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Das wundersame Unlicht

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Anker und Keli durchquerten den Platz der Stille vor dem über und über mit gigantischen Bäumen und Sträuchern überwachsenen Hauptgebäude der Hochschule. Keli fühlte sich miserabel. Im Grunde genommen wollte sie so rasch wie möglich wieder nach Hildenberge zurückkehren, um nach ihren verschollenen Eltern zu suchen. Endlose Frustration und Kummer stauten sich in ihrem Inneren auf. Stunden hatte sie vor Loyds Krankensaal gewartet, während Anker weg gewesen war, um bei einer Pressekonferenz über das Katastrophengebiet zu berichten. Außer einer Handvoll jüngerer Kinder, die angesichts des einbrechenden Eises von ihren Eltern ins Tal geschickt worden waren, hatten nur Loyd und sie das Unglück überstanden. Die beiden hatten nur ein paar Kratzer abbekommen, doch für die Kinder war das Unglück nicht so glimpflich ausgegangen. Keli kannte zwar alle Verletzten im Krankensaal, hatte den Leuten des Ordnungsamts, die sie nach deren Eltern befragt hatten, aber nur wenig behilflich sein können. Obwohl es sich Keli nicht so richtig eingestehen wollte, konnte sie sich glücklich schätzen, dass Loyd sie mit Altem Sonnenlicht vorübergehend kälteresistent gemacht hatte – sonst wäre es ihr wohl gleich ergangen, wie den von Kopf bis Fuß in Verbände gewickelten und aufgrund von Erfrierungen um ihr Leben ringenden Kindern.

Keli folgte Anker durch eine Allee von wuchtigen Trauerweiden. Für einen Moment erwog sie, sich einfach wegzustehlen und auf eigene Faust ihren Eltern zur Rettung zu eilen. Doch dann lenkten sie moderne Musik und lautes Gebrabbel ab, welches aus unmittelbarer Nähe zu kommen schien. Keli blickte nach links und rechts, um den Ursprungsort des Lärms zu eruieren.

»Das da vorne ist die Lailac-Straße«, ertönte Ankers freundliche Stimme, der sich kurz umgedreht hatte, um nach Keli zu sehen. Keli folgte Ankers Blick und in der Ferne konnte sie erkennen, wie die Straße vor dem Haupttor der Hochschule belebt und hell erleuchtet war. Bevor sie jedoch dorthin gelangen konnten, mussten sie zwischen dem Unigelände und dem Eingang in die von bunten Häuserketten umgebene Straße an einem Wachhäuschen vorbei, an welchem von beiden Seiten her der hohe Schutzzaun rund um das Areal endete.

Keli trottete nun wieder mit ein wenig Abstand hinter Anker her wie ein kleiner Hund hinter seinem Herrchen. Als sie am Sicherheitsschalter vorbeikamen und Anker einem Wachmann seinen Professorenausweis vorlegte, blieb Keli abrupt stehen und verschwand aus Ankers Blickfeld. Der Professor drehte sich verwirrt um. Nach einigen Augenblicken entdeckte er Keli vor einem mit Zierblumen geschmückten und von Moos überwucherten Denkmal und ging schlurfend auf sie zu.

»Keli«, schnaufte Anker laut. »Was ist denn los? Ich kenne gleich in der Nähe eine leckere Strudelbude. Glaub mir, mich kennt man nur an den besten Adressen der Stadt.«

Er schlug sich grinsend mit beiden Händen hörbar auf den gewaltigen Wanst. Keli reagierte nicht auf seine Worte, denn sie war gerade damit beschäftigt, die überwucherten Zeilen am unteren Ende der Statue zu entziffern. Sie bewegte die Lippen und sprach die Wörter fast lautlos in die Luft:

»Dies ist das Denkmal an Dr. Lailac Mondstein, den Gründer der Hochschule von Herbstfeld, Erfinder der Sonnenlichtresorption und Bewahrer des Kaelischen Indexes.

27 V.N. – 29 A.N.

Im Norden liegt die Tugend«

Anker, der neben Keli getreten war, ließ ein langes »Oh hooo« verlauten. »Du interessierst dich für Geschichte? Ich könnte dir wortwörtlich einen ganzen Vortrag über diesen Lailac halten. Obschon man sagen muss – die Sache mit dem Index ist nie bestätigt worden. Aber weil die Regierungsräte so stolz auf unser fortschrittliches Ausbildungssystem sind und seit jeher den anderen Präfekturen ein Vorbild sein wollen, tun sie immer so, als wäre die Legende eine fundierte Begebenheit.«

Keli verstand nur sehr wenig von dem, was Anker da redete. »Was heißt denn V.N. minus A.N.?«, erkundigte sich Keli ahnungslos.

»Hast du das noch nicht in der Schule gehabt? Es bedeutet ›Vor Neuzeit, Ab Neuzeit‹. Der liebe Lailac wurde dementsprechend nicht so alt; genauer gesagt, gerade mal 56. Wenn du willst, kannst du in der Bibliothek gerne mal die Geschichtsbücher der frühen Neuzeit studieren. Keine hübsche Geschichte, was mit Lailac, Mikael und Bao, dem Hundewesen passiert ist – wenn sie denn wahr ist.«

»Und der Kaelistische Index?«

»Kaelischer Index«, korrigierte sie Anker. »Das ist ein Artefakt, von dem niemand so genau weiß, ob es heute noch existiert oder jemals existiert hat. Man nennt ihn auch den ›Unlichtschlüssel von Mikael‹, da die Legenden besagen, dass Urvater ›Mikael McLane‹ – wie er eigentlich richtig hieß – der Zeigefinger abfiel, als er das Unlicht anfassen wollte. Lailac hat Mikaels Finger dann geborgen und mit ihm das Unlicht gebändigt. Danach hat er ihn an einem geheimen Ort versteckt. Er ist bis heute verschollen – so die Legende.«

»Und was ist Unlicht?«

Anker knallte Keli seine große linke Pranke auf die Schulter und sagte geheimnistuerisch: »Das, Mädel, ist eine andere Geschichte. Lass uns jetzt was essen gehen. Ich verhungere noch!« Lachend und mit den Händen auf den Bauch trommelnd, ging Anker von dannen.

Keli schenkte dem Denkmal einen letzten, bewundernden Blick und folgte dem Professor zu den Sicherheitsschranken.

Als sie am Wachhäuschen vorbei waren – Keli brauchte keinen Ausweis, da sie mit einem Professor unterwegs war –, verdrängte die Aussicht auf die breite Straße vorerst Fragen und Missmut aus Kelis Kopf.

Die Lailac-Straße schlängelte sich vor ihren Augen durch zwei kunterbunte Häuserketten, wobei kein Haus dem anderen glich. Allein die Pflanzen und deren Wurzeln, die sich auf den Dächern der Gebäude in all ihrer Farbenpracht präsentierten, verliehen dem Ort eine sehr eigentümliche Aura. Nun wusste Keli auch, was Herbstfeld seinen Namen eingebracht hatte: Der Straßenboden war über und über mit heruntergefallenem Laub bedeckt, was dem Ort eine waldbodenartige Duftnote verlieh. Von allen Seiten waren raschelnde Schritte zu hören, die von den vielen exzentrisch gekleideten Passanten auf der Straße verursacht wurden. Keli machte große Augen beim Anblick der vielen unterschiedlichen Wesen, die durch das knöcheltiefe Laub wateten. In ihrer Heimat Hildenberge gab es nur ganz herkömmliche Menschenwesen: Frauen, Männer und Kinder. In dieser Straße jedoch konnte Keli in vielen Fällen nicht erraten, ob nun eine Frau, ein Mann oder etwas ganz anderes an ihr vorbeiging. Aber sie hatte zunehmend das Gefühl, dass es hier auch keine Rolle spielte. Alle Leute schienen sich so gut zu fühlen und akzeptiert zu sein, wie sie waren. Das lockerte Kelis Gemütszustand etwas auf.

Nach einer Weile raschelnden Marschierens verdeutlichten sich ihre ersten Eindrücke und ließen Keli immer mehr in Staunen geraten. Wie es aussah, war die Lailac-Straße der Mittelpunkt aller Studentenangelegenheiten. Es gab Cafés, Fastfood-Ketten und Kleiderläden, in denen unter anderem die neusten Akademieschals ausgestellt waren, welche die Lernenden stolz wie Umhänge trugen. Hinzu kamen gewaltige, vielstöckige Buchhandlungen und Wesen-Spas, in denen sich laut farbenfrohen Werbetafeln international gesinnte Studenten mit Wesen aus aller Welt in heißen Thermalbädern trafen, um über das Leben und seine Vielfältigkeit zu philosophieren. Und natürlich gab es Pubs, Bars und Clubs, welche für viele der Hauptgrund zu sein schienen, in dieser Gegend überhaupt zu verkehren.

