiner Junge war, hatten Niko und sie manchmal zum Spaß gesagt: Aus ihm wird einmal ein Mönch. Nun machte er sich also tatsächlich auf einen spirituellen Pfad. Ging auf die Suche nach innerem Frieden. Ja, möglicherweise war das der richtige Weg für ihn …

Nachdem sie sich einen Kamillentee aufgebrüht hatte, legte sie sich wieder ins Bett, schlief aber nicht ein. Wieder einmal kreisten ihre Gedanken um Nikos sinnlosen Tod. Das fahle Fensterviereck drehte sich vor ihren Augen. Sie fühlte sich wie eine Schiffbrüchige, die sich mit letzter Kraft an ein Stück Treibholz klammerte. Würde sie sich an die ungepflegte Wohnung, das klapprige Bett, die Stille um sie herum gewöhnen? Ganz so karg hatte sie sich ihr Leben am Deich nicht vorgestellt. Aber sie wollte nicht schon am Anfang ihres Abenteuers aufgeben. Morgen war ein neuer Tag. Mit frischer Kraft würde sie sich ihrer Aufgabe widmen. Wie hatte Jakob doch gesagt? Furchtlosigkeit, Freude und tatkräftiges Mitgefühl. Vom Diamantweg hatte er gesprochen. Vielleicht hatte sie ihren eigenen ja gefunden. Einen Weg, der sie zurück ins Leben führte.

Nun sollte er sie also endlich kennenlernen. Er versuchte, das Grummeln in seinem Bauch nicht zu beachten. Aber es fiel ihm schwer, sich auf das Fahren zu konzentrieren. Zum Glück waren an diesem strahlend schönen Morgen in der Marsch ohnehin nicht viele Fahrzeuge unterwegs. Die Landwirte waren bei der Weizenernte. Überall brummten staubumwölkte Mähdrescher über die Felder. Kopf an Kruppe standen die Rinder im Schatten dürrer Baumgruppen auf den Weiden und vertrieben schwanzwedelnd die Fliegen. Die Schafe ruhten auf der kühleren Außenseite des Deiches. Ihre Körper bebten leicht unter dem dicken Fell, sie hechelten mit offenen Mäulern wie Hunde. Der Himmel war mit rosa Wolken bestreut und die Luft roch würzig nach Mädesüß und wildem Beifuß. Der Wietriffharder Koog zeigte sich der neu angekommenen Naturschützerin von seiner besten Seite. Hannes parkte den Geländewagen und klingelte. Eine Minute später stand sie vor ihm. Schon auf den ersten Blick war ihm klar, dass es dieser Frau nicht nur um Naturschutz ging. Es war nicht nur Liebe zum ländlichen Leben, die sie auf die Station geführt hatte. Aus ihren grauen Augen sah sie mit leicht verlorenem Blick an ihm vorbei, als suche sie etwas. Ein Hund erschien und schob sich schwanzwedelnd an ihrem Knie vorbei.

„Na, du bist ja ein Netter, wie heißt du denn?“ Hannes beugte sich vor und begrüßte den Labrador.

„Das ist Leo. Ich bin Frauke Meyer. Und Sie müssen Herr Persson sein.“

„Sag einfach Hannes, hier draußen duzen wir uns alle. Willkommen auf der Station Altes Schöpfwerk! Wenn du magst, zeige ich dir am Montag das Naturschutzgebiet, dein neues Arbeitsfeld.“

„Gern“, sagte sie, wie lange wird es ungefähr dauern? Ich muss vorher mit Leo laufen, deshalb frage ich.“

„Leo kann doch mit. Allerdings an der Leine, aber das weißt du ja.“

„Klar, wegen der Vögel. Aber er bleibt besser im Haus. Er hat diese typische Labradorkrankheit, genetisch bedingte Fehlbildung der Ellenbogengelenke. Deshalb kann er nur kurze Gänge machen.“

„Das tut mir leid. Er ist ein so netter Hund.“ Hannes kraulte Leo, der sich an sein Bein schmiegte. „Wollen wir uns Montagmorgen um neun hier bei dir vor der Tür treffen? Wenn das Wetter mitspielt, fahren wir mit dem Fahrrad.“ Hannes wandte seinen Kopf in Richtung Meer. Dicke Wolken schoben sich über die Deichkante, als würden sie jeden Moment die Böschung herunterpurzeln. „Sollte es stark regnen, nehmen wir meinen Wagen.“ Als er sein Auto rückwärts auf die Fahrbahn gesetzt hatte, wandte er sich noch einmal um und hob die Hand, um ihr zu winken. Aber sie hatte sich bereits ins Haus zurückgezogen.

