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Die drei Botschafter von Lichterloh

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Keli schlief in dieser Nacht sehr unruhig und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Als es draußen noch stockdunkel war und der Regen kräftig an die Fenster peitschte, wachte sie kurz auf, da sie meinte, eine Tür aufgehen zu hören, doch dann schlief sie wieder ein, bis am nächsten Morgen die ersten Strahlen bunten Lichts auf ihren buschigen, schwarzen Haarschopf fielen. Sie konnte fühlen, dass etwas angenehm Weiches über ihre Nase wischte. War dies das Kitzeln der ersten Lichtstrahlen des Tages, das oft so schön in Büchern beschrieben war? Sonst wachte sie immer in blauglimmender Düsternis auf. Ja … so musste es sich wohl anfühlen, wenn man morgens von Licht begrüßt wurde.

Als sie die Augen aufschlug, schrie Keli vor Schreck laut auf. Drei oder vier oberarmgroße, madenartige Kreaturen mit kreisrunden Öffnungen als Mäuler hatten ihr das Gesicht von oben bis unten vollgesabbert. In Panik sprang sie vom Bett, wobei die seltsamen Wesen mit einem ekelerregenden Aufquietschen von ihrem Brustkorb herunterkullerten. Keli befand sich in einem modern eingerichteten Raum, in dem die Wände entlang mehrere gut gefüllte Bücherregale aufgereiht standen. Außerdem befanden sich zwei Topfpflanzen in den Ecken des Zimmers, an denen große, magentafarbene Blüten prangten, die ausziehbare Couch, auf der sie geschlafen hatte und ein kleines, gläsernes Tischchen. Keli dröhnte der Kopf. Es war das erste Mal in zwei Tagen, dass sie Schlaf gefunden hatte. All die schauerlichen Dinge, die in den letzten achtundvierzig Stunden geschehen waren – sie erschienen ihr wie ein schlechter Traum. Keli rieb sich mit dem Ellbogen die glitschige Nase ab und sah böse auf die Viecher hinunter, die wie Raupen Richtung Ausgang davonrobbten. Die Tür des Zimmers, die einen Spaltbreit offenstand, ging auf und Anker platzte herein.

»Was ist denn … Oho! Guten Morgen Keli.« Anker stand bereits angezogen im Türrahmen. Er sah aus, als wäre er schon wieder seit einiger Zeit auf den Beinen.

»Pitt, Pott, Patty und Putt. Was habt ihr im Gästezimmer verloren?«, sagte Anker ermahnend. Diese Worte waren an die vier gurkenähnlichen Geschöpfe gerichtet, die gerade Hals über Kopf und mit schrillem Gequietsche über die Türschwelle krochen.

»Das ist ›pfui‹«, rief er ihnen mit erhobenem Zeigefinger hinterher.

»Keli, bitte entschuldige. Das sind meine Haustiere. Ich hoffe, sie haben dich nicht belästigt«, sagte Anker munter.

»Nein, ist schon in Ordnung. Ich habe mich nur erschreckt. Was sind denn das für Wesen?«, erkundigte sich Keli halb verärgert, halb belustigt.

»Landgurken werden sie im Volksmund genannt und es gibt sie nahezu überall. Es sind bereits 42 Arten entdeckt worden, und durch die Erforschung des äußeren Sternenwalds kommen stets neue dazu.«

»Oh – verstehe«, grummelte Keli, die ihre glitschigen Ärmel beäugte.

»In der Regel sind sie ganz lieb und den Menschenwesen gegenüber wohlgesinnt«, fügte Anker hinzu, während er sich vor dem gläsernen Tischchen in einen Sessel fallen ließ. »Wenn Loyd schon wieder auf den Beinen ist, können wir uns vielleicht heute Nachmittag schon mit Naomi in Lichterloh treffen. Sie ist eine gute Kollegin von mir und absolviert derzeit ihr Zweitstudium im Fach Biodiversität – öh, das heißt so viel wie das Erforschen von verschiedenen Wesen- und Pflanzenarten«, fügte Anker rasch hinzu, als er Keli die Stirn runzeln sah. »Naomi ist auch ganz angetan von den Gürklein. Ich bin übrigens der Leiter des Gurkenclubs, einer gemeinnützigen Organisation, die das Verständnis für die tollen Wesen fördert. Die Gürkchen sind zutiefst missverstandene Geschöpfe und verdienen unsere Aufmerksamkeit. Sind sie nicht putzig?«

Keli blickte argwöhnisch zur Tür, wo Pitt, Pott, Patty und Putt hinter dem Türrahmen lauerten und mit ihren kleinen, schwarzen Knopfaugen verstohlen ins Zimmer linsten. Keli wusste noch nicht genau, was sie von den Kreaturen halten sollte. Irgendwie fand sie sie zwar witzig, aber ein bisschen widerlich sahen sie ja schon aus. Von den Landgurken abgelenkt, hatte Keli nicht bemerkt, wie Anker seine Hand in die Innentasche seiner Jacke gesteckt und auf der Oberfläche des Tischchens einen handflächengroßen Umschlag abgelegt hatte.

»Was fressen diese Gurken denn? Sie scheinen Hunger zu haben«, wollte Keli wissen, die das Verhalten der Gurken an Haustiere erinnerte, die am Morgen ihre Herrchen wachleckten.

»Öh – nun. Die Landgurken gehören zu den ›Koprophagen‹«, sagte Anker flüchtig.

Zum Glück wusste Keli nicht, was das bedeutete und ging nicht weiter auf das Thema ein. Ihr Blick war auf das Kuvert gefallen, das Anker mit einem dicken Zeigefinger auf der Glasplatte des Tischchens fixierte. Dann schob er dieses zu Keli hinüber.

»Das ist dein Diplomatenpass. Gratuliere – du bist jetzt offiziell Mitglied einer staatlich fundierten Expedition und akkreditierte Vertreterin der Nation.«

Keli schaute überrascht drein. Vertreterin der Nation – sie? Sie wusste nicht einmal recht, was das bedeutete. Anker sah mit Genugtuung, wie sich Kelis Miene ins Unfassbare verzog und fuhr dann mit ernstem Tonfall fort: »Der Ausweis ist ein überaus wichtiges Dokument und darf auf keinen Fall in die falschen Hände gelangen. Schütze ihn wie deinen Augapfel. Er gewährt dir diplomatische Immunität und Zugang zu allen Präfekturen des Laternenwalds und den meisten Zweigstädten der Provinzen. Ausgenommen sind einige Orte, denen wir nicht zu nahe kommen wollen; wie zum Beispiel das Fürstentum Nihilis, wo der Ausweis zwar vor 35 Jahren anerkannt wurde, trotzdem aber immer mal wieder Botschafter aus anderen Staaten festgenommen werden. Dieser Pass darf in keiner Weise weder missbraucht, noch vervielfältigt werden oder abhandenkommen. Nur ganz wenige hochrangige Individuen in Lichterloh sind im Besitz eines solchen Dokuments: die Direktoren der Lichtwirtschaft, einige bedeutende Politiker und dann noch eine Handvoll ausgesuchter Unlichtforscher und Fachwissenschaftler. Deinen Pass konnte ich allein deshalb beantragen, weil ich der Prorektor der HHF bin und die Hochschule und deren Studien im Regierungsrat vertrete.«

Keli hob den Umschlag ehrfurchtsvoll auf und zog ein kleines, nachtblaues Büchlein hervor, auf dem in goldenen Lettern »Diplomatenpass« geschrieben stand. Der Ausweis schien aus hochwertigem Material zu bestehen. Keli öffnete die erste Seite und sah sich selbst aus einem kleinen Foto zulächeln. Alle ihre persönlichen Daten waren korrekt aufgelistet; selbst die vier Fingerabdrücke ihrer linken Hand waren darauf zu sehen.

