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Kapitel 2: Im Friseursalon

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Siegfried wuchs im Friseursalon Hanni Krause auf. Das Bild seiner Mutter, die in einer lindgrünen Kittelschürze mit Kamm und Schere hantierte, grub sich tief in sein Gedächtnis ein. Wenn er an sie dachte, sah er sofort eine lindgrüne Schürze, erst danach eine ernst blickende Frau mit einem braunen Lockenkopf.

Über Jahre hörte Siegfried, was Frauen miteinander redeten und auf welche Weise sie das taten. Höflich und charmant flogen die Sätze hin und her. Manche Worte blieben von selbst in seinem Gedächtnis haften, andere schrieb er bewusst in sein Tagebuch. So entstand nach und nach eine Sammlung von Äußerungen, die bei Frauen gut ankamen.

Siegfried war kein Schönling. Außer der liebenswerten Art auf andere einzugehen, die er im Friseursalon erlernte, besaß er zwei strahlende graublaue Augen. Alles andere an ihm war mittelmäßig; er war durchschnittlich groß, nicht besonders kräftig, nicht fleißig, aber auch nicht faul. Auffallend war sein allzeit perfekter Haarschnitt, auf den seine Mutter Wert legte. Damit könne er für ihr Geschäft werben, meinte sie. Tatsächlich lockte seine Frisur einige Jungs und Mädchen aus seiner Schule in den Salon seiner Mutter.

In den höheren Klassen im Gymnasium blieb Siegfried in seinem Zimmer oben in der Wohnung. Nach dem Mittagessen machte er seine Hausaufgaben und büffelte für Klassenarbeiten. In den Friseursalon schaute er nur, wenn er seiner Mutter mitteilen wollte, dass er zum Training in den Fußballverein gehe oder zu seinem Freund Oliver, mit dem er zusammen joggte und Gitarre spielte. Obwohl ihre Spielkunst gering und ihr Repertoire klein war, träumten beide von einer Karriere als gefeierte Rockmusiker Olli und Siggi.

Siegfried und Oliver waren schon mehrere Jahre lang in die gleiche Klasse gegangen, aber angefreundet hatten sie sich erst nach dem Stadtlauf im letzten Herbst. Oliver gewann das Jugendrennen über fünfkommazwei Kilometer, Siegfried belegte den neunten Platz unter den dreiundsechzig Teilnehmern. Siegfried gratulierte Oliver zum Sieg, worauf Oliver sich bedankte und bescheiden seinen Erfolg herunterspielte: Er sei eine Handbreit größer und habe längere Beine. Vielleicht könnten sie ab und zu miteinander joggen, schlug Siegfried vor. Ja gerne, sagte Oliver und lud Siegfried zu sich ein.

Als Siegfried am nächsten Tag an Olivers Haustür klingelte, öffnete ihm Olivers Mutter. Sie lächelte Siegfried an und begrüßte ihn mit: „Ah, du bist sicher Siegfried; Oliver hat dich schon angekündigt, komm herein“, und dann rief sie laut „Oliver “.

Aus einer Tür trat Sylvia, Olivers zwei Jahre ältere Schwester. Vorwurfsvoll fragte sie ihre Mutter: „Warum schreist du denn so laut herum?“ Dann sah sie Siegfried, lächelte und sagte „hallo“. Siegfried grüßte zurück. Da sie ins gleiche Gymnasium gingen, waren sie sich nicht fremd. Sylvia war hübsch. Sie und Oliver sahen sich im Gesicht so ähnlich, dass jeder sie sofort als Geschwister erkannte. Auch hatten beide die gleichen dunkelblonden Haare.

„Ich bin schon da“, rief Oliver von oben und kam mit schnellen Schritten die Treppe herunter. Nachdem sie sich mit „hallo“ begrüßt hatten, nahm Oliver seinen Freund mit in sein Zimmer. Dort fiel Siegfrieds erster Blick auf ein Laufband. Das sei super, sagte er und fragte Oliver, wie oft er darauf trainiere. Jeden Tag fünf Kilometer, antwortete Oliver. Aber joggen draußen im Wald sei schöner, und das Auf und Ab im Gelände kräftige die Beinmuskeln. Siegfried stimmte ihm zu und fragte, wo er laufe. Er habe zwei Strecken, eine leichte ohne viel Steigung, und eine schwere hinauf zum Aussichtspunkt und in einem weiten Bogen zurück. Den Weg über den Aussichtspunkt kenne er und finde ihn sehr schön, sagte Siegfried. Darauf vereinbarten die beiden Jungs, am Sonntagmorgen diese Strecke gemeinsam zu laufen.

