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Kapitel 1: Siegfried
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Samenraub
und wahre Liebe
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Aus dem Inhalt: Nach lustvollen Monaten, in denen Isabel Gander ihn die Kunst zu lieben lehrte, bekam der siebzehnjährige Siegfried Krause einen Schlag zwischen die Augen. Weinend teilte Isabel ihm mit, er müsse sie vergessen. Sie werde mit ihrer Freundin Alma Schuster nach München ziehen. Aus, Schluss, vorbei. Wochenlang hing Siegfried durch. Für die Schule tat er nur das Nötigste. Meistens saß er am Fenster in seinem Zimmer, glotze auf den Zwetschgenbaum im Garten und dachte an Isabel. Er sei ein Fall für den Doktor, meinte seine Mutter und schickte ihn zu ihrem Hausarzt. Dank der ärztlichen Kunst sah Siegfrieds Welt bereits nach wenigen Tagen nicht mehr dunkelgrau aus. Isabel trat in den Hintergrund und machte Platz für Brigitte, ein Mädchen aus seiner Schulklasse. Bei der Party zu Brigittes achtzehntem Geburtstag verliebten sich Brigitte und Siegfried. Selbst als sie lange Zeit getrennt leben mussten, hielt ihre wahre Liebe sie zusammen. Ein paar Tage vor Brigittes sechsunddreißigstem Geburtstag klingelte eine junge Frau an ihrer Tür. Schüchtern sagte sie, sie heiße Sonja und sei die Tochter von Alma Schuster. Sonja blickte Siegfried lange ins Gesicht, dann stellte sie lächelnd fest, er habe die gleichen Augen wie sie. Nun wisse sie, wer ihr Vater ist. Was? Verwundert schüttelte Siegfried den Kopf. Nachdem er sich gefasst hatte, erwiderte er, mit Alma Schuster habe er nie Sex gehabt. Er könne nicht ihr Vater sein. Oder doch?
Personen und Namen sind frei erfunden. Jegliche Übereinstimmung mit der realen Welt ist zufällig und nicht beabsichtigt.
Über Benno Wunder: Benno Wunder ist ein Pseudonym. Nach Stationen in Stuttgart, Tübingen, München, Dortmund, Princeton, Basel, Bangalore und New York lebt der Autor am Bodensee.
Samenraub und wahre Liebe ist ein neuer Roman des Autors von Ein zerrissenes Leben und Abschied mit schwarzer Rose.
Siegfried fragte sich, ob sein Vater ihn wirklich liebte, denn der alte Herr ging immer wieder fort und ließ ihn und seine Mutter allein. Ab und zu sandte er einen Brief oder eine E-Mail aus einem fernen Land, aus Bolivien oder dem Kongo. Darin schilderte er in einfühlsamen Worten, welche Pflanzen dort wuchsen, welche Tiere er sah, und was für Menschen er kennenlernte: Wundervolle Typen, die ganz anders lebten als wir. Am schönsten fand Siegfried immer den letzten Satz, in dem sein Papa von Sehnsucht schrieb und der Freude, bald wieder seine Liebsten umarmen und herzen zu können. Aufgedreht, weil sein Gehirn zu viele Glückshormone produzierte, erwartete Siegfried jedes Mal diesen großen, in Jeans gekleideten Mann, dem er ähnlich sah.
Der Vater, Leopold Krause, arbeitete als Geologe für einen weltweit tätigen Bergbaukonzern, der in Bolivien nach Lithium und im Kongo nach Kobalt schürfte. Lithium und Kobalt brauche man, um leistungsfähige Batterien herzustellen, erklärte der Vater, kleine Batterien für Handys und große für Elektroautos. Stolz gab Siegfried diese Worte an seine Kameraden weiter. Weil die meisten sich nicht vorstellen konnten, ohne ihr Handy zu leben, bewunderten sie Siegfrieds Vater für dessen aufopferungsvolle Tätigkeit zum Wohle der mobilen Kommunikation. Ein Teil des väterlichen Glanzes blieb an Siegfried hängen.