Es war Abend geworden und Laternen in warmen Rot- und Blautönen beleuchteten die Schriftzüge an Restaurants und Bars, vor denen Leute an runden Stehtischen tranken, rauchten und heiter schwatzten. Keli schloss für einen Augenblick die Augen, sog die frische Abendluft ein, die wie in den unterirdischen Wintergärten Hildenberges würzig nach regennassem Erdboden roch und schlug die Augenlider wieder auf.

Sie fühlte sich auf einmal, als hätte sie nicht genug Augen und Ohren, um all die interessanten Ereignisse um sich herum zu erfassen und zu verarbeiten. Nie war sie an einem solchen Ort gewesen. Zweimal in ihrem Leben war sie mit ihren Eltern nach Lichterloh gereist – der Hauptstadt der Präfektur, die ebenfalls Lichterloh hieß. Dazumal war sie aber nur von Hildenberge ins Tal gerutscht, hatte von dort die Wasserbahn nach Lichterloh-City genommen und war dann von Onkel Nonpe abgeholt worden. Viel hatte sie vom Stadtleben damals nicht mitbekommen und Lichterloh hatte sie auch viel zu geräumig in Erinnerung. Hier in Herbstfeld gefiel es ihr deutlich besser. Die farbenfrohe Atmosphäre mit dem heiteren Gesprächspegel und den verschiedenen, berauschenden Gerüchen in der Luft, denen unbedingt nachgegangen werden sollte, hier könnte sich Keli wohlfühlen – wäre das Desaster in meiner Heimat nicht passiert, dachte sie, plötzlich wieder von ihrem Kummer eingeholt. Sie schritten an einer Bar namens »Zur Lauten Stille« vorbei, wo gerade eine Party am Laufen war. Allerlei Wesen mit hohen Biergläsern in ihren Händen, Pfoten und Klauen feierten ausgelassen in und um den Laden herum. Neugierig warf Keli, während sie sich einen Weg durch die Feierwütigen bahnten, einen Blick auf eines der Gesöffe, das vor einer großen, kurzhaarigen Frau mit übergeworfenem purpurfarbenem Schal auf einem Stehtisch stand. Anker drängte sie mit seinem Kugelbauch weiter, wobei sich die Augen der Frau kurz mit denen von Keli trafen. Die Frau, sich von der Musik inspiriert leicht hin- und herwiegend, blinzelte ihr mit roten Wangen wohlgesinnt zu, und schon waren Zwerg und Riese im nächsten Wesenauflauf verschwunden.

»Siebbier«, verkündete Anker lässig. »Dafür bist du noch zu jung, aber das Zeug ist echt lecker. Muss ich zugeben.«

»Siebbier?«

»Jou. Du kippst irgendwelche Früchte oder Kräuter in ein hohes Glas und klemmst das Zeug mit einem kleinen Sieb unten im Glasboden fest. Dann schenkst du dir ein billiges Bier ein und tada: Schon hast du das beste und preiswerteste Studentengebräu aller Zeiten.«

»Oh, das klingt gut.«

Anker warf einen kurzen Seitenblick auf Keli.

»Deine Eltern würden es wahrscheinlich nicht gutheißen, wenn ich dir die Gaumenfreuden der Erwachsenenwelt schmackhaft machte.«

Keli schwieg. Nach einer Weile sagte Anker schließlich: »Es tut mir leid, Keli. Ich hätte deine Eltern nicht erwähnen sollen.«

»Nein, ist schon in Ordnung. Ich habe nur einen gewaltigen Hunger. Das ist alles.«

»Ach, wenn das so ist! Dann sind wir hier genau richtig«, dröhnte Anker fröhlich. Er schien sich wie Keli in dieser Straße beflügelt zu fühlen. Sie standen vor einer langen Warteschlange, die aus einer Imbissbude herausführte.

»Ich kann das nicht bezahlen«, gab Keli ein wenig beschämt zu bedenken.

»Ach was! Du bist natürlich mein Gast. Solange du und dein Bruder in meiner Obhut seid, seid ihr selbstverständlich herzlich von mir eingeladen.«

Keli fiel ein Stein vom Herzen, denn sie hatte begonnen, sich neben ihrem Kummer um ihre Eltern wegen einer Unterkunft und Verpflegung Sorgen zu machen. Anker schmunzelte einen Augenblick lang verstohlen zu Keli hinüber, dann schlug er mit seinem aufdringlichen Bauch eine breite Schneise in die Menge vor ihnen. Er warf zwar lauthals mit Entschuldigungen um sich, doch er drängte sich immer weiter vor, Keli mit verdutzter Miene dicht hinter ihm.

»Du musst lernen, dass die Welt nur so lange fair ist, wie du sie so siehst. Um im Leben erfolgreich zu sein, musst du als allererstes die Welt für dich selbst zu einem fairen Ort machen«, erklärte Anker grinsend an Keli gewandt, so leise, dass es die Umstehenden nicht hören konnten. Nun war es Keli, die schmunzelte. Einen Mann wie Anker hatte sie freilich noch nie getroffen. Anker verdrängte noch ein paar weitere Studenten, die er von hinten mit seinem zudringlichen Ranzen anstieß, sodass diese sich zuerst empört umdrehten, ihm dann aber, als sie erblickten, wen und vor allem, was sie vor sich hatten, wissend lächelnd den Vortritt ließen.

»So, Keli. Worauf hast du denn Lust?«

Sie standen vor einer hohen Theke, hinter der mehrere uniformierte Leute hin und her flitzten und hungrige Kunden bedienten. Sie händigten einer Reihe wartender Wesen abseits der Theke schmale Kartonschachteln aus. Als Keli den Kopf hob, sah sie über den Angestellten verschiedene visuelle Darstellungen von Gebäcken.

»Was darf’s denn sein?«, meldete sich ein junger Mann mit einem zurückgebundenen Pferdeschwanz und einer grünen Mütze obendrauf. Obwohl er freundlich wirkte, sah man ihm an, dass er unter Stress stand und wahrscheinlich mehr arbeitete, als gut für ihn war. Der ganze Oberkörper des Mannes, der in Kelis Blickfeld fiel, schien seltsam verschwommen und trüb. Keli, die vom Äußeren des Mannes abgelenkt war, erschrak, als Anker ihr die Hand auf die Schulter legte.

»Das ist eine Strudelbude«, verkündete er sichtlich glücklich. »Es gibt verschiedene Strudellängen und Inhalte, aus denen man wählen kann.«

Er richtete seinen Blick wieder auf den Mann mit dem gebundenen Haar.

»Ich, zum Beispiel, hätte gerne die volle Länge, mit den Abschnitten Wasabiforelle, Kreuzkümmelkäse, Teriyaki Chicken mit scharfer Mayonnaise, und der Dessertschicht Zimtapfel mit Haskap-Beerencreme.«

»Sehr gerne«, erwiderte der Mann.

Keli machte große Augen.

»Und Sie, werte Kundin?«

Das galt Keli, die hinter Ankers Hintern hervorlugte wie ein kleines Mädchen.

»Ähm, ja –« Sie las von den Tafeln ab: »Viertellänge mit Wasabiforelle.«

Anker wandte sich zu ihr hin. »Ist das alles?«, fragte er bestürzt.

»Ja, ich denke schon«, meinte Keli zögernd.

»Das macht 7.50 Lichtbit«, sagte der Mann am Tresen freundlich.

Anker klatschte seine korpulente Hand auf eine kleine Plattform über dem Tresen. Ein Piepton war zu vernehmen und damit war die Bezahlung abgeschlossen. Keli und Anker traten ein paar Schritte zur Seite, damit die Leute hinter ihnen ihre Bestellungen aufgeben konnten. Keli sah, wie neben dem trüb aussehenden Mann Strudelteige auf eine Abstellfläche geschmissen und quer aufgeschnitten wurden.