Siegfrieds zweiter Blick fiel auf eine Gitarre, die neben einem Regal in der Ecke lehnte. Welche Musik er spiele, fragte Siegfried.

Lachend antwortete Oliver meistens Opernarien. Er könne aber nicht gut spielen; er sei nur ein fortgeschrittener Anfänger. Seine Mutter liebe Arien von Mozart und Verdi. Sie spiele diese Art Musik auf dem Klavier und singe dazu mit einer klaren Sopranstimme.

Siegfried schmunzelte. Er spiele auch ein bisschen Gitarre, aber eher Rockmusik, Songs von den Beatles und anderen Bands.

Super, sagte Oliver, holte seine Gitarre aus der Ecke und bat Siegfried, einen Song zu spielen.

Er dürfe nicht zu viel erwarten, warnte Siegfried, nahm die Gitarre in die Hand, stimmte eine Saite nach und legte los, spielte und sang eine verkürzte Version von Yellow Submarine.

Die fremde Musik lockte Sylvia und die Mama in Olivers Zimmer. Am Ende applaudierten die beiden Frauen und Oliver.

Toll, hörte er von Sylvia.

An Siegfried gewandt sagte die Mama, sie würde sich freuen, wenn er hin und wieder zusammen mit Oliver spielen würde. Mit zwei Gitarren könne man zaubern.

Siegfried und Oliver lachten.

Kurz nach Siegfrieds sechzehntem Geburtstag forderte seine Mutter ihn auf ihr im Friseursalon zu helfen. Weil Anja, ihr Lehrling, sich krank meldete, brauchte sie jemand, der den Damen die Haare wusch, bevor sie mit der Feinarbeit begann. Sie zeigte ihm, wie er Haare waschen, spülen und abtrocknen müsse; er solle alle Handgriffe sanft ausführen, bloß nicht grob. Üben durfte er an Max, seinem vierzehnjährigen Vetter, der in den Schulferien zwei Wochen bei ihnen lebte, weil seine Eltern beide arbeiteten. Widerwillig ließ Max die Prozedur über sich ergehen; als Gast blieb ihm nichts anderes übrig.

Der Gedanke, an Stelle von Max einem hübschen Mädchen die Haare zu waschen, wühlte Siegfried auf. Nachts malte er sich aus, wie er Emma Bartel, das schönste Mädchen in seiner Klasse, zum Friseurstuhl führen und dann zart an ihrem Kopf berühren würde. Wenn er sich geschickt anstellte, käme er ihrem Mund ganz nah. Wahnsinn!

Zum Glück war seine erste Kundin weder hübsch noch jung. Dennoch spürte Siegfried seine Hände zittern, während er Frau Walter ein Handtuch um die Schultern legte. Mit ihrer Bemerkung, sie finde es schön, dass er seiner Mutter aus der Patsche helfe, nahm sie ihm seine Nervosität. Und dann fragte sie ihn nach der Schule, in welche Klasse er gehe und was sein Lieblingsfach sei.

Höflich beantwortete er ihre Fragen: Geographie und Biologie interessierten ihn sehr. Es sei doch faszinierend, wie viele verschiedene Tiere es gebe. Jeder Platz auf der Erde sei von Tieren besiedelt. Doch jede Tierart komme nur in einer bestimmten, für sie optimalen Klimazone vor, der Eisbär am Nordpol, die Giraffe in der warmen Savanne. Selbst unsere nächsten Verwandten, die Bonobos, Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans blieben in den warmen Urwäldern gefangen. Nur der Mensch breitete sich über die ganze Erde aus.

Alle Achtung, sagte Frau Walter, in ihm reife ein Wissenschaftler heran. Die feurige Begeisterung in seiner Stimme gefalle ihr.

Ein bisschen verlegen bedankte sich Siegfried für die lobenden Worte. Dann konzentrierte er sich wieder aufs Haarwaschen. Da Frau Walter wusste, wie die Schritte aufeinander folgten, wuschen sich die Haare wie von selbst. Sie war zufrieden, auch wenn sie an der Wassertemperatur herummäkelte: Beim Waschen war sie ihr zu warm, beim Spülen zu kühl.

Na, das sei doch halb so schlimm gewesen, meinte seine Mutter und ließ ihn wissen, dass er ihr am späten Nachmittag noch einmal helfen müsse. Gut, er hatte Ferien. Da sein Freund Oliver seine Großeltern besuchte, musste Siegfried sich die Zeit allein vertreiben. Er übte Gitarre und las Abenteuerromane.