»Woher kommen denn all diese Angaben und das Foto?«

Anker grinste breit. »Es ist dir vielleicht nicht bekannt, aber in Lichterloh werden die persönlichen Informationen aller Staatsangehöriger regelmäßig eingefordert und ausgewertet. Auch die Bürger, die in Zweigdörfern der Zweigstädte von Lichterloh wohnen, sind dieser Meldepflicht unterstellt. Alle weiteren Zweiggemeinden oder Siedlungen sind von dieser Obliegenheit befreit und gehören nicht mehr offiziell zur Präfektur. Auch du und dein Bruder – da die Gemeinde Hildenberge ein Zweigdorf der Zweigstadt Herbstfeld ist – müsstet in den letzten Jahren einmal nach Lichterloh vorgeladen worden sein – oder etwa nicht?«

Nun fiel es Keli wieder ein: Das war es also, was sie damals in Lichterloh getan hatten und warum sie keine bedeutsamen Erinnerungen an den Besuch bei ihrem Onkel hatte.

»Stimmt, wir haben vor ein paar Jahren mal meinen Onkel in Lichterloh besucht. Aber mir war damals nicht klar, dass das Ziel der Reise die Abgabe von persönlichen Daten war. Ich weiß nur noch, wie wir mit Onkel Nonpe ein amtliches Gebäude besuchten, wo wir zuerst lange anstehen mussten. Ich kann mich aber noch erinnern, dass die Frau, die Loyds und meine Fingerabdrücke nahm, ganz aus dem Häuschen war, als sie bemerkte, dass uns beiden die Zeigefinger an der linken Hand fehlen. Und jetzt weiß ich auch warum«.

»Siehst du«, sagte Anker selbstzufrieden und stand mit einem Ruck aus dem ächzenden Sessel auf. »Das Ganze hat vor etwa vierzig Jahren angefangen. Bis dahin gab es dieses Überwachungsprogramm noch nicht. Ist dir ›die Schmelzfront‹ ein Begriff?«, fragte Anker, während er einen Arm auf der Lehne des Sessels abstützte.

Keli hatte diesen Namen schon mal irgendwo gehört.

»Ich glaube, Loyd hat diese Leute einmal erwähnt. Sind das nicht Terroristen, die andere Wesen umbringen?«, spekulierte Keli, der es peinlich war, so wenig zu wissen, etwas steif.

»Mhm – ja, etwas in der Art. Die Schmelzfront ist eine extremistische Organisation mit Sitz in Atlas, deren Ziel es ist, mit Gewalt die physischen, wie auch geistigen Grenzen der Gesellschaft zu untergraben, um Kael als einen homogenen Staat, wieder aufblühen zu lassen. Der Name kommt von ›Front‹ – also Armee, und ›schmelzen‹. In diesem Fall: eine Milizarmee, die alle Gemeinden im Laternenwald wieder zu einem Volk verschmelzen will. Sie sind sozusagen diejenige Fraktion, die es satt hat, auf verbaler Basis eine Lösung auszufeilen. Sie greifen zu harten Mitteln, um ihren Zielen näher zu kommen«, erklärte Anker ganz diplomatisch.

»Ja, daran kann ich mich noch erinnern. Gerade als Loyd das erste Mal in Kael war, gab es damals einen Anschlag in Lichterloh. Ich glaube, diese Typen spinnen ziemlich.«

»Nun, wo Meinungen an Grenzen stoßen, folgt oft nur rohe Gewalt. Das zeigt uns auch unsere lange Menschheitsgeschichte mehr als nur einmal. Wenn die Gesetze, die falsches Verhalten einschränken sollen, zugleich auch den freien Willen der Bevölkerung unterbindet, dann greifen Minderheiten, die sich unterdrückt fühlen, bekanntlich schnell mal zu extremeren Maßnahmen, die Aufmerksamkeit erregen sollen – das ist nicht unverständlich.«

Keli wusste nicht, was sie darauf zur Antwort geben sollte und eine Diskussion mit einem der größten Professoren der Zeit zu starten, schien ihr so zwecklos wie töricht. Sie senkte den Blick wieder auf den edel glänzenden Diplomatenpass in ihren Händen.

»Keli, ich will dich keiner falschen Wahrheiten belehren, aber ich rate dir, Ethik und Tugend immer als relativ zu betrachten. Was für die einen richtig ist, mag für die anderen falsch sein. Ich sage meinen Studenten bei Kursbeginn immer: Alles, was ihr zu meinem Unterricht mitbringen müsst, ist der Wille, mich zu kritisieren und meinen Vortrag zu hinterfragen. Kritisches Denken ist die einzige wahre Fähigkeit, die du an der Uni brauchst. Und wenn ich mitbekomme, dass ein Professor nicht auf die Fragen und Kritik der Studenten eingehen kann, dann wird er von mir höchstpersönlich auf die Straße gestellt. Denn nicht die Vorlesung ist lehrreich, sondern die Diskussion zwischen denjenigen, die die Botschaft verschieden interpretiert haben. Einfach aus einem Buch vorlesen könntest nämlich sogar du. Ho-ho-ho.« Anker gluckste laut auf. »Wie dem auch sei«, fügte er schließlich an, als er Kelis große Augen bemerkte und gab ihr einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.

Keli, von der Wucht des Schlages überrascht, fiel beinahe von der Couch. Sie fing sich aber rasch wieder und erwiderte Ankers intensive Geste mit einem matten Lächeln.

»Tja, und der Schmelzfront und unseren langjährigen, misslichen Beziehungen zu Atlas haben wir es zu verdanken, dass Lichterloh strenge Grenz- und Personenkontrollen verhängt hat. Um die Hauptstadt Lichterloh herum wurde eine hohe Grenzsperre errichtet, damit keine Schmelzfrontterroristen und andere unerwünschte Minderheiten ins Stadtzentrum reinkommen. Bei den anderen Präfekturen sieht die Lage ähnlich aus. Du wirst allerdings feststellen, dass der Diplomatenausweis uns das Leben beim Grenzübergang um einiges erleichtern wird. Ich zeige dir später, was ich damit meine«, sagte Anker nun breit grinsend, als würde er etwas aushecken. »Komm, du musst sicher einen gewaltigen Hunger haben. Jetzt essen wir zuerst mal einen Happen, und dann gehen wir ins Krankenhaus und sehen, ob unser guter Loyd schon wieder fit ist.«

Anker hielt Keli die Tür auf und zusammen betraten sie das Esszimmer.

Sie frühstückten an einem langen, gläsernen Tisch, der wie die Großform des Tischchens aussah, das im Gästezimmer stand. Obwohl Anker eine Menge interessanter Dinge aufgetischt hatte, begnügte sich Keli mit einer Schale weißen Reises, einem Mundvoll Fisch und fermentierten Bohnen. Das Trauma der letzten Tage verkrampfte ihr noch immer den Magen. Anker hatte Pitt, Pott, Patty und Putt in die Küche gesperrt, da sie versucht hatten, auf Kelis Schoss zu klettern, während sie aßen. Grelles Gejaule hinter der Küchentür machte verständlich, dass die Gurken mit dem Verlauf der Dinge nicht glücklich waren. Nachdem sie fertig gegessen hatten, ließ Anker sie wieder raus und die beiden machten sich, während die Gurken frohsinnig über jedes bekriechbare Etwas purzelten, bereit für die Abreise. Es war selbsterklärend, dass Keli nichts außer den Sachen, die sie gerade trug, einer Zahnbürste, die ihr Anker am Vorabend gegeben hatte und dem Diplomatenpass besaß. Deshalb stand Keli nach dem Frühstück vor dem Badezimmer nicht recht wissend, was sie ohne frische Kleider tun sollte. Vielleicht sollte sie Anker mitteilen, dass sie für die Expedition noch ein oder zwei Paar Socken brauchen würde, doch danach zu fragen, war ihr peinlich.