»Herr Ankerbelly«, begann Keli so leise, dass nur Anker sie hören konnte. »Der Mann da; er sieht so komisch aus. Was ist mit ihm?«

»Wie bitte? – Ach sooo, du meinst die milde Schwärze? Das ist normal. Jeder, der das Licht in seinem Körper nutzt – und das ist in den Städten praktisch nicht zu umgehen – muss arbeiten, um wieder auf einen hellen Zweig zu kommen. In den Städten wird heute fast alles mit Altem Sonnenlicht, also der Währung ›Lichtbit‹, bezahlt, verstehst du? Von der Wohnungsmiete, über öffentliche Verkehrsmittel, bis hin zu den Strudeln in diesem Laden. Und Herbstfeld ist noch harmlos. In Lichterloh gibt es Quartiere, da sind die Leute kaum noch erkennbar, so trüb sind ihre Auren. Das heißt für dich übrigens, dass du im Notfall für Essen und Unterkunft sogar für eine Weile selbst aufkommen könntest. Ohne Lichtkonto könntest du dich danach allerdings nicht mehr aufladen. Darum bist du bei mir, bis auf Weiteres, sicher am besten aufgehoben.«

Anker zwinkerte Keli wohlwollend zu. Keli war nicht an die Präsenz von Menschenwesen, die eine solch negative Kraft ausstrahlten, gewöhnt. Die Aura, welche den Mann am Tresen umgab, ließ die Trübsal um ihre Eltern erneut aufwallen. Keli sah missmutig zu, wie Strudelteige aufgeschnitten, nach oben aufgeklappt, dann mit verschiedenen Zutaten beschichtet, zugeklappt, und schließlich in lange, glühende Öfen befördert wurden. Nach zirka zwei Minuten wurden diese wieder geöffnet und die golden gebräunten Gebäcke erneut auf der Abstellfläche abgelegt und anschließend in röhrenförmige Schachteln gepackt. Das alles geschah in atemberaubender Geschwindigkeit.

»Hier, bitte.« Eine junge Frau übergab ihnen die heißen Schachteln. Anker nahm die meterlange, aber nur wenige Zentimeter breite Papiertüte entgegen und wandte seinen Bauch in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen waren.

»Komm, ich weiß einen guten Ort, wo wir uns die Dinger reinziehen können«, sagte Anker munter.

Für einen so dicken Mann war der Professor ungewöhnlich gut auf den Beinen, dachte Keli, als sie ihm im Laufschritt bis zurück vor das Hauptgebäude der Hochschule folgte. Als Anker stehen blieb, erklärte er theatralisch: »Hier unterrichte ich. Nun, eigentlich nur zwei Tage die Woche und auch nur dann, wenn ich nicht gerade auf einer Expedition bin – also eigentlich fast nie.« Anker gluckste amüsiert über seinen eigenen Scherz.

Keli, die noch keine Gelegenheit gefunden hatte, sich für das Abendessen zu bedanken, keuchte außer Atem: »Ich find’s toll hier. Und vielen Dank für den Strudel.«

»Ach, nicht der Rede wert. Du kannst auch bei mir in meinem Haus übernachten, wenn du willst. Bei Loyd vor dem Krankenzimmer auf einem Stuhl zu schlafen, würde ich dir nicht empfehlen – nur wenn dir der Sinn nach einem verspannten Rücken steht.« Anker gluckste erneut, dann sagte er: »Komm, lass uns aufs Dach gehen.«

Er schritt voraus und ließ die automatisierten Türflügel vor ihnen nach beiden Seiten aufschnellen, indem er seinen Professorenausweis an eine Scanfläche neben dem Eingang hielt. Keli folgte ihm in die hohe Eingangshalle. Drinnen roch es nach Büro und Teppich. Mehrere Glasvitrinen mit ausgestellten Raritäten und Plakaten darin begrüßten sie. Obwohl es Keli interessiert hätte, was es da zu sehen gab, bog Ankers Bauch links in einen langen Gang ein, in dem es jeweils im Vier-Meter-Abstand Türen gab, von denen einige offenstanden. Weiter vorne verschwand Anker hinter einer Biegung. Als Keli aufgeholt hatte, fanden sich die beiden vor einem Fahrstuhl wieder, der sich prompt öffnete. Der Aufzug beförderte sie fast lautlos und in wenigen Sekunden in das offene Dachgeschoß. Die Fahrstuhlschranken verzogen sich auf beide Seiten und Anker, der praktisch dessen ganzen Innenraum für sich allein beansprucht hatte, trat voran.

Draußen war es Nacht geworden. Als Keli an die frische, kräuterträchtige Luft trat, bot sich ihr ein erstaunliches Bild. Sie durchquerten eine kniehohe Wiese, in der alle möglichen Gräser und Blumen wuchsen. Keine Pflanze schien der anderen zu gleichen. Die Gewächse waren erhellt durch kleine Insekten, die auf den Pflanzen hockten und den Platz idyllisch erstrahlen ließen. Die bunt glühende Atmosphäre hatte etwas an sich, das Keli als »romantisch« gedeutet hätte. Die Wiese war nicht sehr groß, aber umsäumt von einem Ring aus Sträuchern und Bäumen. Anker drehte sich rasch nach hinten, um nachzusehen, ob Keli ihm folgte.

»Das hier sind alles Pflanzen, die wir von unseren Expeditionen mitgebracht haben«, erklärte er Keli. »Eine getrocknete Probe wird immer ins Archiv einsortiert und weitere Spezimen pflanzen wir hier oben oder in Wäldern um die Uni herum an, und zwar mit ihren ›Kunden‹ zusammen.«

Keli blieb vor dem wartenden Anker stehen, woraufhin sich dieser wieder umdrehte und auf den ersten einer Reihe von Setzsteinen mitten in der leuchtenden Wiese zusteuerte.

»Was meinen Sie mit Kunden?«, fragte Keli verwirrt, als Anker seine Erklärung nicht von sich aus vervollständigte.

»Jo, das ist eine bedeutende Frage«, sagte Anker, sich ein wenig tollpatschig über die Steine bewegend. »In der Lehre der Biodiversität werden Insekten, die man hier oben, aber auch sonst überall findet, als Kunden der Pflanzen bezeichnet. Aber nicht nur Insekten; alle Organismen sind Wirte und alle Wirte leben durch ihre Kunden, ähnlich wie bei unserer Wirtschaft. Ohne Kunden kann ein Unternehmen nicht bestehen, wie auch jedes Leben nur mit seinen natürlichen Kunden gedeihen kann, nicht? Darum sagt man ja auch, dass das erste Leben sich wohl nicht selbst erwirtschaftet haben kann – Interdependenz, verstehst du? Hoppla!« Anker stolperte und machte einen Schwenker links ins Gras. Einige funkelnde Insekten surrten dem Nachthimmel entgegen.

Keli hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Sie hüpfte von einem unförmigen Setzstein zum nächsten, musste aber immer wieder warten, bis Anker sich auf die Steine zurückgehievt hatte. Jenseits der Wiese konnte Keli warme, rötliche und bläuliche Lichtstrahlen wahrnehmen, die von der Stadt her durch das Laubwerk hindurchbrachen. Als Keli ihren Blick über den Ring von Bäumen am Rand der Wiese schweifen ließ, hielt sie auf einmal den Atem an. Mit zugekniffenen Augen erspähte sie zwischen den Büschen einige verborgene Sitzbänke, auf denen sich im Schatten herabhängender Äste Studentenpärchen umarmten und küssten.

»Hier durch«, bedeutete ihr Anker unauffällig, machte eine auffordernde Handbewegung und verschwand zwischen ein paar dicken Wurzeln und Gestrüpp.

Keli hüpfte hastig auf den letzten Setzstein und stieß am Ende der Wiese durch das Buschwerk. Als sie den mit Blüten übersäten Zweig aus ihrem Sichtfeld wischte, klappte ihr jäh der Mund auf. Eine märchenhafte Aussicht bot sich ihnen. Sie hatten Ausblick auf die Lailac-Straße mit all ihren bunten Häusern, krummen Dächern und Kuppen. Dahinter wurden die Gebäude immer höher und gingen in einen strukturlosen Ring von Lichtquadraten aus beleuchteten Fenstern über, der hunderte Meter in die Nacht hineinragte. Die himmlischen Scheiben über ihnen wurden nun nicht mehr durch das Alte Sonnenlicht aus den umliegenden Sonnenlöchern erhellt, sondern durch den Schein der unzähligen Städte und Dörfer im Ring um die Urstadt Kael herum, welche tagsüber Licht gesammelt hatten und es nun auf die Scheiben zurückwarfen. Nur ganz schwach schimmerten die runden Sphären in Regenbogenfarben über der Stadt und ließen den Nachthimmel in schlichter Pracht erglimmen.

Auf den ersten Blick schien es Keli, als vermöge einzig die ferne Wolkenwand, die im Norden dort weilte, wo bei klarem Wetter vermutlich die Hildenberge zu sehen gewesen wären, der Herrlichkeit des Nachthimmels zu trotzen. Als Keli den Kopf nach Süden wandte, erkannte sie in der Ferne einen mächtigen schwarzen Schemen, der sich am Horizont in die Länge zog.

»Toll, nicht wahr?«, erriet Anker Kelis Impressionen und stapfte auf eine leere Sitzbank mit Sicht auf die Stadt zu. Er setzte sich mit einem Rums und begann mit seiner, für seinen massigen Kopf verhältnismäßig kleinen Nase, an der Papiertüte in seinen Händen zu schnuppern.