Wolfsblut und andere Romane von Jack London faszinierten ihn und regten ihn an, die nahe gelegene Wildnis genau zu erkunden. Gerne zog er mit Rowdy los, dem kastrierten Schäferhund von Frau Semmelbrosler, seiner in die Jahre gekommenen Nachbarin; die freute sich, wenn ihr geliebter Rowdy sich müde laufen konnte.

Über einen Feldweg gingen Siegfried und Rowdy am Waldrand entlang zu einer Schlucht, die hinab zu einem Teich führte. Unterwegs hörten sie Amseln singen, Raben krächzen und Spechte hacken. Während Siegfried mit seinem Feldstecher einen Eichelhäher verfolgte, interessierte Rowdy sich für ein Eichhörnchen, das ein paar Meter vor ihm eine Buche hoch flitzte. Buchen waren die häufigsten Bäume in diesem Wald; daneben gab es auch Eichen und ein paar Fichten und Kiefern.

Am Teich setzte Siegfried sich auf einen quer liegenden Baumstamm und wartete darauf, dass etwas passierte. Rowdy streckte sich neben ihm aus und döste. Von den Libellen, die auf der Suche nach Beute über die Wasseroberfläche sausten, ließ Rowdy sich nicht stören. Doch als einmal zwei Rehe zum Teich kamen und tranken, hob er kurz den Kopf. Siegfried träumte vor sich hin, dachte an seinen Vater, dann an Emma. Er überlegte, mit welchem Song er Emma begeistern könnte. Ein Liebeslied oder …. Quakende Enten rissen ihn aus seinen Gedanken. Auch Rowdy richtete sich auf und warf einen Blick auf die drei Stockenten, die auf der Mitte des Teichs landeten. Sie gründelten eine Weile, brachen dann zu neuen Ufern auf. Rowdy legte sich wieder hin, und Siegfried träumte weiter. Nicht lange, dann kam ein Graureiher angeflogen, ein alter Bekannter, der sich auf dem kahlen Ast eines abgestorbenen Baumes niederließ. Unten im Wasser hatte Siegfried ihn nie gesehen. Vielleicht ist er wasserscheu, sinnierte Siegfried und lachte über sich selbst und diesen absurden Gedanken.

Wenn er mit Rowdy abends gegen die untergehende Sonne nach Hause trottete, fühlte er sich wie der Held eines seiner Romane.

Frau Walter hatte Siegfried zwei Euro zugesteckt. Wenn er von allen Frauen so viel Trinkgeld bekäme, könnte er Emma in die Eisdiele einladen zu einem richtig großen Eisbecher mit Früchten. Sofort schüttelte er den Kopf. Dieser Traum würde nicht in Erfüllung gehen, denn Emma hatte bereits einen Freund, einen etwa zehn Jahre älteren Typ, der sie mit einem roten BMW Cabriolet von der Schule abholte. Er sei Architekt, hieß es.

Am Nachmittag wusch Siegfried zwei Frauen die Haare, am nächsten Tag waren es fünf und am darauf folgenden drei. So ähnlich ging es noch sechs Tage weiter. Er übte, lernte, lächelte, erhielt Lob und sagte danke. Bei jungen Frauen machte ihm seine Arbeit Spaß, bei älteren dachte er an das Trinkgeld. Er hatte herausgefunden, dass er ein größeres Trinkgeld bekam, wenn er bei der Arbeit seine Kundin zärtlich an den Ohren und am Hals berührte, wie zufällig, nicht plump und nur einmal. Auch schmeichelhafte Worte über ihre schön geformten Ohren und ihren schlanken Hals hörten Frauen gern.

Er habe magische Hände, sagte Isabel Gander, eine junge Witwe, die ein kleines Modegeschäft in der Innenstadt besaß. Weil sie gern lachte und lustige Geschichten über den Hund ihrer Nachbarin, einen frechen Foxterrier, erzählte, bekam Siegfried zu ihr einen guten Draht. Es war sie, die ihn bedauern ließ, dass Anja gesund zurück kam und ihm seine Arbeit nahm.

Sieben Monate später musste Siegfried wieder im Friseursalon einspringen. Diesmal war Anja nicht krank sondern schwanger.

„Dieses dumme Ding“, schimpfte seine Mutter. „Mit siebzehn ungeschützt herumvögeln; die hat doch einen Vogel.“ An Siegfried gewandt sagte sie: „Das ist dir hoffentlich eine Lehre. Kein Sex ohne Kondom.“

„Ja, ja“, antwortete er. Mann war dieses Gespräch ihm unangenehm. Bislang hatte er überhaupt keinen Sex, weder mit noch ohne Kondom. Außer nächtlichen Fantasien gab es nichts.

Samenraub und wahre Liebe

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