Anker war in den Keller verschwunden, doch seine sich nähernden, polternden Schritte kündigten bereits seine Rückkehr an.

Anker kam mit drei üppig bepackten, dunkelfarbenen Rucksäcken zurück. Einen davon streckte er Keli hin.

»Hast wohl geglaubt, du müsstest die nächsten Wochen mit derselben Unterhose verbringen?«, gluckste Anker, der sich über Kelis Unbeholfenheit amüsierte.

»Wow, vielen Dank. Wann hast du das denn alles vorbereitet?«

»Nicht der Rede wert. Das bisschen Zeit, das ich für den zusätzlichen Pass und Proviant einbüßen musste, ist es allemal wert, gut vorbereitet zu sein. Das Schlimmste auf einer Expedition ist es nämlich, nicht zu wenig Schlaf gehabt zu haben, sondern schlecht auf das vorbereitet zu sein, was möglicherweise schiefgehen könnte – und davon gibt es eine ganze Menge. In deinem Rucksack findest du ein kleines Zelt für zwei Personen, Kleider für eine Woche in einer universalen Größe – sodass jeder, der sie braucht, sie tragen kann –, Nahrungsmittel für eine Woche, eine gefüllte Wasserflasche, einen Regenmantel, ein paar Gummistiefel, allerlei Toiletten-Artikel, ein Allzweckmesser, ein Stahlstäbchen mit Flint – um Feuer zu machen –, Zunder, ein paar Meter Seil – ist immer gut –, und zuletzt noch ein Steinvoll gebündeltes Altes Sonnenlicht, um der Überschwärzung in Kael standhalten zu können, bis wir bei der Forschungsstation ankommen. Damit du im Notfall informiert bist: In meinem und Loyds Gepäck befindet sich das Gleiche nochmal.«

Keli wurde nun auf einmal ein wenig zappelig. Erst jetzt begriff sie so richtig, wofür sie sich da entschieden hatte. Sie würde zum berüchtigten Schwarzen Zentrum reisen, wo nur die allerwenigsten Wesen jemals einen Fuß hineinsetzen. Was sie dort wohl erwartete? Ein aufgeregtes Kribbeln irgendwo tief in ihrer Brust machte sich bemerkbar.

Ein wenig später trat Keli erfrischt und in ihrem neuen Outfit aus dem Badezimmer, gerade als die Türglocke klingelte. Anker warf sich die restlichen zwei Rucksäcke über die Schulter und schlurfte zur Eingangstür, die er prompt mit seinem Ranzen aufstieß. Eine ältere, aber gepflegt aussehende Frau trat herein. Sie hatte graues, gescheiteltes Haar und trug teuer aussehende Edelsteine in Form von Ringen an der Hand und als Kette um den Hals.

»Ah, Kanako, die Dirigentin! Schön, dich zu sehen«, sagte Anker, der seine Arme weit ausbreitete, die Frau umschlang und ihr einen saftigen Kuss auf die Wange drückte.

»Ganz meinerseits«, entgegnete Kanako vergnügt. Wo sind denn die süßen Viechlein? Puu–tzi, putzi, putz«, dudelte sie durch das Esszimmer.

Keli, die sich im selben Augenblick umschaute, bemerkte, dass die Landgurken verschwunden waren. Bevor es geklingelt hatte, waren sie noch quietschvergnügt auf dem Esszimmerboden herumgetollt.

»Keli, das ist meine Kollegin Kanako Hopkins, von Atlas, von Adelgrund. Sie ist eine Gastprofessorin aus der Hochschule von Adelgrund und ebenfalls leidenschaftliches Mitglied des Gurkenclubs. Sie wird während meiner Abwesenheit auf meine Babys aufpassen«, erklärte Anker, der sich nun Kanako zudrehte: »Kanako, das ist Keli von Lichterloh, von Herbstfeld, von Hildenberge. Sie ist die Schwester eines Explorationsstudenten von mir und interessiert sich ebenfalls für ein Studium an der HHF.«

Kanako ging auf Keli zu und streckte ihr die linke Hand hin, wie es in Lichterloh üblich war. Keli hob die ihre und streckte sie aus. Als sich Hand und Hand trafen, stahl sich Kanakos Blick für den Bruchteil einer Sekunde über Kelis Hand, an welcher der Zeigefinger fehlte, dann sah sie rasch wieder auf und meinte freundlich: »Es ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen. Das Schicksal Hildenberges betrübt mich zutiefst. Wenn es etwas gibt, womit ich Ihnen behilflich sein kann, dann lassen Sie es mich bitte wissen.«

Keli sah, wie Anker sich für einen Moment auf die Unterlippe biss.

»Ja, dann. Kanako, wir sind schon einige Tage im Rückstand und müssen aufbrechen. Hier ist der Schlüssel für das Haus. Das Futter für die Gürklein findest du auf dem Balkon, wie immer«, sagte Anker mit bemerkenswerten Schweißperlen auf der Stirn.

»Keine Sorge. Ich werde auf die Lieben aufpassen, genauso wie auf den ›überschwänglichen Verein‹, den ich zu leiten habe. Bald geht es los.« Kanako lächelte Anker zu und zwinkerte dabei. »Ich wünsche dir viel Erfolg in Kael und, dass du auch in einem Stück, und vielleicht ein paar Stückchen mehr, wieder zurückkommst. Sonst werden die Gürkchen nämlich zu mir umziehen müssen.«

Anker erwiderte ihr Zwinkern mit einem verschmitzten Nicken, dann öffnete er die Tür und trat in das frische, grünliche Morgenbunt hinaus. Keli, die nicht begriffen hatte, warum Anker so gestresst aussah, betrat nach ihm den gepflegten Garten, als ein ohrenbetäubendes Kreischen sie herumfahren ließ. Pitt, Pott, Patty und Putt sausten mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit aus der Küche auf die Eingangstür zu. Anker ließ die zwei Rucksäcke, die er trug, auf den Boden sinken, kniete nieder und hob alle vier Gürkchen behutsam vom Boden hoch. Sie wanden sich in seinen Armen, quietschten herz- und trommelfellzerreißend und besprühten Ankers Bauch mit glänzendem Sabber.

»Nicht doch, nicht doch. Ich bin doch bald wieder zurück. Seid brav und macht nichts Unanständiges, während ich weg bin.«

Er gab jeder einzelnen Gurke einen schallenden Schmatz über die kleinen Äuglein und übergab sie dann Kanako, die sie fest an sich pressen musste, damit sie nicht Reißaus nehmen konnten. Beim Gartentor drehten sich Anker und Keli nochmal um, um Kanako und den laut jaulenden Haustieren zum Abschied zu winken. Erst jetzt fiel Keli auf, wie riesig das Anwesen von Anker war, und das war gerade mal sein Zweithaus, in dem er lediglich ein paar Tage die Woche verweilte.

Bis zum Universitätsklinikum war es nicht weit. Sie passierten einige Seitenstraßen in einem Quartier, wo es nur prunkvolle Einfamilienhäuser mit stilvoll kultivierten Gärten gab. Auf dem Hinweg letzte Nacht hatte Keli von der Umgebung nicht viel mitbekommen, da es einerseits stockdunkel gewesen war, und sie andererseits wegen des Wolkenbruchs den ganzen Weg bis zum Haus hatten laufen müssen. Keli fragte sich gerade, wieviel Lichtbit Anker wohl auf der Bank angehäuft hatte. Er sah nicht aus, als würde er mit Licht um sich werfen, und viel davon schien er auch nie in seinem Körper bezogen zu haben. Jedenfalls erstrahlte er nicht grell, wie man sich jemanden vorstellte, der mit Altem Sonnenlicht bis unter die Fingernägel vollgesogen war. Es schien wirklich zu stimmen, dass er seine Lebensziele verfolgte und nicht, wie viele andere Leute, von denen Keli wusste, allein für Lichtbit arbeiteten, um danach alles wieder für irgendwelche überflüssigen Dinge auszugeben. Anker schien die Sorte Mensch zu sein, der einen Traum hegte und nicht aufgab, bis er dort war, wo er sich immer hingewünscht hatte. So eine Person wollte Keli auch werden: immerzu die unumstrittenen Tatsachen der Welt hinterfragend, nach Wahrheit suchend und fortwährend nach vorne blickend.