»Es ist – unglaublich«, stimmte Keli leise zu, ihre Augen fest auf die dunkle Struktur im Süden fixiert. »Herr Ankerbelly, ist das da drüben vielleicht der Schwarze Vorhang?«

»Oho! Gut erkannt. Aber bitte nenn mich doch einfach Anker oder bei meinem Vornamen Don, wie das alle tun, ja?«, bot Anker freundlich an. »Jo, der berühmte Schwarze Vorhang«, begann er nun wieder an der Papiertüte hantierend, »oder in akademischen Kreisen manchmal auch ›der unvollendete Unlichtwall der Urstadt Kael‹ genannt. Ich nehme jetzt mal an, du weißt, dass sich hinter den Gemäuern das Geschwärzte Zentrum von Kael befindet; ein Ort, der oft als das pure Grauen bezeichnet wird. Dabei muss ich gestehen, dass die Leute nicht ganz Unrecht haben. Anders als die Schwätzer allerdings, bin ich doch schon einige Male dort gewesen, um die Überschwärzung und das Unlicht zu studieren. Danach habe ich immer Wochen gebraucht, um mich von den Expeditionen zu erholen. Tja, und genau dorthin muss ich jetzt so schnell wie möglich, und zwar am besten zusammen mit deinem Bruder, Loyd. Er ist wirklich ein großartiger Forscher.«

»Ich habe die Mitteilung gehört, die Sie Loyd vor dem Unglück zugesandt haben. Sie hat in meinem Zimmer Halt gemacht, als hätte die Lichtmail sich verirrt. Ich habe sie empfangen und sofort Loyd weitergereicht, als ich hörte, von wem sie war. Sie sagten, Sie hätten irgendetwas Ungewöhnliches in Kael gefunden oder so.«

»Ganz die Schwester von Loyd«, sagte Anker anerkennend. »Jo, wir haben Daten aus den Forschungsstationen im Zentrum erhalten, die unbedingt verifiziert werden müssen.«

Ankers Stimme wurde dumpf, und Keli bemerkte ein Rascheln neben sich. Sie drehte ihren Kopf und sah, dass Anker eine Strudelbox aus der Papiertüte gezogen hatte. Keli setzte sich ans äußerste Ende der Bank, wo neben Anker noch ein paar Zentimeter Raum geblieben waren.

»So – hier. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um die wichtigen Dinge im Leben. Lass es dir schmecken!«

Anker reichte Keli strahlend den bei weitem kürzeren Strudel. Die Verpackung ließ sich ganz einfach seitwärts aufklappen. Aus der Schachtel strömte Keli der himmlische Duft der frischen Backware entgegen. Urplötzlich wurde sie von dem herrlichen Geruch überwältigt und biss sogleich in das in ihren Händen nahezu schmelzende Blätterteiggebäck. Sie schloss die Augen und begann zu kauen. All ihr durch Kummer und Sorgen unterdrückter Appetit kehrte augenblicklich zurück.

Ob sie es nun wollte oder nicht, Kelis Geschmacksknospen feierten die Einweihungszeremonie in die kulinarischen Gaumenvergnügen Herbstfelds. Etwas so Gutes hatte sie wahrlich noch nie gekostet. Alles, was Keli kannte, waren saisonales Wintergartengemüse, Sauerteigbrot vom Dorfbäcker, Macadamianüsse, Haskap-Beeren, Holundersirup und flockiger Tofu. Wenn die Gemüseernte erfolgreich verlaufen war, erstanden ihre Eltern ein wenig muffeliges Siedfleisch, Kichererbsen und Süßkartoffeln vom Wochenmarkt, wo sie auch ihr überschüssiges Erntegut verkauften. Doch kombiniert mit der Aussicht hier oben, war dies mit Abstand das beste Mahl, das sie jemals zu sich genommen hatte.

Sonst war sie ja auch immer unter dieser zermürbenden Eisdecke begraben gewesen. Die Sicht in die von Rätseln und Mysterien erfüllte Ferne entfachte in Kelis Brust eine wachsende Flamme. Was hatte es mit den finsteren Mauern auf sich? Wie groß waren sie wirklich? Und was geschah gerade hinter deren streng bewachten Grenzen, das das Leben hier fernab vom Unheil der Vergangenheit so in Sorge zu versetzen vermochte?

»Und, schmeckt’s?«, dröhnte Ankers passionierte Stimme undeutlich herüber. Er schmatzte geräuschvoll und lugte mit Händen und Strudel am Mund zu Keli hinüber.

»Ich habe noch nie etwas so Gutes probiert. Ich wünschte, sowas könnte ich jeden Tag essen«, antwortete Keli schüchtern.

Anker war schon fast am Ende seines Strudels angelangt. Er sog das Gebäck förmlich in sich hinein. Keli nahm einen weiteren Bissen, musste aber sofort heftig husten und prusten. Etwas hatte ihre linke Schulter berührt. Mit tränenden Augen fuhr sie herum. Sie konnte nichts erkennen. Vielleicht war es ein Insekt gewesen? Anker blickte Keli leicht besorgt an, rieb sich dann aber mit dem Handrücken genüsslich den Mund. Ein gewaltiger Rülpser übertönte Kelis Ringen um Luft.

Keli, die Ankers plötzliche Körperausdünstung sonst vielleicht sogar lustig gefunden hätte, spähte noch immer mit banger Miene zu den von der Stadt her nur spärlich erhellten Bäumen. Einer der Stämme war so breit wie ihre Wohnstube in Hildenberge. Der Baum musste viele hundert Jahre alt sein. Einige Wurzeln waren so dick wie Anker selbst. Sie ragten etwas abseits von ihnen schwer und stark über das Gebäudedach hinaus. Es bewegte sich etwas in der Dunkelheit, was die bereits unter Hochspannung stehende Keli hochschrecken ließ. Ein armdicker Ast, übersät mit vielen kleinen ovalen Blättern, rückte langsam, aber deutlich in ihre Richtung.

»Uaah! Herr Ankerbelly. Der Baum da bewegt seine Äste.«

Von Angst gepackt fiel Keli rücklings über die Bank und ließ ihren halb verzehrten Strudel fallen.

»Ho-ho-ho. Kein Grund zur Sorge. Das ist nur Shidare, eine alte Hängekirsche. Sie ist einer der ältesten Bäume, die es überhaupt gibt; genauer gesagt, eintausend und acht Jahre alt. Und wenn ein Baum so alt wird, kann es durchaus mal vorkommen, dass er sich ein wenig die Beine vertreten möchte.«

Als sich Keli wieder aufgerappelt hatte, beobachtete sie ungläubig, wie der äußerste Wipfel eines Astes sich gemächlich an ihr Schulterblatt herantastete.

»Und was tue ich jetzt?«, fragte Keli verunsichert.

»Sie macht nichts, sie ist bloß ein bisschen neugierig, wie immer. Aber ich muss gestehen; ich sehe sie zum ersten Mal den Kontakt zu jemandem suchen, den sie nicht kennt.«

Der Ast strich Keli, die etwas überrumpelt dastand, langsam über den Nacken. Dann blieb die Spitze des Zweiges auf Höhe ihrer Brust hängen, als ob sie ihr die Hand geben wollte. Anker stand verwundert auf, um das Schauspiel zu verfolgen. Nach einem Augenblick des Zögerns hob Keli ihre linke Hand und hielt sie auf die Höhe des Zweigendes. Der blättrige Zweig strich behutsam über die Handfläche von Kelis vierfingriger, linker Hand und begann, diese sanft zu umwinden. Keli spürte ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend. Sie merkte nicht, dass Ankers Kinnlade heruntergeklappt war. Eine undefinierbare Stimme, die tief aus Kelis Innerem zu kommen schien, sprach langsam und nachdrücklich:

»Du, die sich des Spiegels erhaben wähnt – dies ist deine Prüfung. Du, die sich sowohl des Wohles aller dienlich zeigt als auch standhaft des Lasters ledig bleibt: Sollest du meiner Kinder habhaft werden und bedingungslos nach Frieden streben, dein soll sein, was mein einst war, was Gutes scheidet von Bösem klar. Vier Beeren es sind, so alt wie ich, Schnee, Stachel, Blau und Wein sie heißen schwesterlich. Doch sei gewarnt: Dein Scheitern wird das Scheitern aller sein, folge stets dem Lichte nur und bleibe des Herzens ewig rein.«

»Keli! Deine Hand – dann ist es also doch …«, stammelte Anker aufgeregt.

Keli, die ihre Augen geschlossen gehalten hatte, während sie der Stimme gelauscht hatte, schien eben aus einem Trancezustand aufzuwachen. Sie blickte zuerst auf Ankers fassungslose Miene, dann hinab auf ihre immer noch umwickelte Hand; dann zurück zum Professor. Sie war mehr als nur verwirrt.