Am Montagmorgen wachte Frauke vom Gurren der Tauben in den Pappeln rund ums Staubecken des Schöpfwerks auf. Unter halbgeschlossenen Lidern sah sie zum Fenster. Taubenmorgengrau. Sie hatte von Niko geträumt. Es dauerte einen Moment, bis ihr Geist den Rückweg in ihren schlafstarren Körper fand. Sie wälzte sich aus dem Bett und ging zum Fenster, stützte die Hände auf sah hinaus. Am östlichen Himmel breitete sich flammendes Morgenrot über die Marsch, Wolken drifteten in Richtung Meer. Leo, in dieser Beleuchtung fuchsfarben, gähnte und rollte sich noch einmal auf die Seite. Frauke stellte sich unter die Dusche; zog sich beschwingt an und frühstückte: Kaffee, Schwarzbrot mit Käse und Marmelade. Sie fühlte sich aufgeräumt wie lange nicht mehr und freute sich auf die Einweisung in ihre Arbeit. Endlich würde sie ihr neues Aufgabengebiet und ihren Betreuer kennenlernen. Sie ging mit Leo Gassi und wartete danach auf Hannes. Immer wieder trat sie ans Fenster und spähte hinaus auf den Deichweg. Als es endlich klingelte, legte sie ihre Arme um Leos Schulter und sagte, dass sie länger unterwegs sein würde. „Nicht ungeduldig werden, träum schön, mein Guter!“ Leo seufzte und streckte sich auf seinem abgewetzten Schaffell aus. Als sie die Tür öffnete, räusperte Hannes sich und trat von einem Bein aufs andere. Er stand neben seinem Fahrrad und sah viel jünger aus, als sie ihn von ihrer ersten Begegnung am Freitag in Erinnerung hatte. Er trug eine Latzhose und T-Shirt in Vereinsgrün.

„Moin“, sagte sie, „ich hol nur schnell mein Rad.“

„Hast du was zu Trinken eingepackt? Es wird heute richtig heiß. Mit achtundzwanzig Grad im Schatten können wir gegen Mittag rechnen.“

Schuldbewusst verdrehte sie die Augen, eilte noch einmal die Treppe hinauf und füllte eine Flasche mit Leitungswasser. Ohne sich zu erheben, blinzelte Leo sie aus einem Auge an. „Hier hast du es schön kühl“, sagte Frauke, strich ihm über den Kopf und eilte wieder hinunter.

Sie radelten ein Stück die schmale, den Windungen des Deiches folgende Straße entlang. Zu Fraukes rechter Seite erstreckte sich die Marsch mit ihren von Gräben durchzogenen Weiden und Äckern und den spärlich ins Grün gestreuten Gehöften. An einem hölzernen Turm hielten sie und lehnten die Räder gegen einen Pfosten.

„Von dem Turm aus überblicken wir fast das gesamte Schutzgebiet“, sagte Hannes und kletterte die Holzleiter hinauf. Auf der Plattform angekommen, nahm Frauke ihr Fernglas und ließ den Blick im Halbkreis über den Wietriffharder Koog, das Vorland und das dahinter blinkende Meer schweifen. Eine Weile sah auch Hannes sich um, dann unterbrach er die Stille: „Unser Naturschutzgebiet ist ein Garten Eden. Flora und Fauna leben hier miteinander, nicht gegeneinander. Hier treiben die Menschen keinen Raubbau an der Natur, sondern hegen und pflegen sie. Ich bin froh, hier arbeiten zu dürfen. Einen besseren Ort hätte ich nirgendwo finden können.“ Er wandte sich Frauke zu und lächelte sie an. „Alles in Ordnung, keine besonderen Vorkommnisse. Das gehört in Zukunft auch zu deinem Job: zweimal pro Woche fährst du mit dem Fahrrad die äußere Grenze ab und kontrollierst das Gebiet. Soll ich dir jetzt ein paar grundlegende Infos geben?“

„Gern.“ Sie strich eine Strähne aus dem Gesicht und lehnte sich gegen die Brüstung. Ein leichter Wind ging hier oben. Es war zwar noch früh, aber die Wärme nahm zu.

„Fangen wir mit Fakten an: Das Naturschutzgebiet Wietriffharder Koog hat eine Fläche von 3.350 Hektar. Es wurde 1987 eingedeicht. Lange Zeit hatte das Schöpfwerk, in dem du wohnst, die mit dem Meeresspiegel gleich hoch gelegene Hollerstedter Marsch entwässert, in Zusammenarbeit mit Schleusen und Sielen. Aber das Betreiben der mit Dieselmotoren betriebenen Pumpen wurde zu teuer. Deshalb entstand der Plan, den Koog einzudeichen. Das ging allerdings nicht ohne Kämpfe ab, zu viele verschiedene Interessen prallten gegeneinander. Naturschutz, Landwirtschaft und Küstenschutz mussten sich zusammenraufen.“ Hannes lachte auf. „Dabei blieb so manche Männerfreundschaft auf der Strecke.“

Frauke hatte nicht richtig zugehört. Wie verzaubert ließ sie ihre Blicke über die grünen Wiesen streifen. Grünkraft, so hatte Hildegard von Bingen die stärkste dem Leben innewohnende Kraft genannt. Während sie von der Plattform über die Landschaft blickte, kam ihr das Wort wieder in den Sinn. „Grünkraft.“ Jetzt hatte sie es laut ausgesprochen. Erschrocken presste sie die Lippen zusammen. Sie wollte sich mit ihrem Betreuer nicht über die Heilige Hildegard unterhalten, über ihre Liebe und Verbundenheit mit der Natur. Nächtelang hatten Niko und sie sich über die Heilige ausgetauscht. Sie waren sich einig, dass Hildegard im Gegensatz zum herrschenden Teil der Kirche keinen Unterschied zwischen Gott und Natur machte. „Grünkraft eben. Energie.“

„Wie bitte?“

Sie schüttelte den Kopf und hob die Hand. Hannes fragte nicht weiter, sondern trat an die Brüstung und wies auf die Landfläche, die sich vor ihren Augen in östlicher Richtung ausbreitete. Am Rand der Wiesen suchte eine Herde Kühe spärliche Kühlung rund um die Tränkwanne. Eines der Tiere rieb schnaubend den Kopf an einem Gatter.