Unterdessen hatten sie die Lailac-Straße erreicht. Es waren längst nicht so viele Passanten unterwegs wie am Vorabend und auch die Rollläden vieler Geschäfte waren heruntergelassen. Als sie jedoch an der Strudelbude vorbeikamen, machte Keli große Augen. Eine Schlange von Wesen, länger noch als diejenige des Vortags, erstreckte sich aus dem Gebäude bis weit über den Bürgersteig hinaus.

»Ich sag doch, der Laden ist beliebt. Strubels Strudelbude; ziemlicher Zungenbrecher. Vor einem halben Jahr haben die sogar ihren ersten Shop im Bahnhof Wesenend aufgemacht, auf der gegenüberliegenden Seite von Kael«, ließ Anker beim Vorbeigehen nüchtern verlauten und schnupperte genüsslich in der vom Duft des aufgehenden Blätterteigs durchtränkten Luft. »So, und jetzt schauen wir mal, was unser lieber Loyd gerade treibt. Er hat mir heute Morgen schon zwei Lichtmails geschickt: Er sei fit wie ein Turnschuh, und dass wir sofort aufbrechen müssten, sonst gäbe es ein Unglück! Als ob ich das nicht selbst wüsste. Naomi und ich sind schließlich diejenigen, die schon seit Tagen am Warten sind. Ich hoffe stark, er hat keine Einwände, dass du dabei bist.«

Anker verlangsamte seine Schritte. Sie befanden sich nun unmittelbar vor dem Wachhäuschen des Hochschulareals. Der Professor feixte Keli für einen kurzen Moment spitzbübisch zu, dann verzog er sein Gesicht zu einer dümmlichen Grimasse. Keli musste lachen, als sie das sah, doch warum Anker sein klobiges Antlitz so lächerlich verunstaltete, wurde ihr erst im nächsten Augenblick bewusst. Anker stapfte erhobenen Hauptes auf das Wachhäuschen zu. Diesmal zog er nicht den Professorenausweis hervor, sondern ein kleines, nachtblaues Büchlein.

»Botschafterin Lanthorn, könntet Ihr auch mal rasch Euren Pass hervorholen?«, schnaubte Anker übertrieben hochmütig durch die Nase.

Keli begriff sofort und zog gleichermaßen wichtigtuerisch den Diplomatenpass hervor und streckte diesen dem Wachmann vor das Gesicht. Der stämmige Aufseher nahm die zwei Pässe mit sichtlichem Entsetzen in Augenschein. Sofort erhob er sich, strich sich das fettige Haar aus dem Gesicht und kam dann eilig aus dem Häuschen herausgestolpert.

»Eure Exzellenzen – äh, ich meine ›erhabene Botschafter‹ – zu Euren Diensten. Sonpick ist mein Name. Vergebt mir meine unreine Erscheinung. Darf ich Euch zu Eurer Destination geleiten?«, stammelte der junge blonde Mann, dem das Gesicht puterrot angelaufen war.

»Das wird nicht nötig sein. Wir gehen nur kurz ins Hospital, um jemanden abzuholen, dann machen wir uns wieder auf den Weg«, meinte Anker hochnäsig seine Fingernägel betrachtend.

»Sehr wohl, werte Botschafter, sehr wohl«, sagte der schlaksige Mann und verbeugte sich tief, als Anker und Keli an ihm vorbeigingen. Keli fühlte sich ein bisschen verlegen, aber zugleich auch belustigt. Nie hatte ihr irgendjemand solchen Respekt entgegengebracht, und nun wurde sie plötzlich wie eine Prominente behandelt. Was würde noch alles auf sie zukommen?

Augenblicke später hatten sie das dunkle, mit langen Baumwurzeln überwucherte Klinikgebäude erreicht, das vor ihnen weit in die Höhe ragte. Anker trat durch die sich selbst öffnende Eingangstür. Keli folgte ihm zum Fahrstuhl, den sie auch schon verwendet hatten, als sie Loyd am Tag zuvor besuchten. Als sich der Fahrstuhl schloss, brach Anker in grölendes Gelächter aus.

»Entschuldige den Scherz eben. Wir wären natürlich auch mit dem Professorenausweis in den Campus reingekommen, aber ich wollte, dass du siehst, wie ein Diplomatenpass auf die Beamten wirkt. Einen solchen Effekt hat das meistens aber nur in gehobeneren Kreisen. Viele aus den unteren Schichten wissen nicht einmal, dass es ein solches Dokument überhaupt gibt. Hast du übrigens gehört, wie er sich anfangs verhaspelt hat? Er hat uns als ›Exzellenzen‹ angesprochen, obwohl man das nur bei Diplomaten aus anderen Staaten tut. Da wir Bürger von Lichterloh sind, sind wir ganz einfach ›Botschafter‹.«

»Alles klar. Ich werde es mir merken«, sagte Keli beherrscht, die sich die Gepflogenheiten der Hochrangigen so rasch wie möglich einprägen wollte.

Sie waren vor dem Krankensaal angelangt, in dem Loyd stationiert war. Als Anker die Doppeltür mit seinem Bauch aufstieß, war Loyd auf den ersten Blick nicht zu entdecken.

»Verflixt!«, brummte Anker resigniert lächelnd. »Wo treibt sich der Hecht wohl wieder rum?«

»Von wegen ›rumtreiben‹«, kam es aus der Ecke links neben der offenen Tür. Loyd saß im Schneidersitz auf einem Stuhl und ließ das massive Lehrbuch sinken, hinter dem sein Kopf versteckt gewesen war. Er hatte eine dicke Lesebrille aufgesetzt, die, wie Keli dachte, Loyd ziemlich affenartig aussehen ließ.

»Gewartet habe ich, und zwar die ganze Nacht. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir schon gestern Abend aufbrechen können«, sagte Loyd vorwurfsvoll.

»Loyd, eins nach dem anderen. Du hast körperlich und seelisch eine schwere Zeit hinter, sowie vor dir. Und überhaupt, ›aufbrechen‹? Wohin es geht und warum die Expedition überhaupt angeordnet wurde, weißt du ja noch nicht einmal«, stellte Anker in ernstem Ton klar und stapfte mit finster verengten Augen auf ihn zu. Ankers gigantischer Schwabbelbauch kam wenige Zentimeter vor Loyds Knien zur Ruhe. Er neigte seinen Kopf vor und blickte auf den dicken Wälzer hinunter, den Loyd noch immer offenhielt. Loyd verzog sein Gesicht gleichermaßen zu einer skurrilen Grimasse und sah böse zu ihm auf.

»Mhm, mhm, du bist jetzt erst an deinen Hausaufgaben? Die Ferien sind bald vorbei und unser lieber Loyd ist noch nicht einmal fertig mit seinen Arbeiten. Was soll ich denn davon halten? So geht das aber gar nicht. Ich glaube, ich muss aufhören, dir Vorträge zu halten und dir lieber mal die Leviten lesen!«, rüffelte Anker, dessen Stimme zunehmend lauter geworden war. Keli wusste nicht, was da vor sich ging, oder warum Anker auf einmal so wütend war. Würde die Lage eskalieren? Würden sie sich … würden sie sich etwa schlagen? Dann brachen beide, Loyd und Anker, in schallendes Gelächter aus. Loyd hüpfte auf die Beine und tauschte einen heftigen Handschlag mit Anker. Anschließend klopfte ihm Anker freundschaftlich auf den Rücken. Keli stand vollkommen baff da und verstand die Welt nicht mehr.