»Was – war das für eine Stimme?«, murmelte Keli mehr zu sich selbst, denn eigentlich war ihr klar, dass es der Baum gewesen sein musste. Zugleich schossen ihr tausend andere Fragen durch den Kopf. Von wem war diese Nachricht? War sie von dem Baum selbst, oder hatte sie jemand anders dort hinterlassen. Shidare war über eintausend Jahre alt. Wer würde ihretwegen vor so langer Zeit eine Botschaft hinterlassen haben? Vielleicht hatte der Baum einfach den falschen Empfänger erwischt – aber wie sollte sie ihn danach fragen?

Dafür war es nun ohnehin zu spät, denn der Zweig löste bereits seinen Griff und zog sich Richtung Baumkrone zurück. Endlich fand Anker wieder zu seiner Stimme: »Mann, oh, Mann! Warum habe ich es erst jetzt bemerkt: Du hast auch eine vierfingrige Hand, Keli! Weißt du, was das bedeutet?«

»Äh, nein«, erwiderte Keli wahrheitsgetreu und noch halb benommen.

»Dein Bruder hat auch nur vier Finger an der linken Hand. Ich meine, es bedeutet – möglicherweise –, dass Loyd und auch dir nicht per Zufall ein Finger an der linken Hand fehlt; dass ihr beide – wahrscheinlich – als einzige bekannte, noch lebende Menschenwesen in der Lage sein könntet, Unlicht zu berühren, ohne dass sich euer Gewebe dabei gleich auflöst. Es ist zwar eine unbestätigte Theorie, welche nur in alten Schriften der frühen Neuzeit beschrieben ist. Aber wenn sich mein Verdacht bewahrheiten sollte, dann könntet ihr – ja, ihr könntet den Laternenwald vielleicht dereinst vor einem fatalen Schicksal bewahren. Keli, ich begreife nicht, warum Loyd mir nie gesagt hat, dass seine Schwester auch nur vier Finger an der linken Hand hat. Gibt es in eurer Familie noch andere Verwandte, bei denen das so ist?«

Keli, die noch nicht gänzlich aus ihrem Dämmerzustand erwacht war, konnte Anker nicht ganz folgen. Nur, dass Loyd sie wieder einmal in den Schatten gestellt hatte, das hatte sie mitbekommen.

»Ich und Loyd sind, glaube ich, die Einzigen in der Familie, die nur vier Finger an einer Hand haben. Aber warum ist das wichtig?«

»Es ist wichtig, weil – laut der Legende von Mikael und Lailac können vierfingrige Menschenwesen, wenn sie in direkter Linie von Lailac abstammen, Unlicht anfassen, ohne, naja – dass sie dabei die Finger verlieren. Nur sind heute keine Menschenwesen, die diese Gabe besitzen, mehr bekannt.«

Keli nickte bedächtig, aber in Wahrheit interessierte sie fast mehr, was der Baum ihr eben mitgeteilt hatte. Ob Anker die Mitteilung wohl auch gehört hatte?

»Ok, du musst dir das so vorstellen«, fuhr Anker überschwänglich fort. Seine Professorenseite schien sich bemerkbar zu machen. »Du weißt, warum Kael, die Urstadt, auch ›das Geschwärzte Zentrum‹ genannt wird?«

»Hm«, machte Keli abwesend. »Ich glaube, weil es dort stockdunkel ist und keine Leute mehr darin wohnen können?«

»Korrekt. Der Grund dafür ist simpel: Die Wesen, die vor ungefähr sechshundert Jahren Kael bevölkerten, sogen dem Ort die letzten Reste Licht aus, sodass kaum mehr Leben darin gedeihen konnte. Auch das Licht, welches von den umliegenden Sonnenlöchern in die Stadt transportiert wurde, reichte nicht mehr aus, um die Wesen, Pflanzen und schließlich die Umgebung zu erhellen. Und nicht nur das, voller Verzweiflung sogen die Bewohner einander sogar gegenseitig die letzten Lichtreste aus den Leibern. Wesen wurden versklavt. Man begann, schlimme Dinge zu tun, nur um an ein bisschen Altes Sonnenlicht zu kommen. Irgendwann – und der gesamte historische Ablauf ist heutzutage leider nur wenigen bekannt – kam es in der Metropole zur ›Überschwärzung‹. Neben der tugendlosen Lebensweise, welche der Gesellschaft erheblichen Schaden zugefügt hatte, machte sich nun ein noch viel schlimmeres Problem bemerkbar: Zu einem umstrittenen Zeitpunkt wurde in den zentralen Regionen der Stadt, wo die Umgebung durch die Überschwärzung besonders gelitten hatte, eine Substanz entdeckt, die jegliche Materie rapide zu zersetzen vermochte.«

Anker sah Keli etwas verwirrt dreinschauen und versuchte es mit anderen Worten: »Um es einfacher auszudrücken, an den finstersten Orten der Stadt, wo die Überschwärzung am schlimmsten war, wurde ein unheimlicher Stoff vorgefunden, der seine Umgebung restlos in pure Energie auflösen konnte. Also, wenn man seine Hand in das Zeug reinsteckte, musste man damit rechnen, dass man nur noch einen Stummel wieder rauszog und das Gewebe zu Unlicht zerschmolz. Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass dies damals ein ziemlicher Schock für die Einwohner Kaels war, als sie davon erfuhren.«

»Unlicht?«, vermutete Keli, die plötzlich Verdacht geschöpft hatte. Sie kannte den Begriff ›Unlicht‹ zwar nur aus Büchern, vom Hörensagen und vom Denkmal am Platz der Stille, aber etwas sagte ihr, dass das, was Anker eben beschrieben hatte, Unlicht sein musste. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte ihr Loyd einmal erzählt, dass es im Innern des Zentrums »schwärzer als die Nacht« sei, aber nie hatte sie wirklich jemand über die Ursachen und Konsequenzen der Überschwärzung aufgeklärt. Ob ihre Eltern überhaupt davon gewusst hatten?

»Unlicht, genau! Das hast du jetzt aber schnell kapiert«, lobte Anker sie.

Keli sah etwas verlegen drein.

»Das Auftauchen des Unlichts hatte die Gesellschaft damals in Unruhe versetzt. Kannst du dir vorstellen, warum?«

Weil Keli nachdenklich in die Ferne blickte und nichts erwiderte, fuhr Anker fort: »Ganz einfach. Weil das Unlicht sehr ausführlich in religiösen Dokumenten der frühen Neuzeit beschrieben wird. Bei der Legende über Mikael und Lailac, von der ich dir beim Denkmal vorhin erzählt habe, geht es ja auch um das Unlicht. Laut dieser Urlegende haben die wenigen Überlebenden der universalen Fusion es in den ersten Wochen der Neuzeit doch tatsächlich fertiggebracht, bereits das erste Unlicht zu fabrizieren. Und wenn es einmal entstanden ist, wird es nie wieder ganz verschwinden. Lailac hat das entstandene Unlicht in sich aufgenommen und es bis kurz vor seinem Tod in sich getragen. Damit soll er inmitten des Laternenwalds vor rund eintausend Jahren diese Hochschule mitsamt Wohnanlagen erbaut haben, fernab aller Augen und Ohren der anderen Urväter und -mütter. Wie sein Freund Bao Wao, das Hundewesen, wollte er eine eigene Ausbildungsstätte aufbauen, um sein Wissen weiterzugeben. Es haben sich ihm auch einige der Überlebenden angeschlossen, mit dem Ziel gemeinsam herauszufinden, was der Laternenwald für ein Ort war und nach Antworten zur Fusion zu suchen. In der Nähe von Kael selbst, wo sich die meisten Überlebenden in der Obhut von Urvater Mikael niedergelassen hatten, errichtete Lailac bloß ein kleines Häuschen zu Unterrichtszwecken, welches die Bewohner Kaels regelmäßig frequentierten, um sich zu bilden, denn Lailac war in der Vorzeit ein begnadeter Naturwissenschaftler und Politiker gewesen und verfügte, neben Bao, wahrscheinlich über mehr Wissen, als alle anderen Überlebenden zusammen. Dieses kleine Unterrichtsgebäude, welches Lailac einmal pro Woche besuchte, um die Pilger aus Kael in verschiedenen Fächern zu unterweisen, heißt heute Mondstein-Sanktuarium. Drum herum wurde fünfhundert Jahre später die Hauptstadt Lichterloh aufgebaut. Das steht jedenfalls in den religiösen Schriften der Blausternengemeinschaft, einer Sekte, die auch heute noch aktiv ist. Freilich hielt man diese Geschichten allgemein für Humbug, da das Unlicht für lange Zeit nicht mehr gesichtet worden war – bis vor etwas mehr als sechshundert Jahren in den zentralen Regionen der Urstadt Kael erneut Fälle von Unlichtbildung bekannt wurden. Zuerst erkannte man gar nicht, dass es zwischen den heiligen Schriften und diesen mysteriösen, spiegelnden Pfützen im überschwärzten Kael eine Verbindung gab. Die Leute haben dann aber sehr schnell gemerkt, woher das Unlicht kam: Ab einem gewissen Grad der Schwärzung kommt es innerhalb eines biologischen Organismus zu einer Reaktion, die es nicht mehr zulässt, dass Körper und Geist sich von der Trübung erholen. Wenn man in diesem Zustand stirbt, kann es sein, dass das körperliche Gewebe zu Unlicht zerfällt. Ich habe das Zeug schon einige Male im Zentrum gesehen, und ich sage dir, es schaudert mich alleine beim Gedanken daran. Ich male mir dann immer aus, wie die Toten, die zu Unlicht zerfallen sind, mich aus dem Spiegel heraus beobachten. Du kannst dir das Unlicht wie einen flüssigen Spiegel vorstellen – vielleicht weißt du, wie Quecksilber aussieht? Hat gewisse Ähnlichkeiten.«