„Hier vor uns liegt das Feuchtgrünland. Es hat sehr hohe Winterwasserstände und ist deshalb ein wichtiges Brutgebiet für Wiesenvögel. Im Frühjahr legen die Wildgänse hier einen Zwischenstopp ein und fressen sich Energie für den Weg zu ihren Brutgebieten im Norden an. Wenn sie uns verlassen, muss der Bewuchs weiter kurz gehalten werden. Dazu lassen die Bauern ihr Vieh hier weiden, sie bekommen dafür Prämien. Siehst du, dass der Streifen zurzeit viel zu verschilft ist? Das ist aus Gründen des Naturschutzes ungünstig. Die Vögel können das Terrain so nicht nutzen, sie brauchen offenes Grasland zum Brüten. Ich muss dringend mal mit dem Landwirt reden, denn das Gelände ist als Brutgebiet für die Wiesenvögel wichtig. Es ist riesig und zieht sich als breiter Streifen bis zur Flügelspitze des Koogs.“

„Flügelspitze?“

Hannes legte den Kopf schief und zog ein Faltblatt aus der Westentasche. Es war zerknickt, aber lesbar. Er faltete es auseinander und kämpfte einen Moment mit dem Wind. Schließlich drückte er es mit beiden Händen gegen die Brüstung und hielt es so auf Spannung. „Wenn man seewärts auf die Karte sieht, erkennt man es. Sieht aus wie ein ausgebreiteter Vogelflügel.“

„Das ist ja wundervoll. Ein Vogelschutzgebiet in Form eines Vogels, der aufs Meer hinausfliegt. Ich habe ja schon Pläne gesehen, aber die besondere Form war mir bisher nicht aufgefallen.“

„Ja, ganz hübsch. Passt eben. Hier im Wietriffharder Koog haben wir über fünfzig Vogelarten, darunter einige seltene und vom Aussterben bedrohte Arten.“

„Nämlich?“

„Rohrweihe, Bartmeise, Rohrdommel, Wachtelkönig. Seeadler. Den meisten von ihnen wirst du persönlich begegnen, mit gebührendem Abstand, versteht sich. Aber die Bedeutung des Gebietes liegt vor allem in seiner Ausdehnung. Nirgendwo sonst in Schleswig-Holstein können die Vögel so ungestört leben wie hier. So“, er berührte Frauke leicht an der Schulter, „jetzt lass uns mal weiterfahren. Wir verlassen das Schutzgebiet für eine Weile.“ Er reichte ihr den Faltplan. „Kannst du behalten.“ Hannes radelte voraus, und Frauke folgte. Sie musste ziemlich in die Pedale treten, um sein Tempo zu halten. Es machte ihr nichts. Der Wind im Gesicht tat gut. Sie genoss die schnelle Fahrt und zog mit der Linken den Gummi aus ihrem Haar. Wie leicht und frei sie sich fühlte! Sie hätte gern laut gesungen, traute sich aber nicht. Am Abend wollte sie ihre Schwiegermutter anrufen und ihr sagen, dass es ihr gut ging. Danke für deinen Rat, Erika. Hannes deutete auf ein ausgeschlachtetes Auto, das nicht weit von einem der Höfe entfernt mitten auf einem frisch abgeernteten Acker stand.

„Was bedeutet das?“, rief Frauke.

Er bremste. Nachdem er einen Moment nach Luft geschnappt hatte, begann er zu sprechen. „Die Landwirte stellen diese leeren Autos jetzt mehr und mehr auf ihre Felder. Die Köge sind voll von ihnen. Sie hocken sich da rein und schießen aus der Deckung auf die Wildgänse, die auf ihren Äckern fressen und koten.“

„Das ist ja hinterhältig. Ist das legal?“

„Leider ja. Seit gestern ist die Jagd auf Graugänse wieder erlaubt. Ab Oktober dürfen auch wieder Nonnengänse geschossen werden; bis Mitte Januar. Ringel- und Kanadagänse ab November. Sogar Pfeifenten werden bejagt – zur Schadensabwehr auf gefährdeten Acker- und Grünlandkulturen. Manchmal übertreiben sie aber auch und schießen ins Schutzgebiet rein.“

„Und dann? Gibt es irgendwelche Sanktionen?“

„Ach was. Dann bitten wir unseren Vermittler von der Naturschutzbehörde mit dem Landwirt zu sprechen, und das war‘s dann.“

Fraukes Herz schlug schneller. Was Niko dazu gesagt hätte, wusste sie. Er lehnte solche Praktiken ab. Aber wie Hannes zu Fragen des Tierschutzes stand, ob er einen Sinn für Tierrechte hatte, konnte sie noch nicht einschätzen. Er referierte über das Thema Vogeljagd, ohne seine Haltung dazu preiszugeben. Nun, was ging sie seine Meinung an. Es konnte ihr egal sein, was er dachte.

Ein Auto fuhr hupend vorbei. Schlitternd bremste es auf dem Seitenstreifen ab, die Reifen schleuderten Sand und Steine auf. Frauke rieb mit beiden Fäusten ihre Augen. „Idiot“, sagte sie leise.