»Altes Haus. Ich habe echt gedacht, du würdest ohne mich losziehen, als ich nicht von Hildenberge wegkonnte«, sagte Loyd beschwingt.

»Unsinn! Als mich deine zweite Lichtmail aus Hildenberge erreichte, in der du die Geräusche aus dem Gletscher und das Erdbeben erwähntest, habe ich mich sofort mit einem Rettungstrupp auf die Socken gemacht, um nach deiner Familie und dem Rest des Dorfes zu sehen. Leider war es schon zu spät und die Lichtmails, denen wir dann als Wegweiser folgten, haben uns schließlich bis zum Laternenweiher gelotst, wo Keli versuchte, dich huckepack zu nehmen. Du hast wirklich eine intelligente und tapfere Schwester, und du solltest stolz auf sie sein.«

Loyd seufzte plötzlich tief und senkte den Blick entmutigt zu Boden. »Verdammtes Unglück. Ich kann noch immer nicht fassen, was passiert ist«, flüsterte er voller Kummer und ballte dabei die Hände zu Fäusten.

»Keli, komm her!«, winkte sie Anker zu sich. Keli trat zu den zweien hinzu, woraufhin Anker den Blick der trauernden Geschwister suchte. »Hört mal zu, ihr beiden. Es tut mir unendlich leid, was euch, euren Eltern und der Gemeinde Hildenberge widerfahren ist, aber man kann es nicht mehr ändern. Ich weiß, es ist hart, aber lasst uns gemeinsam nach vorne blicken, denn was man beeinflussen kann, ist einzig die Zukunft, sonst nichts. Wir alle haben eine schwierige Zeit vor uns und müssen unsere Kräfte bündeln und vereinen, um dem entgegenzutreten, was uns unseren gesamten Fokus abverlangen wird. Loyd, ich habe es gestern Keli schon mitgeteilt: Eure Eltern sind vielleicht noch nicht verloren. Wenn sie tatsächlich von einem Sonnenloch verschluckt wurden, besteht die Chance, dass sie noch leben.«

»Ich wusste es!«, jubelte Loyd urplötzlich und machte einen Luftsprung.

»Schhhhh!«, zischte Anker, als ein Krankenpfleger, der gerade mit dem Versorgen der bandagierten Kinder aus Hildenberge beschäftigt war, empörte Blicke zu ihnen hinüberwarf.

»Ok. Von jetzt an wird nur noch geflüstert«, bedeutete Anker leise. »Also, die Sache ist die: Der Vorgang der Sonnenlochinfiltration ist tatsächlich in einem Schriftstück der frühen Neuzeit beschrieben und ich weiß, dass ich schon mal über diesen Mechanismus gelesen habe. Nur, das Dokument wird, so vermute ich, irgendwo in der Sonderabteilung der Universitätsbibliothek des Lichterloh-Campus verwahrt. Einerseits müssen wir es zuerst suchen und andererseits werden wir wegen der Überschwemmung für einige Wochen nicht in die Nähe von Hildenberge gelangen können. Lasst uns diese Angelegenheit, sobald wir aus Kael zurück sind, in Angriff nehmen. Bis dahin sollten die Bergungsleute den Weg wieder freibekommen haben. Loyd, nun zu dir«, sagte Anker kurz angebunden und fixierte ihn scharf. »Ich habe dich gestern Abend über meinen Entscheid, Keli ins Zentrum mitzunehmen, per Lichtmail unterrichtet und ich denke, die Botschaft ist auch angekommen. Hast du dagegen etwas einzuwenden?«

Loyd sah nachdenklich drein. Gerade eben war er noch strikt dagegen gewesen, dass Keli mitkam und hatte Anker eigentlich von seinem risikoreichen Vorhaben abbringen wollen. Keli war noch viel zu jung und unbesonnen, um dem Schrecken im Geschwärzten Zentrum standhalten zu können. Doch mit der neu erlangten Aussicht darauf, dass ihre Eltern vielleicht noch lebten, änderte sich natürlich eine Menge. Diese positive Aussicht könnte als Motivationsspender in den finsteren Gassen Kaels dienen, sodass Keli fähig wäre, sich auf dem Weg dorthin emotional über Wasser zu halten. Und es machte zugegebenermaßen auch Sinn, falls Ankers Theorie über die Vierfingrigen stimmte, dass Keli am besten bei ihm und Anker aufgehoben war.

Viel einwenden konnte er ohnehin nicht; er sprach immerhin mit einem der respektabelsten Professoren im ganzen Laternenwald.

»Tja, wenn es nicht anders geht …«, wisperte Loyd geringschätzig. Er schaute Keli nicht an, und diese wiederrum war aufgrund von Loyds Haltung ein wenig irritiert.

Wieso sprach Loyd so, als wäre sie ein fünftes Rad am Wagen? Schon wollte Keli den Mund öffnen, um Loyd zu vermitteln, es sei genau genommen seine Schuld, dass ihre Eltern heute nicht unter ihnen weilten, doch Anker war schneller: »Dann wäre das also geklärt. Du stimmst zu. Das Expeditionsteam trägt die Verantwortung für Keli.«

»Jaja, es wird wohl das Beste sein.«

»Gut, dann wäre das Thema hiermit abgeschlossen. Und nun zum Wesentlichen. Wie ihr wisst, habe ich Keli – äh, ich meine natürlich dich, Loyd – vor einigen Tagen für eine dringende Expedition nach Lichterloh bestellt.« Anker fasste sich ans Genick und fing hektisch an, dieses zu reiben, als litte er an einem steifen Nacken. »Professor Simimund, der in der Forschungsstation 1 den Zustand der Überschwärzung und des Unlichts überwacht, berichtete mir in einer Lichtmail, das Unlicht würde sich seit wenigen Tagen in exponentieller Geschwindigkeit vermehren und könnte ohne Gegenmaßnahmen in wenigen Wochen bis zu den inneren Mauern des Schwarzen Vorhangs vordringen. Selbst der hunderte Meter dicke Wall kann das Unlicht nur temporär aufhalten. Wenn es durch die Grotten des Vorhangs nach draußen gelangt, haben wir ein mächtiges Problem. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich herausfinden, was der Grund für die plötzliche Unlichtzunahme ist und unsere Erkenntnisse anschließend allen Regierungssitzen des Laternenwalds präsentieren. Nur so können wir alle Präfekturen dazu animieren, gemeinsam gegen das Problem vorzugehen. Ich selbst glaube, dass das seltsame Wetter in Hildenberge und der Einbruch des Bodens unter dem Dorf mit dem sich ausbreitenden Unlicht in Verbindung steht. Die Annahme stütze ich auf ein Ereignis, das euch sicherlich wohlbekannt ist: der erste Schneesturz, der dem Erfrorenen Dorf damals seinen Spitznamen einbrachte. Das geschah vor 160 Jahren, im Jahr 875 ab Neuzeit; und warum ich mich ausgerechnet an diese ungewöhnliche Jahreszahl erinnere, hat damit zu tun, dass eben auch in diesem Jahr das Unlicht außer Kontrolle geraten ist.«

»Ah, ›Die Schwarze Krise‹, darüber hast du mal im Unterricht gesprochen«, ergänzte Loyd, nachdenklich sein Kinn in die Hand stützend.