»Ich … Ich habe schon davon gelesen«, murmelte Keli benommen, der es von Ankers Erläuterung etwas übel geworden war. Anker quetschte seinen hervorquellenden Bauch gegen das Geländer des Dachringes und legte etwas umständlich seine klobigen Hände darauf ab. Ein kräftiger, kühler Luftzug, dessen Geruch Keli an Hildenberge erinnerte, ließ Ankers dünne, weiße Haarbüschel im Winde tanzen. Die dunkle Wolkenfront aus dem Norden war merklich in ihre Richtung herangezogen.

»Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass du und dein Bruder zufällig beide mit einer vierfingrigen Hand geboren wurdet, ist sehr gering. Auch, weil ihr keine offensichtlichen Verwandten zu haben scheint, bei denen das auch so ist. Jedenfalls besteht die Möglichkeit, dass ihr beide entfernt von Lailac abstammt und demzufolge dem Unlicht gegenüber immun seid.«

Anker stieß sich vom Geländer ab und suchte Kelis Blick. Keli erwiderte ihn zaghaft.

»Ich habe – eine Bitte an dich. Wärst du bereit – uns auf die Expedition nach Kael zu begleiten? Es wäre sicher aufschlussreich, zu sehen, wie sich das Unlicht auf dich und deinen Bruder auswirkt. Ihr könntet ja mal ein Haar eintauchen, oder so«, fügte er rasch hinzu, als ihm Kelis entsetztes Gesicht auffiel.

»Ich war mit Loyd zweimal im Zentrum, und damals dachte ich natürlich nicht im Traum daran, ihn zu bitten, dem Zeug zu nahe zu treten. Aber jetzt, da einiges dafürspricht, wonach eine Immunität dem Unlicht gegenüber bestehen könnte, wäre es einen Versuch wert. Ich meine, nur, wenn du willst. Es wäre natürlich im Interesse der gesamten Akademie und sogar der Regierung, wenn sich herausstellen sollte, dass dein Bruder und du Unlicht anfassen könnt. Das wäre eine Sensation!«

Keli sagte nichts. Sie war nachdenklich geworden. Konnte es sein, dass tatsächlich etwas an dieser Geschichte dran war? Und was würde geschehen, wenn sie, genauso wie jener Mikael damals, ihre Hand in das Unlicht stecken und dann Blut in alle Himmelsrichtungen spritzen würde. Dieser Gedanke drehte ihr den Magen um. Vielleicht hatte der Baum ja Recht und sie sollte lieber dem Licht und nicht dem Unlicht folgen.

»Herr Ankerbelly«, begann Keli vorsichtig, »mir ist es vorgekommen, als hätte der Baum vorhin etwas – naja – geflüstert, oder so. Haben Sie das auch gehört?«

»Wie, was? Du meinst, Shidare hat gesprochen? Nein. Was hat sie denn gesagt?«, fragte Anker überrascht.

»Nein, ich meine – ich glaube, ich habe es mir nur eingebildet«, erwiderte Keli rasch. Anker blickte sie schweigend und mit undefinierbarer Miene an. »Es geschieht gerade etwas viel auf einmal. Ich weiß praktisch nichts über Kael und von Unlicht eigentlich nur das, was Sie mir eben erzählt haben. Interessieren würde mich Ihre Theorie ja schon, nur, es hört sich alles sehr gefährlich an.«

Dann tauchte plötzlich das Bild ihrer Eltern vor ihrem geistigen Auge auf. Sie alle saßen in ihrer gemütlichen Wohnstube und lachten heiter am hölzernen Spieletisch, wo sie jeden Abend Familienspiele miteinander gespielt hatten. War das nun alles Vergangenheit? Die Ungewissheit über ihre Eltern machte alle Erinnerungen zu schweren Steinen in ihrem Herzen.

»Meine Eltern … Ich weiß nicht, ob meine Eltern noch – da sind.« Kelis Stimme wurde unverständlicher. »Ich will nicht, dass sie – tot sind …«

Ein Schub von Trauer überschüttete sie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie aber sogleich mit dem Ärmel verdeckte.

Anker, der nachdenklich in die Ferne gestarrt hatte, sah Keli erst jetzt an. »Keli«, sagte er einfühlsam, als er bemerkte, dass sie weinte. Anker trat näher an sie heran und rieb ihr den Nacken. »Ist ja schon gut. Hör mir bitte zu. Was ich dir nun erzählen werde, ist sehr wichtig! Das Schicksal aller Wesen im Laternenwald steht auf dem Spiel. Seit Jahrhunderten suchen wir vergeblich nach einer Lösung für die Unlichtplage. So viele Wesen sind der Armut und Überschwärzung schon erlegen. Ihr beide könntet die Einzigen sein, die imstande sind, das Unlicht aufzuhalten. Und wenn es stimmt, dass deine Eltern in das Sonnenloch gefallen sind, besteht die Chance, dass sie noch leben.«

Keli blickte von ihren Ärmeln auf, mit denen sie sich das Gesicht abgewischt hatte.

»Ich habe schon mal irgendwo gelesen, wie man mit verarbeitetem Unlicht in ein Sonnenloch hineinkommt, um etwas daraus zu bergen. Frag mich nicht wo, aber mir ist das definitiv mal zu Ohren gekommen.«

»Ist – ist das wahr?«, fragte Keli stockend. Ihre unterdrückten Tränen waren in einen Schluckauf übergegangen.

»Jo. Du kannst dem alten Anker vertrauen. Wenn es um die Lektüre geht, bin ich der Fachmann schlechthin. Ich könnte nach der Rückkehr aus Kael ein wenig recherchieren, wie das mit der Sonnenlochinfiltration genau funktioniert. Wenn es eine Möglichkeit gibt, deine Eltern zu retten, dann werde ich alles in meiner Macht stehende unternehmen, um ihnen zu helfen. Nun, wie sieht es aus; ist das ein Deal?«

Keli dachte nach. Im Moment war es sowieso unmöglich, ins überschwemmte Gebiet unterhalb des Hildengebirges zu gelangen. Wenn sie in ein paar Tagen aus Kael zurück wären und dann mit Anker an der Seite eine Suchaktion starteten, würden die Chancen, ihre Eltern wieder zu sehen, deutlich höher ausfallen, als wenn sie jetzt allein und ohne Plan aufbrechen würde. Andererseits, die seltsame Begegnung mit Shidare eben hatte ihr zu denken gegeben. Sie fühlte tief in ihrem Inneren, dass sie sich deren Worte zu Herzen nehmen musste. Ob es vielleicht sogar Mikael oder Lailac persönlich gewesen war, der die Botschaft verfasst hatte? Vielleicht war sie ja so etwas wie die Auserwählte? Dieser Gedanke machte ihr Mut. Kelis eben erloschene Seelenkerze entzündete sich von neuem. Sie hatte einen Entschluss gefasst.

»Herr Ankerbelly – ich meine, Anker.«

Zusammengesunken saß Keli da. Mit vom Weinen geröteten Augen suchte sie seinen Blick. Anker erwiderte ihn respektvoll. »Ich bin einverstanden. Ich gehe mit dir und Loyd nach Kael«, drangen Kelis Worte von einem peinlich berührten Lächeln begleitet durch ihre verstopfte Nase.

Anker strahlte sie an.

»Mädel, fantastisch!«, ließ Anker mit schallender Stimme verlauten, während er hochgestimmt die geballte Faust hob. »Dann werde ich gleich morgen früh einen Diplomatenpass für dich organisieren, damit das ganze Team auch sicher über die Grenze kommt.«

»Vielen Dank«, nuschelte Keli, die sich ihrer labilen Verfassung wegen etwas schämte. »Ähm, kann ich dich noch etwas über das Unlicht fragen?«, erkundigte sich Keli nach ein paar stillen Sekunden Bedenkzeit.

»Klar. Es wird einiges geben, dass du dich fragen wirst. Nur raus damit, ich werde dir alles erklären«, offerierte Anker ihr gut gelaunt.