„Moin, Hannes!“ Ein braungebranntes Gesicht mit stechend hellblauen Augen schaute aus dem Fenster zu ihnen. „Nanu, mit wem bist du denn hier draußen zur Sommerfrische? Weiß Gönna davon?“ Wieherndes Lachen.

„Lass gut sein, Frerk“, Hannes Stimme klang ärgerlich. „Ich bin hier mit unserer neuen Bundesfreiwilligen unterwegs. Koogsbegehung.“ Der Kopf des Mannes schob sich noch etwas weiter aus dem offenen Fenster. Mit seinem Blick maß er Frauke von oben bis unten und pfiff durch die Zähne. Dann gab er Gas, fuhr an und schwenkte die aus dem Fenster gestreckte Hand. Die Reifen seines verbeulten Wagens knirschten auf dem Sand.

„Wer war das denn?“, fragte Frauke.

Hannes zog eine Sonnenbrille aus der Brusttasche seines Hemdes. „Frerk Petersen, der Landwirt mit dem größten Hof hier in der Hollerstedter Marsch. Nicht gerade der angenehmste Zeitgenosse. Weiter?“ Ein Bein bereits über der Stange, wartete er, bis sie aufgestiegen war. Dann radelten sie schweigend weiter. Nach einigen Kilometern bogen sie auf den Damm, eine breite, asphaltierte Straße, die durchs Schutzgebiet zum Meer führte.

„Eine Straße mitten durch die Brutplätze?“ Frauke schüttelte den Kopf.

„Oh ja“, Hannes lachte, „damals, bei der Eindeichung des Wietriffharder Koogs, gab es um die Straße viel Ärger. Die Naturschützer wollten sie nicht. Aber die Anlieger und Grundeigentümer kämpften um die Badestelle am Ende des Dammes, am Nordersiel. Sie wollten mit der Gastwirtschaft unbedingt Gewinn machen. Die Brutvögel wie Säbelschnäbler, Kiebitze, Rotschenkel und verschiedene Entenarten brüten jetzt in den aufgegebenen Gleisen rechts und links vom Fahrdamm. Sie haben sich an den Verkehr gewöhnt.“

„Aufgegebene Gleise?“ Sie hielten kurz und Frauke sah auf das Faltblatt, das der Ranger ihr überlassen hatte.

„Früher fuhr hier die Lorenbahn zur Hallig Wüstmoor rüber. Der Bahnhof wurde bei der Eindeichung nach Nordersiel verlegt.“

„Hallig Wüstmoor, jetzt hab ich sie. Gehört sie auch zu unserem Einsatzgebiet?“

„Genau.“ Hannes zog ein Taschentuch hervor und wischte seinen Nacken trocken. „Langsam wird es wirklich heiß. Lass uns bis zum Kiosk Nordersiel fahren, da machen wir eine Pause und holen uns was zu essen. Dann erzähl ich dir von den Halligleuten. Einverstanden?“

„Ja, sehr gern.“

Etwa in der Mitte des Dammes bremste Hannes jäh. Er setzte sein Fahrrad auf den Ständer und ging gebeugt und mit gesenktem Blick ein Stück der Strecke zurück. Frauke hielt ihr Rad mit einer Hand fest und sah ihm über die Schulter zu. Was suchte er denn? Plötzlich bückte er sich und hielt etwas in die Luft. „Ha! Hab ich doch richtig gesehen!“ Mit triumphierendem Lächeln kehrte er zu Frauke zurück, glättete die Feder in seiner Hand und hielt sie ihr hin. Sie war etwa zwanzig Zentimeter lang, gelbbraun mit unregelmäßig verlaufenden braunen Streifen und dunkeln Tüpfeln. „Ganz was Schönes! Die Schulterfeder einer Rohrdommel. Schenk ich dir.“

Frauke drehte die Feder zwischen Daumen und Zeigefinger. „Danke“, sagte sie und sah Hannes an, „sie ist wunderschön. Als hättest du gewusst, dass ich eine Federsammlung hab. Eine Rohrdommel ist darin allerdings noch nicht vertreten. Ich hab mir vorgenommen, sie hier zu erweitern. Das bietet sich in einem Vogelschutzgebiet ja an.“

Er nickte. „Es gibt auch nicht mehr allzu viele Rohrdommeln.“

„Ich weiß, sie werden auf der Roten Liste als ‚stark gefährdet“ geführt. Es werden immer mehr Tiere.“

„Ist es nicht ein Jammer? Aber immerhin tun wir hier im Wietriffharder Koog etwas für das Überleben der Wildvögel. Übrigens, dir ist sicher bewusst, dass das Federsammeln eigentlich verboten ist. Aber da wir im Naturschutz tätig sind, wird uns niemand deshalb Ärger machen. Ich sammle selbst schon lange, für meine Tochter.“

„Du hast eine Tochter? Wie alt ist sie denn?“

„Sie ist sieben, gerade in die erste Klasse gekommen. Sina, mein Ein und Alles.“

„Und was macht sie mit den Federn?“

„Die klebt sie ein, und ich schreibe dann den Namen des Vogels darunter. Sie interessiert sich sehr für Tiere. Du lernst sie sicher bald kennen, sie ist oft mit mir hier draußen. Jetzt aber zum Kiosk, ich hab wirklich Hunger, und ich denke mal, du auch.“

„Und wie“, sagte Frauke. Vorsichtig verstaute sie die Feder in einer Außentasche ihres Rucksacks. Wenige Minuten später hatten sie den Kiosk erreicht, wo um diese Zeit lebhafter Betrieb herrschte. Es war Flut, daher tummelten sich zahlreiche Badegäste an der Badestelle neben der Lorenbahn.