»Jo. Wichtig ist hierbei, dass sich die Krise und der Schneesturz des Erfrorenen Dorfs zeitgleich zutrugen. Damals steckte das Fürstentum Nihilis dahinter, dessen Leute im Zentrum illegale Experimente durchführten, um das Unlicht zu vervielfältigen – nicht unbedingt das, was wir hier in Lichterloh als sehr klug bezeichnen würden, stimmt`s? Jedenfalls hat man die Übeltäter erwischt und dem Fürstentum als Sanktion den Zutritt nach Kael bis auf Weiteres verboten. Damals spielte das Wetter im ganzen Laternenwald verrückt. Was wir aus dem damaligen Vorfall herleiten können, ist, dass es zwischen der Ausbreitung des Unlichts und dem jüngsten Schneesturz in Hildenberge einen Zusammenhang geben könnte. Gut. Das wäre einer der offenen Punkte, für den wir auf der Expedition ins Zentrum eine Antwort suchen werden.«

Loyd zog unverzüglich ein kleines Notizbüchlein hervor und begann, zu kritzeln. Mit der Streberbrille sieht er urkomisch aus, dachte Keli, die sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte. So eifrig hatte sie ihren Bruder noch nie gesehen.

»Dann noch ein paar Formalitäten«, fuhr Anker fort. »Auf unserer Mission geht es diesmal in der Theorie darum, herauszufinden, warum sich das Unlicht so rapide vermehrt und in welchem Ausmaß es sich verbreitet – demzufolge auch, welche Konsequenzen dies für Lichterloh und die anderen Präfekturen haben könnte. In der Praxis ist es aber unser Ziel, herauszufinden, ob Lichterloh sich die Hände schmutzig machen und mit den anderen Präfekturen zusammen eine Lösung erarbeiten muss. Das ist der Zweck der Expedition und der Grund, weshalb sie überhaupt vom Staat verfügt wurde und finanziell unterstützt wird.«

»Oder, ob Nihilis, falls es erneut die Finger im Spiel hat, wieder einmal eingeheizt werden muss«, fügte Loyd verwegen hinzu.

»Du hast es erfasst«, sagte Anker anerkennend, einen wurstähnlichen Zeigefinger in Loyds Richtung schwenkend. »Am Ende der Mission werden wir alle Daten zusammentragen und einen idiotensicheren Rapport für den Regierungsrat erstellen, damit die Lümmel in der Behörde auch verstehen, welch komplizierte Sachverhalte die Welt da draußen zu verdauen verlangt.«

Loyd und Keli schmunzelten beide etwas träge in die Runde.

»Und schließlich«, Anker sprach so leise, dass die beiden die Ohren spitzen mussten, »werden wir herausfinden, ob ihr zwei nun Nachkommen von Lailac seid oder nicht. Hier ist dein Diplomatenpass, ab heute sechs Monate gültig, und der übliche Proviant.«

Keli sah Loyds Augen aufflackern, als er den Umschlag und den Rucksack entgegennahm.

Nachdem Loyd seinem zuständigen Arzt mehrmals beteuert hatte, er sei kerngesund und bei dessen aufkeimender Skepsis noch anfing, mit seinem frisch ergatterten Diplomatenpass herumzufuchteln, musste das Krankenhaus ihn wohl oder übel entlassen. Draußen strahlte das Mittagsgrün grell auf die üppigen Walddächer der Hochschule. Die drei Botschafter waren auf dem Weg zur Wasserbahn, einem Transportmittel, welches die Strömung von Wasser als Energiequelle nutzte, und mit dem man schnell und sicher durch die Städte und Dörfer Lichterlohs pendeln konnte. Lichterloh interessierte sich schon lange für Alternativenergie und versuchte, mit Mitteln, die kein oder nur wenig Licht verbrauchten, die täglichen Bedürfnisse der Bürger zu regeln.

Am Bahnhof Herbstfeld angekommen, stapfte Anker vor den Ticketschalter und beschaffte allen dreien einen Fahrschein nach ›Lichterloh-Hauptbahnhof‹. Eigentlich war es möglich, vom Hauptbahnhof aus die Untergrund-Wasserbahn zum Lichterloh-Campus der HHF zu nehmen, doch auf diesen Fahrschein – wie Loyd bemerkte – hatte Anker verzichtet.

Sie durchschritten eine Untergrundpassage des Bahnhofs und tauchten neben dem wartenden Zug wieder auf. Keli war sehr aufgeregt. Das letzte Mal, als sie mit diesem Zug gefahren war, war sie zehn gewesen. Damals hatte sie höllische Angst gehabt, als sich das Gefährt in Bewegung gesetzt hatte. Der Zug war unzählige Abteile lang, was auch kein Wunder war, denn tausende Wesen waren täglich auf dieses Transportmittel angewiesen. Da es Feuertag war – Dienstag auf Kaelisch – und später Morgen noch dazu, war der Bahnhof gut passierbar und nur wenige Fußgänger waren unterwegs. Loyd war sogar der Auffassung, dass er noch nie so wenig Volk auf den Plattformen neben den mit Wasser gefüllten Schächten gesehen hätte. Tatsächlich stiegen nur ein älteres Pärchen und ein paar Studenten, die wahrscheinlich zum Campus in die Hauptstadt fuhren, mit ihnen ein. Wie immer in der Wasserbahn war es ein seltsames Gefühl, das Abteil zu betreten und sich durch die Sitzreihen zu bewegen. Je nachdem, wieviel Gewicht links und rechts im Zug verteilt war, schaukelte der Wagon hin und her wie ein kleines Boot.

Dann war Anker mit Einsteigen an der Reihe. Loyd und Keli, die bereits die Stufen ins Abteil bestiegen hatten, mussten sich an den Sitzlehnen vor ihnen festhalten, damit sie nicht hinfielen. Das alte Pärchen, das gerade dabei war, die Taschen in die Ablageflächen über ihren Köpfen zu verstauen, wurde unfreiwillig, aber zielrichtig in den Sitz katapultiert. Anker selbst hatte keine Mühe mit dem Gleichgewicht. Vielmehr stellte sich die Frage, wie er durch die Sitzreihen kommen sollte. Zum Glück waren die Sessel um die Achse schwenkbar. Umständlich drehte Anker die erste Sitzreihe Richtung Passiergang und ließ sich schwerfällig darauf nieder. Loyd und Keli nahmen in der Reihe vor ihm Platz. Die drei Rucksäcke verstauten sie auf der Gepäckablage über ihren Köpfen.

Die Fahrt ging los und die städtische Aussicht vor den Zugfenstern begann sich rasch zu verändern. Am Anfang waren die Gebäude noch turmhoch und waldbewachsen, dann nahm die Größe der Häuser allmählich ab, woraufhin sich dichte Sträucher und wuchtige Laubbäume im weiten Terrain breitmachten. Jetzt, da Keli zum ersten Mal so richtig bewusst wurde, wo sie sich befand, musste sie angesichts des vielen Waldes einfach staunen. In all den Ebenen zwischen Herbstfeld und Lichterloh schien die Natur praktisch unberührt. Vor drei Jahren noch war ihr der Dschungel jenseits der Fensterscheiben völlig egal gewesen; sie hatte sich damals die ganze Fahrt hindurch in ein Blattspiel vertieft. Doch nun konnte sie nicht anders, als das Fenster neben sich zu öffnen, um den üppigen Laubwald mit seinen gigantischen, moosbewachsenen Bäumen davor zu bewundern. Die Baumspitzen waren kaum erkennbar, als Keli den Kopf aus dem Fenster hinausreckte, so dicht war das Astwerk und so gewaltig die Stämme.

Der kühle Wind, wie auch die plötzlich in ihr aufkeimende Freude an der unmittelbaren Nähe zur Natur trieben ihr jähe Tränen in die Augen. Die vorbeirauschende Luft roch herrlich nach Kräutern und Pilzen. Eine Klangwelt von paradiesischen Lauten, die Keli nie zuvor gehört hatte, drang an ihre begierigen Ohren. Der Zug strömte an, von dichtem Moos und glitzernden Blumen umwachsenen Weihern vorbei, an denen sich kleine, farbenfrohe Kreaturen tummelten und ihr Leben augenscheinlich genossen.