»Nun ja. Vielleicht ist es eine dumme Frage, aber ich habe mich eben gefragt, weshalb nichts getan wird, um die Überschwärzung zu stoppen und es gar nicht erst zur Entstehung von Unlicht kommen zu lassen. Deine Erklärung vorhin hat sich so angehört, als wäre Unlicht nur das – das Produkt des Problems.«

Anker knallte ihr abermals die Hand auf die Schulter.

»Mädel, du überraschst mich immer wieder. Wie alt bist du jetzt? Dreizehn?«

»Äh, ja. Gerade erst geworden. Vor ein paar Tagen.«

»Ts, ts, ts, ausgezeichnet«, begeisterte sich Anker. »Es stimmt genau, dass das Unlicht das Ergebnis und nicht die Wurzel der Überschwärzung ist, und auch, dass man eigentlich dementsprechend die Überschwärzung bekämpfen müsste und nicht das dadurch entstandene Unlicht. Der Haken an der Sache ist: Wenn das Unlicht einmal da ist, wird es nie wieder ganz verschwinden und nach und nach an Menge gewinnen. Solange sich das Unlicht in einer überschwärzten Umgebung befindet, wie es in Kael der Fall ist, wird es sich nicht so rasant ausbreiten, als wenn es hellem Raum ausgesetzt ist. Einmal aus dem Schwarzen Vorhang ausgebrochen, würde es sich rapide wie ein bösartiges Geschwür in seiner Umgebung ausbreiten. Du hast sicher schon die Lichtlehre studiert?«

Keli nickte halbherzig. Eigentlich hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt nie viel fürs Lernen übriggehabt, und Anker schien diese Tatsache gänzlich aus ihrer Gestik herleiten zu können.

»Ok, ich glaub, ehe wir nach Kael aufbrechen, muss ich dir noch ein, zwei Dinge erklären. Fangen wir mit ein bisschen Hintergrundlektüre an, dann wird es dir leichter fallen, während der Expedition die Zusammenhänge zu verstehen. Gut, zuerst mal zur universalen Fusion, von der du sicher schon einige Male gehört hast. Man sagt ja, dass dieses mysteriöse Ereignis uns vor etwas mehr als eintausend Jahren die Lichtsynthese ermöglicht hat. Unser Universum ist mit einem anderen kollidiert und zu einem Duoversum verschmolzen. Dies war offenbar möglich, da die beiden Universen sich von der dimensionalen Struktur her sehr ähnlich waren. Beide Kosmen zogen sich gegenseitig an; wie Mann und Frau. Wichtig hierbei ist, dass das andere Universum aus einer Dimension mehr zusammengesetzt war, und so war unser Kosmos nach der Fusion plötzlich durchtränkt von einer neuen, dimensionalen Komponente, der Lichtsynthese. Kannst du mir bis hierher folgen?«

Keli kannte diese Geschichte bereits halbwegs aus ihren trockenen Lehrbüchern der Lichtlehre und beantwortete die Frage mit einer bejahenden Kopfbewegung.

»Großartig. Dann weißt du natürlich auch, dass diese neue Dimension uns befähigt hat, Licht in unsere Körper aufzunehmen und es auf unser Umfeld anzuwenden. Urvater Lailac war einer der Überlebenden der Fusion und ist als das erste Wesen bekannt, dem es gelungen war, das Alte Sonnenlicht in sich zu speichern und damit andere Überlebende warm zu halten. Bald schon sogen sich die Überlebenden und deren Nachkommen mit Licht voll, welches aus den Sonnenlöchern strömte. Mit dieser neu erlangten Kraft begannen sie, Kael, die erste Stadt der Neuzeit, die nach dessen Gründer, Urvater Mikael McLane, benannt wurde, auf den Ruinen der Urstadt Tokio aufzubauen. Die verschiedenen Sprachen, die noch von den Urvätern und -müttern gesprochen wurden, verschmolzen rasch zu einer einzigen Hauptsprache, deren weiterentwickelte Form wir heute noch sprechen und als ›Kaelisch‹ kennen. Die Leute vermehrten sich rasch und führten die Lichtsynthese als allgemeines Hilfs- und Zahlungsmittel ein. In der Vorzeit benutzte man ›Geld‹ – Münzen und so weiter –, mit dem Handel getrieben wurde. Heute ist das Geld überflüssig, da das Licht in unseren Körpern als Währung wie auch Energieressource viel zweckmäßiger ist. Kael als blühende Gesellschaft verwahrte und kontrollierte das Sonnenlicht aus den umliegenden Sonnenlöchern und begann, es als Gegenleistung für Arbeit auszuzahlen – und so nahm das Geben und Nehmen, das schlussendlich zur Entstehung des Unlichts geführt hat, seinen Lauf. Jedes Mal, wenn jemand Licht verwendet, zum Beispiel, um etwas in einem Laden zu bezahlen, verliert der Anwender diese Menge Licht und muss sie von irgendwo anders wieder beziehen, um zu seinem Ursprungsniveau zurück zu gelangen. Das abgegebene Licht wird an ein anderes Medium übertragen und der Anwender wird dabei schwärzer. Je mehr Licht man weggibt, umso trüber wird der Körper. Je mehr Licht man bezieht, umso heller erstrahlt er. Das verstehst du, oder? Wie du beim Mann im Strudelladen gesehen hast, zeigt sich die Schwärze als eine trübe Aura um ein Wesen herum. Das hat also nichts mit deinem eigentlichen Äußeren zu tun, sondern verkörpert sich als neblige, negative Ausstrahlung. So – und im Zentrum vor ein paar hundert Jahren wurde schließlich mehr Licht verwendet, als zur Verfügung stand. Die Leute konnten sich nicht mehr aufladen und die Überschwärzung breitete sich auf die Umgebung aus, bis die ersten Unlichtfälle auftraten und anschließend das Unlicht sich in der geschwärzten Atmosphäre zu vermehren begann. Das alles hatte zur Folge, dass man anfing, immer größere, bewohnbare Ringe um den Mittelpunkt der Stadt zu bauen, um dem wachsenden Übel auszuweichen. Irgendwann war man dann soweit, dass es Unstimmigkeiten gab, wie man mit der Lage weiter umgehen sollte.

Urvater Mikael führte die Gruppe der Überlebenden nach der Fusion an und beabsichtigte, keine ideologischen Isolationen zuzulassen. So beschreibt es zumindest die Blausternenschrift. Man wollte ursprünglich zusammenbleiben, in Harmonie leben und aus den Fehlern der Wesen in der Zeit vor der Fusion lernen. Doch mit der sich ausbreitenden Überschwärzung und dem Unlicht überall war dies irgendwann nicht mehr möglich. Es entstanden zum ersten Mal seit dem Beginn der Neuzeit ›Parteien‹, deren Meinungsdifferenzen immer grösser wurden.

Die Fraktion, die später die Präfektur Lichterloh gründete, wollte dem unmoralischen Treiben der Gesellschaft ein Ende setzen. Sie wollten sich schon sehr früh vom Rest von Kael abspalten und nach ihren eigenen ethischen Maßstäben existieren; also weniger ressourcenreich leben, um der Schwärzung entgegenzuwirken. Sie zogen in den Norden von Kael, wo später auch viele Zweigstädte und Zweigdörfer von Lichterloh entstanden –«

»Wie Hildenberge?«, vermutete Keli.