„Was wächst denn auf dieser leuchtenden Fläche, die sich da am Ufer entlangzieht?“ Frauke deutete nach Süden.

„Das ist Queller, eine ganz besondere Pflanze. Er wächst am Salzwiesenufer der Lagune und ist ein Nachbar der Seegraswiesen. Als amphibisches Gewächs ans Salzwasser angepasst, aber doch schon festlandorientiert. Seine Stängel speichern viel Wasser, damit verdünnen sie das Salz problemlos. Queller wird unter Wasser durch Schwimmpollen bestäubt.“

„Jetzt erinnere ich mich. Ich hab bei meiner Vorbereitung darüber gelesen, hab aber ein hellgrünes Bild der Pflanze abgespeichert.“

„Hier ist immer alles im Fluss! Er beginnt gerade zu blühen, noch ist die Farbe ja eher orange, später im August wird er dann rot bis kastanienfarbig.“

„Er ist auch essbar, oder?“

„Unbedingt. Komm Anfang Juni mal hier raus und pflück dir eine Handvoll. Er schmeckt hervorragend im Salat, schließlich ist er ja schon gesalzen. Einfach lecker und dazu vitaminreich und gesund. Aber jetzt freue ich mich erstmal auf was Ungesundes!“

Sie mussten einige Minuten warten, bevor zwei Plätze an einem Tisch im Schatten frei wurden. Sie bestellten Cola und Wasser. Hannes entschied sich für Currywurst mit Pommes, Frauke für Kartoffelsalat mit Fischfilet. Während sie aufs Essen warteten, fragte Hannes Frauke nach ihrer Familie. Sie erzählte von Jakobs Lehramtsstudium und von Lili, die in Lübeck bei der Großmutter lebte und, um die Zeit bis zu ihrer Zulassung fürs Medizinstudium zu überbrücken, eine Ausbildung zur Schwesternhelferin machte. Von Niko sprach sie nicht.

Als die Gesprächspause zu lang wurde, und Frauke sich unbehaglich zu fühlen begann, sagte sie: „Du wolltest mir etwas über die Hallig Wüstmoor erzählen.“

„Ja, richtig. Also, die Halligleute fahren mit den Loren zwischen ihrem Erdhaufen draußen im offenen Meer und dem Festland hin und her, wie eh und je.“

„Loren? Die kenn ich nur aus dem Bergbau.“

„Mit den Schienenfahrzeugen transportieren sie Urlauber, Tiere oder Waren. Zum Beispiel schicken sie volle Mülltonnen auf einer Lore von der Hallig aufs Festland, und am nächsten Tag holen sie die leeren Behälter wieder ab. Nachdem vor vier Jahren der Damm der Lorenbahn aufgeschüttet wurde, können die Loren tideunabhängig fahren, nur bei Sturmflut nicht. Denn da liegt der Bahndamm schon mal landunter.“

„Wie lang ist er denn?“ Frauke begeisterte sich immer mehr für die Eigenart ihrer neuen Umgebung.

„Die Strecke ist so dreieinhalb Kilometer lang. Bei Ebbe fährt man durch Schlick, bei Hochwasser durchs Meer. Früher wurden die Loren nur durch Wind angetrieben, jetzt haben sie natürlich Dieselmotoren. Die Bewohner von Wüstmoor sind sehr kreativ mit dem Ausbau ihrer fahrbaren Untersätze. Für einige haben sie Anhänger gebaut, für andere richtige Regen- oder Windschutzaufbauten.“

Frauke legte die Gabel an den Tellerrand und sah Hannes an. „Ist schon eine beeindruckende Gegend hier“, sagte sie. „Als ich letzte Woche mit dem Auto hier rauffuhr, dachte ich, ich bin in einer Einöde gelandet. Das flache Land sah so nach Langeweile aus. Aber von wegen! So viele Tiere leben hier, vor allem die verschiedenen seltenen Vögel. Und auch Spuren der Menschen sind überall zu finden. Wildvögel, die an verlassenen Gleisen brüten! Willkommen im Wilden Westen, würde ich mal sagen!“ Sie spießte ein Kartoffelstück auf, steckte es in den Mund und kaute genüsslich.