Diese Welt da draußen, sie ist einfach nur traumhaft schön, dachte Keli berauscht. Was hatte sie in Hildenberge bloß alles versäumt? Was sie in diesem Augenblick vor sich sehen, hören, riechen und spüren konnte, dies war die grüne Welt; eine sich stetig bewegende Welt, die unbedingt von ihr entdeckt werden wollte.

Loyd stupste Keli an, in deren Augen er ein aufgeregtes Funkeln zu erkennen vermochte.

»Wahnsinn, nicht wahr? Als ich das erste Mal allein in diesem Zug nach Lichterloh saß, ging es mir genauso. Und das ist gerade mal ein klitzekleiner Teil des Laternenwalds. Auch die Flora und Fauna, also die Pflanzenwelt und die Wesen, die ein Gebiet bevölkern, sind an anderen Orten wieder ganz verschieden von diesen hier«, erklärte Loyd an Keli gewandt.

Keli sah Loyd erstaunt an. »Ich wusste gar nicht, dass der Laternenwald so interessant ist. Ich meine, was sind das alles für Wesen da draußen? Wie groß ist der Wald überhaupt?«

»Genau das versuchen wir in der ›Exploration‹ herauszufinden, weißt du? ›Explorieren‹ ist ein sehr altes Wort und hat seine Wurzeln in der Ursprache ›Englisch‹, in der es ›auskundschaften‹ bedeutete.«

Dann hob Loyd die Hand und begann, an den Fingern aufzuzählen, mit welchen Disziplinen das Studium zu tun hatte: »Hauptsächlich geht es bei der Exploration darum, herauszufinden, wie groß die Flächen des Laternen- und Sternenwalds sind, was dort lebt und wächst, wie viele Sonnenlöcher es gibt, ob es noch andere Menschenwesen und Urwesen gibt, welche die Universale Fusion überlebt haben, ob die neu entdeckten Gebiete bewohnbar sind, was für Gefahren dort draußen lauern und natürlich, ob sich eine Lösung für die Unlichtplage finden lässt. Von Unlicht hast du schon mal gehört, oder?«

»Ja, Anker hat mir davon erzählt.«

»›Anker‹?«, zischte Loyd aufgebracht. »Für dich heißt das ›Professor Ankerbelly‹.«

»Schon gut, Loyd. Ich habe ihr erlaubt, mich so zu nennen«, hallte Ankers Stimme von hinten zu ihnen herüber.

»Ach so – verstehe. Alles klar«, antwortete Loyd, sich albern vorkommend, weil er seine Schwester so angefahren hatte.

Natürlich hatte Anker Keli erlaubt, ihn so zu nennen. Sie war ja nun ebenfalls ein Mitglied des Teams. Aber er – er musste wieder ausrasten, und nun hatte er den ersten anständigen Dialog mit seiner Schwester seit dem Unglück in Hildenberge verdorben. Eigentlich wollte er sich für das Ereignis in der Berg-Rutschstation entschuldigen, als er Keli ohne Vorwarnung in den Schacht gestoßen hatte. Über sich selbst verärgert, neigte Loyd sich nach vorn, legte die Stirn auf seine geballte Faust und schloss die Augen.

Keli war bei Loyds Anfall zusammengezuckt und bestürzt darüber, dass er keine Anstalten machte, sich zu entschuldigen. Das war eine Seite an ihrem Bruder, die Keli nicht schätzte. Älterer Bruder hin oder her, man sollte sich entschuldigen, auch wenn der Fehler unbeabsichtigt gewesen war.

Loyd stand abrupt auf, ging zwischen den Sitzreihen hindurch und verschwand anschließend im Klo am Ende des Abteils. Loyd blieb eine ganze Weile weg, und Keli fragte sich schon, was er so lange trieb, als die Klotür wieder aufging und er durch die Reihen zurückgetorkelt kam. Er sieht alles andere als frisch aus, fand Keli. Loyd setzte sich wieder hin, verschränkte die Arme und schloss die Augen. Die Art und Weise, wie Loyd mit der Situation umging, war Keli zuwider. Auch sie verschränkte die Arme und stierte betrübt aus dem Fenster. So ein Idiot, dachte Keli wütend. Sie hatte rein gar nichts verbrochen. Was sollte dieses herablassende Getue? Vielleicht sollte sie ihn auf sein Verhalten ansprechen und ihm mal ihre Meinung geigen.

Doch dann schwappte Ankers Stimme erneut über die Sitzstützen: »Übrigens wurde Vigilanz-Stufe 5 ausgesprochen. Es ist höchste Vorsicht angesagt in Lichterloh. Unser Geheimdienst hat verlauten lassen, dass sie Informationen über einen möglichen Anschlag erhalten haben. Die Schmelzfront könnte schon wieder etwas aushecken, und darum sollten wir nicht ausgerechnet jetzt zu lange im Stadtzentrum herumlungern. Wir meiden auch die U-Wasserbahn und gehen zu Fuß zum Campus, das ist sicherer.«

»Das denke ich auch. Am besten begeben wir uns direkt zur Bibliothek, wo Naomi auf uns wartet«, erwiderte Loyd seitwärts um den Sitz herum.

»Diese Typen, die Schmelzfrontler«, begann Keli, die Ankers Mitteilung in diesem Moment doch mehr bekümmerte als Loyds Blasiertheit. »Wenn doch Lichterloh einen Wall um die Stadt gebaut hat und alle Leute, die ein- und ausgehen, kontrolliert werden, wie können sie dann in Lichterloh einen Anschlag verüben? Die kommen doch aus Atlas, oder etwa nicht?«

Loyd, der Kelis Frage als Zeichen der Versöhnung verstand, sagte nun wieder etwas heiterer: »Meine Theorie ist, dass die Terroristen ihre Spione schon längst in Lichterloh eingeschleust haben und so von innen ihre Attentate planen. In Lichterloh wird oft gemunkelt, dass die Schmelzfront insgeheim eine durch Atlas’ Regierung gestützte Geheimorganisation wäre, die das extremistische Verhalten der Attentäter nur als Vorwand nutzte, um sich während eines Anschlags im unweigerlich folgenden Chaos Zutritt zu gesicherten Gebäuden zu verschaffen. Es heißt, Atlas schicke diese Leute, um in Bunkern und Tresorräumen nach Artefakten wie dem Kaelischen Index oder der Lichterlohenen Weinbeere zu suchen.«

Der Ausdruck ›Lichterlohene Weinbeere‹ hatte eine seltsame Auswirkung auf Kelis Gedächtnis, den sie nicht so richtig einordnen konnte. Sie wollte sich gerade erkundigen, was es mit dieser interessanten Frucht auf sich hatte, als die Abteiltür aufging und ein Kontrolleur, gefolgt von einer uniformierten Stadtwache, hereingetreten kam. Keli erkannte sofort das geschwärzte Holzschwert, das die Wache trug. Davon hatte sie schon gelesen und fand es aufregend, eines aus nächster Nähe bestaunen zu können. Wenn sie sich richtig erinnerte, diente die negative Ladung dazu, einen Widersacher mit einem Treffer per Lichtentzug kampfunfähig zu machen.

Der Kontrolleur prüfte gerade die Fahrkarten und die Reisepässe des alten Pärchens, das einige Reihen vor ihnen saß.

»Zückt eure Tickets und Pässe«, forderte Anker das Lanthorn Geschwisterpaar auf.

Sie brauchten nicht lange, bis die wohlumsorgten Ausweise in ihren Händen parat lagen. Als Kontrolleur und Wache nähertraten, winkte Ankers Diplomatenpass über die Lehnen und seine Stimme gellte abermals durch das Abteil: »Herr Kontrolleur – hier rüber bitte.«

Der untersetzte Mann kam mit zusammengekniffenen Augen näher.