Das sei fantastisch, sagte Thomas, einer der Kameraden. Nach Bolivien und in den Kongo würde er auch gerne reisen, meinte Georg. Schüchtern lächelnd trat Karin zu Siegfried und fragte ihn, ob er auch Geologe werden wolle.
Darüber hatte Siegfried sich noch keine Gedanken gemacht; außer Astronaut reizte ihn kein Beruf. Doch jetzt, da er sah, wie sehr seine Kameraden einen Geologen schätzten, antwortete er mit ja und ließ durch ein angehängtes vielleicht andere Möglichkeiten offen.
Jacko, der neidisch war, dass Siegfried plötzlich im Mittelpunkt stand, sagte lachend in die Runde, vielleicht wird Siegfried Friseur. Damit spielte er auf den Beruf von Siegfrieds Mutter an, die im Erdgeschoss ihres Wohnhauses einen kleinen Friseursalon betrieb.
Vor sechzig Jahren, als die Häuser in ihrer Straße entstanden, markierten sie das nordwestliche Ende der aufstrebenden Gemeinde in der Nähe des Bodensees. Fotos aus jener Zeit zeigten kleine Häuser auf großen Grundstücken mit Obstbäumen und Gemüsebeeten. Über die Jahre hin dehnte sich das Städtchen aus; neue Wohnstraßen entstanden bis hin zu einer Nachbargemeinde, die sich nur kurz dagegen wehrte, Teil eines größeren Ganzen zu werden.
Siegfrieds Eltern kauften das Haus vor fünfzehn Jahren, bauten es kräftig um und schafften Platz für den Friseursalon. Sie waren nicht die einzigen, die ihr Haus vergrößerten; auch die Nachbarn werkelten an ihren Häusern herum, errichteten hier einen Anbau, dort einen Vorbau oder einen nach Süden gerichteten Wintergarten. Und Garagen kamen hinzu. Ein heute aufgenommenes Luftbild von dieser Straße hatte wenig gemein mit dem Foto aus der frühen Zeit.
Alle drei Monate kam der Vater nach Hause und blieb dann für zwei Wochen, zauberhafte vierzehn Tage, in denen er tagsüber Siegfried und nachts Hanni, seine Frau, glücklich machte.
Am Sonntagmorgen fragte Siegfried seine Mutter, ob es ihr wieder gut gehe, er habe sie in der Nacht schreien hören.
Ja, sie fühle sich wohl, sie habe vor Glück geschrien, antwortete die Mama.
Na, wenn das so ist, dachte der damals neun Jahre alte Junge, dann schreie ich auch. Ein Anlass dazu bot sich ihm bereits am Nachmittag. Nach dem gemeinsamen Spaziergang, der wegen Regen kurz ausfiel, setzten sie sich zu dritt an den Tisch im Wohnzimmer.
„Sollen wir ‚Mensch ärgere dich nicht‘ spielen, oder wollt ihr noch etwas von meinen Reisen hören“, fragte der Vater.
„Lieber von deinen Reisen, bitte, bitte“, bettelte Siegfried.
Über Siegfrieds Wissbegierde lächelnd gab die Mutter ihr okay.
Der Vater blätterte in seinem Reisetagebuch, hielt an manchen Stellen an und erzählte wundervolle Geschichten von Indios und Guanakos in Bolivien und von schwarzen Menschen und Leoparden im Kongo. Seine Worte begleitend zeigte er selbst gezeichnete Skizzen und fantastische Fotos. Die Nahaufnahme einer Leopardin mit zwei tapsigen Jungen machte Siegfried so glücklich, dass er schrille Schreie ausstieß: i-i-i-i-i-i-i-i. Seine Eltern blickten ihn verwundert an, dann lachten sie und umarmten ihn, und dann lachten alle drei zusammen.