„Warte erst mal, bis du das Watt kennenlernst! Das ist die echte Wildnis. Die letzte, die wir in Deutschland haben. Und da wir Menschen immer wieder durch Pflegemaßnahmen in die Entwicklung unseres Schutzgebietes eingreifen, nenne ich es gern die ‚kleine Wildnis‘.“

Nach dem Essen tranken sie Kaffee und setzten ihre Besichtigungstour fort. Sie fuhren auf der Krone des Seedeiches. Rechts von ihnen lag das Halligmeer. Es war inzwischen Mittag geworden, und die Sonne brannte weiß am wolkenlosen Himmel. Das Wasser lag hell und still wie eine ausgespannte Folie. Frauke hätte den Anblick gern länger auf sich wirken gelassen, aber Hannes fuhr in raschem Tempo voran. Eine gute halbe Stunde später erreichten sie die Badestelle Westersiel auf der Halbinsel Nordstrand. Hannes ging hinunter zu dem winzigen Strandstück. Der Sand war übersät mit schwarz vertrockneten Algen, Muschelschalen und Federn, mit Schuhsohlen, Scherben, Resten von Kunststofftauen und halben Plastikeimern. „Spülsaummonitoring“, sagte er, bückte sich und hob einen fingerlosen Gummihandschuh auf, „auch das gehört zu deinen Aufgaben. Du musst regelmäßig die Spülsäume abgehen und Ausschau halten nach besonderen Verunreinigungen. Und leider wirst du immer wieder tote Seevögel finden. Schreib bitte alles auf. Der Verein gibt Statistiken über die Funde raus. Damit wollen wir auf die zunehmende Verschmutzung der Meere aufmerksam machen.“ Er schüttelte die Faust mit dem Stück Kunststoff darin. „Dieser elende Plastikmüll! Die fehlenden Finger dieses Gummihandschuhs haben Fische gefressen und verhungern irgendwann mit vollem Magen. Andere sterben gefesselt in unsichtbaren Angelschnüren, die auf dem Meeresboden dümpeln. Was machen wir Menschen nur mit unserer schönen Welt, Frauke?“

Sie sah ihn an. Mit gerunzelter Stirn und verzogenem Mund musterte er das gelbe Stück Kunststoff. „Die Frage ist, was man als Einzelner tun kann.“ Frauke stellte sich neben ihn. „Hast du eine Idee?“

„Aufklären“, sagte er, und seine Stimme klang bedrückt, „was sonst? Nicht müde werden, sondern immer wieder auf die Missstände hinweisen.“ Er klemmte den Plastikfetzen in die Gesäßtasche seiner Jeans, sprang auf die Granitblöcke oberhalb des in der Sielkammer brodelnden Wassers und reichte ihr die Hand. „Komm, es hat keinen Sinn, den Kopf hängen zu lassen. Schauen wir uns das Siel an. Unterschied zur Schleuse ist klar?“

Sie wedelte mit ihrer Hand. „Nicht so ganz. Ich bin zwar im Westharz aufgewachsen und der Harz ist berühmt für seine Wasserwirtschaft; aber wenn du mich jetzt so fragst, könnte ich den Unterschied zwischen Schöpfwerk, Schleuse und Siel nicht definieren.“

„Macht nichts, dafür ist unser Einweisungstag ja gedacht! Also, folgendermaßen funktioniert das Siel: Die Tore öffnen sich bei Ebbe, so kann das Wasser aus dem Binnenland ablaufen.“

Frauke beugte sich über das Geländer. Das Wasser unter ihr tobte, Gischt schäumte und spritzte an den Beckenwänden herauf. Die Waschküche einer Wasserhexe.

„Es rauscht durch die Sielkammer unter dem Deich durch. Das ist dieser Durchlass, den du da unter uns siehst.“ Er bückte sich über die Brüstung und deutete in das tosende Wasser.

„Lass mich raten“, sagte sie wie eine eifrige Schülerin, „und bei Flut schließt sich das zur See hin gelegene Tor durch den Wasserdruck automatisch, sodass kein Meerwasser ins Gebiet hinter dem Deich eindringen kann.“

„Ganz genau. Ein Siel ist für das Entwässerungssystem des Marschlandes unabdingbar, es hat seinen Platz im Deich. Und es ist viel kostengünstiger als ein Schöpfwerk, weil es ohne Antrieb läuft.“

„Tolle Erfindung. Wie lange gibt es das schon?“

„Na ja, in der Wesermarsch hat man mal Überreste eines Siels gefunden, das bei der Großen Mandränke 1362 schwer beschädigt wurde. Man kennt diese Technik also schon lange. Immerhin entstand das erste Bewässerungssystem der Welt um 5500 vor Christus in Mesopotamien. Alles klar?“ Er schlug mit der flachen Hand gegen seine Stirn und schüttelte den Kopf. „Ich wusste gar nicht, dass ich Talent zum Lehrer habe.“

„Unbedingt“, sagte Frauke, „ich bin dir sehr dankbar für all die Infos.“ Lange hatte sie so viel Unbeschwertheit nicht mehr gespürt. Hannes zog Schokolade aus dem Rucksack, schälte Papier und Silberfolie ab und hielt ihr die Tafel hin. „Bei Schokolade kann ich nie widerstehen.“ Sie brach einen Riegel ab, kaute Stück für Stück und leckte die klebrigen Finger ab. Vollmilchnuss, ihre Lieblingssorte.

Nachdem sie aufgegessen hatten, stiegen sie wieder auf die Räder und fuhren über den Mitteldeich, der sich von der Seeseite einmal quer durchs Naturschutzgebiet bis zur Hollerstedter Marsch zog. Nach etwa zehnminütiger Fahrt, nur unterbrochen vom Kreischen der Möwen und melodischen Trällern der Austernfischer, hielt Hannes. Er setzte sich ins Gras und wischte sich über die Stirn. Auch Frauke war Schweiß in die Augen gelaufen, es dauerte, bis sie wieder klar sehen konnte. Das Meer spiegelte die Mittagssonne, unzählige Glanzlichter fügten sich auf seiner Oberfläche zu einem funkelnden Teppich.