»Ausweis- und Fahrkartenkontrolle«, ließ er offiziell verlauten.

»Jaja, schon gut«, sagte Anker abschätzig. »Letztendlich bräuchten wir ja nicht einmal ein Ticket.«

Der Kontrolleur verstand nicht, was Anker meinte und sah nur flüchtig auf die drei Fahrscheine, als alle Farbe aus seinem Gesicht wich.

»Donnerwetter. Salbo, komm … komm schnell her!«, stammelte er.

»Soso, haben wir die blinden Passagiere wieder einmal auf frischer Tat ertappt?«

»Nein, Salbo. Keine b-blinden Passagiere. Bo-Bo-Botschafter«, stotterte der Kontrolleur.

»Oh, tatsächlich? Moment, ich komme«, sagte Salbo überrascht und trat auf die Sitzreihe zu, wo Loyd und Keli mit verdatterten Gesichtern saßen.

Die restlichen Leute im Wagon hatten die Bemerkung des Kontrolleurs nicht überhört und steckten nun neugierig die Köpfe in den Passiergang, um einen Blick auf die Prominenten zu erhaschen. Loyd und Keli schauten verlegen drein und wussten nicht recht, was sie sagen sollten.

»Dürfte ich mal sehen?«, bat Salbo Loyd höflich.

»Ja, natürlich.«

»Moooment.« Ankers Hand fuchtelte wieder in der Luft umher. »Bitte, kommen Sie hierher, zu mir. Sofort!«

Salbo ging ohne Widerrede am Kontrolleur vorbei und begab sich vor Ankers aus der Reihe quellenden Bauchspeck.

»Wir wollen einfach nur unsere Ruhe haben – verstehen Sie?«, sagte Anker mit schneidender Stimme. »Veranstalten Sie hier kein Theater, wenn ich bitten darf. Wir sind Abgesandte des Staates und wollen nicht gestört werden. Damit sollte alles geklärt sein.«

»Verzeiht unser unwürdiges Auftreten, Herr Botschafter«, sagte Salbo respektvoll, doch nicht eingeschüchtert wie der Kontrolleur neben ihm. »Wir werden uns selbstverständlich unverzüglich zurückziehen, doch erlaubt uns, im Abteil nebenan zu verweilen, bis wir in Lichterloh angekommen sind, um Eure Sicherheit zu gewährleisten. Die Vigilanz-Stufe ist zurzeit erhöht, und wir sind angewiesen, für den Schutz aller Gäste zu sorgen, besonders, wenn es sich um VIP-Kundschaft handelt.«

»Sie scheinen Ihre Arbeit zu verstehen. Ich verlasse mich auf Sie«, versetzte Anker brüsk.

Salbo verbeugte sich tief und gab dem erstarrten Kontrolleur nebenan einen Klaps, der sich, etwas verspätet aus seiner Starre erwachend, ebenfalls übertrieben tief verneigte. Dann verschwanden sie hinter der Tür, die zwei Wagonabteile miteinander verband und die wenigen Leute, die noch immer ihre Köpfe reckten, zogen diese tuschelnd wieder ein. Eine Durchsage ließ verstehen, dass sie in einer halben Stunde in Lichterloh-City ankommen würden.

»Schon krass, wie die alle reagieren, wenn man so einen Pass besitzt«, bemerkte Keli und gluckste leise vor sich hin.

»Jetzt weiß natürlich der ganze Zug, dass Zielscheiben der Schmelzfront nach Lichterloh fahren. Wirklich toll!«, murrte Loyd verärgert.

Anders als Keli wirkte Loyd wieder genervt. Er konnte es nicht leiden, wenn Anker seine diplomatische Überlegenheit demonstrierte. Für ihn war es einfach falsch, Autorität auf diese Weise auszuüben, wenn sie doch für einen ganz anderen Zweck gedacht war. Je mehr Macht man besaß, umso weniger sollte man sie zeigen. Das hatte er bei anderen Dozenten wie Professor Tottoy zu schätzen gelernt. Dazu kam, dass Anker Keli ein falsches Bild von der akademischen Welt vermittelte. Ehe sie nach Kael aufbrechen würden, musste er unbedingt mit Keli noch einmal unter vier Augen sprechen, um sie über die Gefahren und grundlegenden Verhaltensweisen eines staatsvertretenden Wissenschaftlers aufzuklären. Im Hotel heute Abend würde er sie darauf ansprechen.

Sie machten gerade Halt am ersten Bahnhof seit dem Verlassen von Herbstfeld. »Kunterbunt«, konnte Keli auf einer digitalen Tafel über der Tür am Ende des Abteils lesen. Als ihr Loyds finsterer Gesichtsausdruck auffiel, sank ihr Herz wieder in die Hose. Was ist ihm nun wieder über die Leber gekrochen?, dachte Keli verdrießlich. Wieso um Himmels Willen war ihr Bruder in letzter Zeit immer so schlecht gelaunt? Hatte er vielleicht doch etwas dagegen, dass sie auf der Mission mit dabei war? Oder war er etwa eifersüchtig auf ihre gute Beziehung zu Anker? Von Loyds Trübsinn angesteckt und über hundert möglichen Gründen brütend, warum Loyd eine missgestimmte Grimasse zog, sagte Keli bis zum Ende der Fahrt kein Wort mehr.

Die Aussicht draußen veränderte sich abermals von Hütten und Bauernhöfen zu Einfamilienhäusern, dann zu breiten Straßen, auf denen einzelne Gefährte und Wesen hin- und herstreiften, bis die Gebäude so riesig wurden, dass man deren Dächer vom Zugfenster aus gar nicht mehr erkennen konnte. Einzig die langen Äste und Wurzeln, die man an den Fassaden der Hochbauten herunterhängen sah, deuteten darauf hin, dass die Gebäude nicht unendlich hoch waren. Ein Werbeplakat nach dem anderen zog an Kelis Augen vorbei: »Willkommen in Lichterloh, in der Stadt der grünen Tugend« … »Greenhill Luxury-Resort, 2 Minuten zu Fuss« … »CloudX – das naturtrübe Siebbier – jetzt auch mit Rosinengeschmack«. Keli zuckte für einen Augenblick auf.

»Siebbier« – das war das Zeug, das die Leute in der Lailac-Straße getrunken hatten. Was würde sie geben, um jetzt schon sechzehn zu sein. Sie wollte alles probieren, was die Welt zu offerieren hatte, jetzt, wo das Schicksal ihr den Weg in den Laternenwald eröffnet hatte. Ursprünglich war es – im Gegensatz zu Loyd – Kelis Absicht gewesen, für immer in Hildenberge zu bleiben und die Arbeit ihrer Familie fortzuführen, doch der Ausblick auf die Vielfalt und schiere Größe des Laternenwalds ließen diesen Lebensweg das erste Mal in ihrem Leben in Vergessenheit geraten. Sie würde alles versuchen, von allem kosten, die Zeit als Prominente bis zum Äußersten ausschöpfen, und Siebbier gehörte ab sofort ganz oben auf ihre Prioritätenliste. Und Loyd würde ihr ihre neuen Vorsätze mit seiner schlechten Laune nicht verderben.

Der Zug begann, langsamer zu werden. Die Lautsprecher ertönten erneut: »Endstation – Lichterloh-Hauptbahnhof. Willkommen in der Stadt der grünen Tugend. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Bitte achten Sie darauf, kein Gepäck im Zug zurückzulassen. Wir bedanken uns, dass Sie heute mit der Intercity-Wasserbahn gefahren sind und freuen uns, Sie bald wieder begrüßen zu dürfen.«

Kelis Herz begann, schneller zu pochen. Sie waren in Lichterloh angekommen, in der Stadt, von der aus das Abenteuer seinen Lauf nehmen würde.

Die Laternenwald-Expedition

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