Dass Glück vergänglich ist, erfuhr Siegfried in den nächsten beiden Jahren. Immer öfter stritten sich seine Eltern. Die Mutter schrie den Vater an, er solle bei seinen wilden Weibern in Afrika bleiben. Der Vater antwortete mit ruhiger Stimme, nein, sie bilde sich da etwas ein. Sein zuhause sei hier bei seiner Frau und seinem Sohn. Solange er hier war, stritt sie mit ihm, und wenn die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, weinte sie. Der Vater schrieb nun seltener einen Brief, und er kam nicht mehr alle drei Monate zu ihnen. Schließlich kam er gar nicht mehr. Im folgenden Jahr ließen seine Eltern sich scheiden. Es war furchtbar; seine Mutter weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte, und Siegfried weinte mit ihr.
Oma Christa eilte aus Aschaffenburg herbei, um ihre Tochter und ihren Enkel in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen. Eine große Hilfe war die Oma nicht, im Gegenteil: Mit ihrer Tochter stritt sie herum und warf ihr vor, sie könne keinen Mann halten. Die Mama ließ sich das nicht gefallen; sie schrie die Oma an, das könne sie nun wirklich nicht beurteilen; ihre Vorwürfe solle sie sich sonst wo hinschieben. Nach zwei Tagen reiste die Oma ab. Siegfried freute sich, dass wieder Ruhe einkehrte. Die Streitereien in Omas fränkischem Dialekt waren ihm gewaltig auf die Nerven gegangen.
Seine anderen Großeltern, Oma Hilde und Opa Horst, erfuhren erst spät von der gescheiterten Ehe ihres Sohnes. Uns sagt man ja nichts, schimpfte der Opa; man könnte meinen, wir lebten hinter dem Mond.
Nein, nicht hinter dem Mond aber ziemlich weit weg. Als sie in Rente gingen, ließen sie sich auf Mallorca nieder und kamen selten, und immer nur für ein paar Tage nach Offenburg in ihr Haus. Dort wohnte jetzt ihre Tochter Waltraud mit Theo, ihrem Mann, und ihrem Sohn Max.
Vor ein paar Jahren besuchte Siegfried zusammen mit seinem Papa die Großeltern in Offenburg. Gerne erinnerte er sich an die herzliche Wärme, die Oma und Opa versprühten. Auch gab es viel zu lachen über die lustigen Reime, die Oma verfasste, und über die ebenso lustigen Zeichnungen, mit denen Opa die Reime illustrierte. Damals arbeiteten beide bei einem großen Verlag. Seit ein paar Jahren reimten und zeichneten sie auf Mallorca. Gerade hatten sie ein Kinderbuch für Sechsjährige fertiggestellt.
Damit Siegfried auf andere Gedanken komme, luden Oma und Opa ihn nach Mallorca ein. Sobald die Schulferien begännen, solle er zu ihnen fliegen. In den Häusern ringsherum gebe es einige Spielkameraden in seinem Alter. Siegfried freute sich und schrieb schon auf, was er alles mitnehmen wollte. Leider hatte seine Mutter etwas dagegen. Für eine Reise mit dem Flugzeug sei er noch zu klein, meinte sie. Auch sein Weinen half ihm nicht. Traurig dachte er an seine Großeltern und an seine Papa.
Die kleine Steinsammlung auf seinem Regal und die Gitarre erinnerten Siegfried täglich an seinen Papa. Er vermisste ihn sehr. Vorbei waren die schönen Stunden, in denen der Vater mit ihm durch Wald und Wiesen streifte und ihm die Natur erklärte. Bei jedem Felsen wusste Papa, wann und wie er entstand, ob Kräfte im Erdinneren ihn emporgehoben oder ein Gletscher ihn hierher geschoben hatte. Gefiel ihnen ein kleiner Stein, nahmen sie ihn mit und legten ihn zu den anderen auf das Wandregal neben seinem Schreibtisch.