„Der Damm, über den wir gerade fahren, ist die sogenannte Mittelverwallung. Im Prinzip ist das ein kleiner Binnendeich, der das Land vor Überflutung durch den künstlich angelegten Salzsee schützt. Die Lagune ist eins der Kernstücke unseres Naturschutzgebietes. Jetzt muss ich etwas weiter ausholen, damit dir die Zusammenhänge klar werden. Magst du noch?“

„Hannes, ich bin so dankbar für deine Erläuterungen. So verstehe ich es doch viel schneller, als wenn ich alles mühsam aus der Literatur klauben müsste. Erzähle!“

„Gut. Die Lagune wird von See her zweimal täglich durchs Norder- und das Westersiel mit einem Tidehub von nur etwa 40 cm Höhe gegenüber dem normalen Hub gespeist. Auf den künstlich aufgespülten Sandinseln brüten seltene Vögel, von denen viele vom Aussterben bedroht sind: Seeschwalben, Säbelschnäbler, Regenpfeifer. Wenn sie bei Ebbe draußen im Watt gefressen haben, können sie bei einsetzendem Hochwasser hier ihre Mahlzeit vervollständigen. Siehst du die große Insel da drüben?“ Er deutete mit dem Zeigefinger übers Wasser. Während Frauke sich vorbeugte, stieß sie mit dem Oberkörper an seine Schulter. Sie zuckte zurück und fühlte, wie sie rot wurde. Hannes wandte ihr sein Gesicht zu. Einen Lidschlag lang lächelte er sie an, dann blies er eine Haarsträhne aus der verschwitzten Stirn und sprach weiter. „Was siehst du da an der seewärtigen Spitze der Insel?“

Frauke war aufgestanden. Sie legte die Hand über die Augen, um besser über das gleißende Wasser sehen zu können. „Seehunde – kann das sein?“ Sie stand auf und nahm ihr Fernglas.

„Genau. Leider auch schon als gefährdet auf der Roten Liste geführt. Sie kommen durch die offenen Siele und sonnen sich dort an der Inselspitze. Es sind so um die fünfzehn.“

„Das ist ja großartig!“ Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Unbedingt wollte sie an einem der nächsten Tage ein Foto von den possierlichen Meeressäugern machen und es Erika und den Kindern schicken.

„Die siehst du in Zukunft jeden Tag“, sagte er leichthin und deutete über das Wasser. „Schau mal, drüben auf der anderen Seite der Lagune liegt die große Salzwiese. Da findest du alle typischen Küstenpflanzen wie Queller und Strandwermut. Siehst du den ausgedehnten violetten Streifen? Das ist Strandflieder.“

„Dieses Lila! Durchsichtig wie Amethyst, zauberhaft!“ Frauke schaute lange schweigend über den See, dann setzte sie sich wieder neben Hannes.

„Es ist unglaublich schön hier. Ich kann verstehen, dass du gern hier lebst. Ich freue mich auf meinen Job und danke dir für die Führung.“

„Schon in Ordnung. Wollen wir weiter? Ich hab noch was in petto.“

Als sie das nächste Mal hielten, fühlte Frauke bereits Muskelkater in den Oberschenkeln. Sie legte das Rad ins Gras und massierte ihre Beine.

„Du wirst dich ans Radeln gewöhnen müssen, das ist hier im Schutzgebiet die beste Möglichkeit, voranzukommen. Autos sind tabu. In ein paar Tagen macht es dir nichts mehr aus.“

„Übermorgen schon nicht“, lachte Frauke, „ich bin immerhin fanatische Joggerin, aber so viel Rad bin ich lange nicht mehr gefahren. In Waldberg mochte ich es wegen der ewigen Steigungen nicht so. Aber hier, auf den flachen Straßen und Wegen und mit der weiten Sicht, da macht es wirklich Spaß!“

Sie saßen nebeneinander im Gras. Frauke schloss die Augen und sog den Duft und die Geräusche ihrer neuen Umgebung tief in sich hinein. „Gibt es hier Zikaden?“, fragte sie mit geschlossenen Augen. Auch Hannes schien die friedliche Mittagsatmosphäre gefangen genommen zu haben, denn er antwortete fast flüsternd: „Das ist keine Zikade, sondern der Feldschwirl. Ein winziges Vögelchen, das man früher auch Heuschreckensänger genannt hat. Du hörst ja, warum. Er lebt fast nur am Boden, fliegt kaum. Wahrscheinlich hockt er da drüben im Röhricht und befragt gerade seine Götter, was für seltsame Gestalten da in seinem Revier rumschleichen …“

Nach einer Weile stand er auf, ging die Böschung hinunter und kam mit einem silberfarbigen Zweig in der Hand zurück. Er hielt Frauke die fiederblätterige, mit kleinen gelben Blüten versetzte Pflanze hin. „Artemisia Maritima. Zerreib ihn mal zwischen den Fingern und riech dran.“