»Genau. Herbstfeld ist eine Zweigstadt von Lichterloh und Hildenberge ein Zweigdorf von Herbstfeld. Obwohl es die Hochschule von Herbstfeld schon seit dem Beginn der Neuzeit gibt, wurde die Stadt selbst erst Jahrhunderte später als Zweigstadt Lichterlohs anerkannt. ›Atlas‹ wurde die Präfektur im Westen von Kael. Diese Gruppierung wollte stets zusammenhalten und legte alles daran, alle separierten Partien nach der ideologischen Teilung wieder zu vereinen. Im Osten wurde die Präfektur ›Solaspitz‹ gegründet und im Süden ›Wesenend‹, sowie ›das Fürstentum Nihilis‹, welches sich abermals durch ideologische Differenzen von Wesenend distanziert hatte. Es wurde ein viele Kilometer hoher und hunderte Meter breiter Wall um Kael herum gebaut: der Schwarze Vorhang. Nur wenige Leute blieben im Zentrum zurück. Heute können nur noch die wenigsten Wesen, die sich der überschwärzten Umgebung angepasst haben, dort bestehen. Da allgemein angenommen wird, die universale Fusion habe die Masse der Erde in einer Art und Weise gekrümmt, sodass deren Oberfläche sich heute ins Unendliche erstreckt, war die Evakuierung des Zentrums für die beiden Präfekturen Atlas und Solaspitz nicht weiter schlimm gewesen. ›Die Höhere Macht hat uns ja schließlich unendlich viel Spielraum verschafft‹, so der erste Präsident von Atlas. Er und seine Gefolgsleute interpretierten das Unlicht als eine Art ›göttliche Herausforderung‹ und meinten, eine immerzu in die Weite wachsende Ringstadt um Kael herum sei die Lösung für das Problem, und so könnten alle Leute auf der Welt in einer Gemeinschaft leben. Wir in Lichterloh waren vom Streben nach Tugend und Wahrheit geleitet und setzten alles daran, das Unlicht zu studieren und zu eliminieren. Statt wie die Atlassen Weltpolizei zu spielen, versuchten wir den Ursprung von all dem Unheil zu ergründen. Es bildete sich eine Forschungsallianz aller größerer Hochschulen der Präfekturen, die unter transnationalem Gesetz das Unlicht studieren dürfen. Tja – und trotz intensiver Forschung ist es uns bis heute nicht gelungen, eine Lösung für Kael und die Unlichtplage zu finden. Lichterloh investiert, seit seiner offiziellen Gründung im Jahr 502 ab Neuzeit, Unmengen an Zeit und Licht in die Erforschung des Laternenwalds. Seit etwa dreihundert Jahren haben wir unser Forschungsgebiet bis weit in den Sternenwald ausgeweitet. Bis heute gibt es allein 254 durch Lichterloh unterhaltene Forschungsstationen, die vom Zentrum Kaels über tausende Kilometer des Laternenwalds, bis weit in den Sternenwald hinein verteilt sind. In Lichterloh überwiegt im Volksglauben die Idee, dass die Antworten auf all unsere Fragen vielleicht irgendwo da draußen auf uns warten und von uns entdeckt werden müssen. Darum habe ich mich in meinen jungen Jahren entschieden, Exploration zu studieren und bin dann auch auf diesem Gebiet geblieben. Die Frage nach Wahrheit und Existenz hat mich bis hierher geführt, und ich werde niemals aufgeben, nach Antworten zu suchen.«

Anker stieß einen tiefen Seufzer aus. Seine Stimme war während seiner Rede immer leiser geworden – oder war es der Wind, der lauter geworden war? Ein großer Regentropfen zerbarst auf Kelis Nase. Sie hob den Kopf. Es war düster geworden, und hie und da konnte man das Aufklatschen schwerer Tropfen vernehmen. Anker schwankte geistesabwesend von einem Fuß auf den anderen.

»Und nun – zum Schluss noch etwas ganz Wichtiges und gleichzeitig philosophisch Tiefgründiges. Also mach dir nichts draus, wenn du es nicht auf Anhieb verstehst. Danach gehen wir zu meinem Haus. Dort kannst du eine Nacht darüber schlafen. Meine Gürkchen sind sicher schon am Verhungern. Ich hoffe, du bist noch nicht zu müde, um dem spannendsten Teil meines Vortrags zu lauschen, denn jetzt kommt deine Hand nämlich ins Spiel.

Man weiß, dass es nach der Universalen Fusion immer wieder mal vierfingrige Personen gegeben hat, und auch, dass das Phänomen der Vierfingrigkeit von Generation zu Generation immer seltener wurde. Doch Beachtung fand die Gabe erst Jahrhunderte später, als sich das Unlicht in Kael zu vermehren begann und bekannt wurde, dass die Vierfingrigen das Unlicht wegschaffen konnten. Bald schon schlossen sie sich zu einem Bündnis zusammen und nannten sich: ›die Unlichtbändiger‹. Wenn in Kael jemand der Überschwärzung erlegen war, wurden sie gerufen, um das Unlicht aus den Siedlungsgebieten zu transportieren und es an einen sicheren Ort zu bringen. Anders als Lailac konnten sie das Unlicht aber nicht in sich aufnehmen, es formen und wieder auf die Umwelt anwenden. Dazu hätten sie gemäß Blausternenschrift nämlich den Kaelischen Index gebraucht, den sie zwar auch rigoros suchten, ihn aber nie fanden. Du siehst das Problem: Auch damals konnten die Unlichtbändiger das Unlicht nur an einen anderen, für die Bevölkerung weniger gefährlichen Ort befördern. Dort vermehrte es sich aber trotzdem weiter. Es wäre also zwingend gewesen, den Unlichtschlüssel zu finden. So wäre es wenigstens vorübergehend im Körper eines Unlichtbändigers gefangen gewesen. Ab hier treten die Präfektur Wesenend und die Halbpräfektur Nihilis auf den Plan. Sie sind die Fraktionen, die in Unlicht von jeher etwas ganz anderes sahen als die übrigen Nationen. In beiden Staaten wird am Glaubenssatz festgehalten, das Unlicht verkörpere die ›Nichtexistenz‹. Jetzt wird es richtig kompliziert, aber ich versuche, es in einfache Worte zu fassen: Der Unterschied zwischen den Ansichten von Wesenend und Nihilis, der die beiden Gruppen einst sogar in den Krieg geführt hat, besteht darin, dass in Wesenend geglaubt wird, das materielle Universum sei eigentlich nur eine Zwischenform der Existenz und irgendwann würde alles zu Unlicht zerfallen. Für Wesenend ist die Ausbreitung des Unlichts ein natürlicher Prozess; das ist ganz wichtig. Das Fürstentum Nihilis hingegen glaubt an das ›Garnichts‹.«

Anker prustete, als er Kelis immer länger werdendes Gesicht sah.

»Jaja, so komplex ist die Welt heutzutage, und glaub mir, das ist noch lange nicht alles. Kurzum, was du dir für jetzt merken solltest, ist: Wesenends Doktrin besagt, alles wird irgendwann zu Unlicht, und dagegen kann man nichts machen. Im Fürstentum ist man noch eine Spur extremer und glaubt einerseits, Existenz habe keinerlei Bedeutung und andererseits, die Unlichtbildung müsse vorangetrieben werden, damit alles zu nichts werde – so abstrus es auch klingen mag. Bei denen ist sozusagen bereits Hopfen und Malz verloren. Und hier kommt der springende Punkt: Das Fürstentum sah es damals gar nicht gerne, dass die Vierfingrigen das Unlicht einzäunen konnten. Als dann noch rauskam, dass die Unlichtbändiger den Kaelischen Index suchten, ließ Nihilis die Mitglieder der Gruppe von einer Bande Auftragsmörder ausfindig machen und meucheln. Der versprochene Schutz der Unlichtbändiger von Lichterloh kam zu spät und man dachte lange Zeit, Nihilis hätte sie alle erwischt. Doch wie es aussieht, könnte man sich getäuscht haben.« Anker blickte unruhig umher. »Bei allen zuckenden Landgurken. Wenn das rauskommt«, raunte er leise. »Wir müssen Loyd und dich unbedingt schützen, falls sich herausstellen sollte, dass ihr tatsächlich Unlicht berühren könnt. Ich muss Loyd gleich morgen darauf hinweisen, sich bis auf Weiteres von Wesenend und dem Fürstentum fernzuhalten.«

Beide hatten die Zeit und das aufziehende Unwetter vergessen. Es begann in Strömen zu regnen.

»Keli, ich denke, es ist genug für heute. Meine Güte, es ist ja auch schon elf Uhr! Komm, ich habe ein tolles Gästezimmer, das für dich bereitsteht. Meine Haustiere werden auch begeistert sein, Besuch zu haben. Falls Loyd morgen schon wieder auf den Beinen ist, geht es auf nach Lichterloh, wo wir uns mit dem Rest des Expeditionsteams treffen werden.«

Keli nickte mit einem erschöpften Lächeln. In Wirklichkeit war sie todmüde. Auch wenn sie angestrengt versucht hatte, Ankers Lektionen zu folgen, war kaum die Hälfte davon bei ihr hängen geblieben. Anker, aus dessen großem, grauem Bart ein kleiner Wasserfall hervorgequollen kam, verschwand hinter den knorrigen Wurzeln Shidares. Das Plätschern des Regens schwoll zu einem Tosen an. Blitze zuckten und Donner gellte bedrohlich über die Dächer. Keli schnappte sich Ankers Papiertüte, die vergessen auf der Sitzbank lag. Sie hielt sie sich über den Kopf und folgte Anker in Richtung Aufzug. Als sie an der Hängekirsche vorbeischritt, schien es Keli, als ob sie noch einmal die Stimme des Baumes hören würde: »Folge nur dem Licht«, glaubte sie zu hören, doch es konnte auch das Echo des sich zurückziehenden Stadtlebens unten an der Lailac-Straße gewesen sein. Keli gab sich einen Ruck und trat auf die nassen Setzsteine in der Wiese. Ihr halbverzehrter Strudel lag vergessen vor der Bank und begann allmählich, im Regen zu zerfallen.

Die Laternenwald-Expedition

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