Auch bei Bäumen und Sträuchern kannte Papa sich aus und nannte seinem Sohn die Namen und die charakteristischen Merkmale. Auf diese Weise lernte Siegfried früh die Tanne von der Fichte zu unterscheiden. In den Ferien besuchten sie ein Museum, das Botanik mit Geologie verband: Versteinerte Pflanzen überall - versteinertes Holz längs und quer geschnitten, versteinerte Schachtelhalme, Farne und Laubblätter. Siegfried war begeistert.
Wenn es regnete und stürmte blieben sie zuhause und musizierten. Während Papa einen Song auf der Gitarre vorspielte, hörte Siegfried aufmerksam zu; dann war er an der Reihe. Natürlich klappte es nicht auf Anhieb, doch mit Papas Hilfe machte er Fortschritte. Wie lange er geübt habe, bis er so gut spielen konnte, fragte Siegfried seinen Vater. Das wisse er nicht mehr, antwortete der Alte. Bestimmt habe er ein paar Jahre gebraucht.
Jetzt war der Vater fort. Oh je, stöhnte Siegfried. Wie sollte er ohne Papa mit seinem Gitarrenspiel vorankommen.
Der Vater verzichtete auf seinen Anteil am Haus und am Friseursalon, stellte aber die monatlichen Überweisungen ein. Für die Mutter bedeutete das, dass sie sich eine Haushaltshilfe nicht mehr leisten konnte; nur zum Putzen kam jede Woche eine Frau für drei Stunden. Siegfried bekam den täglichen Einkauf aufgebrummt. Wenn er essen wolle, müsse er etwas dafür tun, sagte seine Mama; ihre Mittagspause reiche nur zum Kochen und Essen. Das sah er ein. Bald gefiel ihm seine Rolle, weil sie ihm erlaubte in den Speiseplan seine Wünsche einfließen zu lassen. Unter der Woche aßen sie einfache Gerichte - Putenschnitzel mit Bratkartoffeln und Salat, oder Pfannkuchen mit Gemüse. Sonntags jedoch kochte die Mutter ein aufwändiges Essen.
Der lange Brief seines Vaters, in dem er ihn bat, er möge ihm verzeihen, tröstete Siegfried nicht wirklich. Wenn es neue Fotos von ihm gebe, solle er sie bitte schicken. Seinen Sohn allein zu lassen und nicht sehen zu können, wie er aufwächst, schmerze ihn sehr. Ähnliche Worte las Siegfried in den Briefen, die sein Vater ihm zum Geburtstag und an Weihnachten sandte, immer zusammen mit einem in Dollar ausgestellten Scheck. Damit solle er sich einen kleinen Wunsch erfüllen, schrieb der Papa. Ein bisschen aufgeregt ging Siegfried mit dem Scheck zur örtlichen Filiale der Sparkasse und ließ den Betrag seinem Konto gutschreiben. Er sparte auf ein neues Fahrrad, kein Kinderfahrrad sondern ein Herrenfahrrad mit Gangschaltung.
Als Siegfried in der dritten Klasse im Gymnasium wegen guter Leistungen eine Belobigung bekam, teilte er diesen Erfolg seinem Papa mit. Das sei super, herzlichen Glückwunsch, antwortete sein Vater, und schickte ihm ein Päckchen mit einem aus Elfenbein geschnitzten Elefanten. Dafür sei kein Elefant tot geschossen worden, das sei Elfenbein von einem natürlich gestorbenen Elefanten, versicherte sein Papa. Siegfried freute sich so sehr über dieses geschnitzte Kunstwerk, dass er ihm spontan einen Ehrenplatz auf seinem Schreibtisch frei räumte. Dort lebte der Elefant ein paar Tage lang. Weil die Mutter seine Freude nicht teilte und in dem väterlichen Geschenk eher einen Staubfänger als ein Kunstwerk sah, verbannte er den Elefanten in seinen Schrank. Wenn er allein war, holte er ihn manchmal heraus. Dann dachte er an seinen Vater und träumte von Abenteuern mit wilden Tieren in Afrika.