„Hmm, das duftet nach Anis!“

„Es ist eine Heilpflanze. Daraus haben die friesischen Vorväter nicht nur Medizin, sondern auch Schnaps gebrannt. Es wird auch heute noch gemacht. Ist sehr gesund, das Kraut. Der Schnaps aber nur in Maßen.“ Er lachte. „Wollen wir weiter?“ Er wartete, bis sie ihr Rad wieder aufgehoben hatte und neben ihm stand. „So, nun kommen wir zum Herzstück.“ Er wies auf eine Fläche zu ihrer Rechten. „Das Gelände ist eine sogenannte Nullnutzungszone. Es wurde komplett an die Natur zurückgegeben und sich selbst überlassen. Also eine künstliche Wildnis. Seit der Eindeichung hat so gut wie niemand mehr dieses Verwilderungsgebiet betreten. Der Mensch greift hier bewusst nicht in die Entwicklung ein. Ein spannendes Konzept. Man sagt auch Sukzessionsfläche dazu. Der Begriff kommt aus der Biologie und bedeutet, dass bestimmte Pflanzen in gesetzmäßiger Form aufeinander folgen, so die Annahme. Ha, von wegen, was für ein Trugschluss! Als der Wietriffharder Koog 1987 eingedeicht wurde, bestand das Gebiet eine gewisse Zeit aus nacktem Wattboden, aus Schlick, mit allem, was darin lebte. Dann entsalzte der Boden mehr und mehr. Alle erwarteten, Bäume und Sträucher würden sich nun nach der angenommenen Gesetzmäßigkeit ansiedeln.“

„Und das passierte nicht?“

„Nein, es kam ganz anders. Die ersten Rehe wanderten ins Gebiet ein und hielten den Gras- und Distelbewuchs kurz. Allerdings fraßen sie auch die jungen Baumtriebe weg. In dieser Zeit brüteten Feldlerchen und Wiesenpieper im kurzen Gras. Irgendwann wurden die Rehe von Maden befallen, und der gesamte Bestand starb aus. Andere Vögel siedelten sich jetzt an: Rohrdommeln, Blaukehlchen, Bartmeisen. Sie kamen mit den Disteln und Brombeeren, den wuchernden Weidenröschen und dem ausufernden Schilf gut zurecht. Inzwischen ist der größte Teil des Gebietes eine halboffene Weidelandschaft geworden. Nur am nördlichen Rand gibt es noch Schlehdorn-und Haselnusssträucher, dünne Weiden- und Ebereschenstämme, Weißdorn und Wildrosen. Wer weiß, wie es sich weiterentwickelt? Im Laufe der Jahre sind die Biologen mit ihren Prognosen jedenfalls immer zurückhaltender geworden.“

„Spannend“, sagte Frauke. „Ein Gefilde der Seligen.“

Hannes lachte auf. „So kann man es nennen. Im Gegensatz zum bewirtschafteten Land kann die Natur sich in dieser künstlichen Wildnis frei entfalten. Es macht mir Hoffnung, dass sie es unabhängig von allem menschlichen Kalkül tut. Die Natur lässt sich eben nicht berechnen, sondern hat genug Kraft, sich immer wieder neu und unvorhersehbar zu erfinden.“

„Hannes, ich beneide dich um deinen Optimismus.“

„Wer sich für den Naturschutz einsetzt, muss positiv denken. Lamento und Abgesänge ändern nichts. Naturschutz kann nur durch handlungsorientiertes Herangehen gelingen.“ Er sprang auf und streckte die Arme über seine Schultern. „So, jetzt haben wir das meiste gesehen, wollen wir zurück? Oder hast du noch Fragen?“

„Ich werde dich noch oft fragen müssen. Dieses Gebiet ist so vielfältig, vielschichtig. Es wird ein bisschen dauern, bis ich alles verstehe.“

„Immerhin hast du einen ersten Überblick. Und deine Aufgaben kennst du jetzt auch.“

Sie fuhren zurück zum Schöpfwerk. Frauke lud Hannes auf einen Kaffee ein. Er sah auf seine Armbanduhr. „Ein anderes Mal gern, aber ich hab versprochen, meine Tochter nach Husum zum Ballett zu bringen. Bin schon spät dran. Wenn wir morgen wieder losziehen, zeig ich dir die Zaunstellen entlang der Viehweiden, die du regelmäßig überprüfen und ausbessern musst.“

Frauke sah ihm nach, bis er hinter der Biegung verschwunden war. Müde, aber mit duftenden, flatternden und rauschenden Eindrücken erfüllt, ging sie die Treppe hinauf und begrüßte Leo, der sie umkreiste, mit dem Schwanz wedelte und seinen Kopf an ihrem Bein rieb. „Leo, alter Knabe, was kannst du mir über Kampfläufer erzählen? Nichts, du Ignorant!“ Sie kraulte seinen Hals, bis er sich auf den Rücken legte und mit den Pfoten nach ihren Händen tatzte. Dabei schnurrte er wohlig, und als Frauke sein Hundelächeln sah, durchströmte sie ein warmes Gefühl von Dankbarkeit. Sie hatte Glück. Mit diesem Ort hatte sie es gut getroffen. Das Naturschutzgebiet war zauberhaft; und ihr Betreuer ein netter Mensch. Und auch Leo schien es hier zu gefallen.

„Leohund, ich mache eine halbe Stunde Pause, und danach gehen wir in die Marsch, okay?“ Kaum hatte sie sich auf ihrem Bett ausgestreckt, war sie schon eingeschlafen.

Nach der Schafskälte

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