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Kapitel 3: Johann und seine Töchter Marion und Conny
ОглавлениеJohann konnte zu Fuß vom Theater nach Hause gehen in das am Rande der Innenstadt gelegene Domizil, in dem ihm eine Vier-Zimmer-Wohnung im zweiten Stock und ein Zimmer mit Dusche und WC im darüber liegenden schrägen Dachgeschoss gehört. Als Sophie vor elf Jahren Wind davon bekam, dass in der Grabengasse ein Jugendstilhaus renoviert und im Zuge der Erneuerung in Apartments aufgeteilt wird, musste sie einfach zugreifen. „Die Grabengasse ist eine ruhige Straße ohne Durchgangsverkehr“, hatte sie mit Verve erklärt und das Adjektiv „einmalig“ hinzugefügt. Seine Warnung, „wir werden uns maßlos verschulden“, wollte sie nicht hören. Wie recht sie hatte. Im letzten Jahr hatte er den Rest der Schulden getilgt, geblieben ist die Freude an diesem schönen Besitz.
Der Heimweg führte ihn über den Marktplatz durch die Rathausgasse und die Torgasse über die Theodor-Heuss-Straße in die Grabengasse. Um diese Zeit war er allein unterwegs, kein anderer Mensch, bloß zwei Katzen, und auf der Theodor-Heuss-Straße ein Auto.
Der Himmel war bewölkt, nur für einen Augenblick sichelte der Mond durch die Wolken. Die linde, mit Blütenduft geimpfte Aprilluft steigerte seine frohe Stimmung. Seine Gedanken kreisten um Susanne. Bei dem Fest sprühte sie vor Lebensfreude, hatte Sinn für Humor und war schön anzusehen mit ihren strahlenden blaugrauen Augen, den blonden Locken und dem Grübchen im Kinn. „What a beautiful bird, what a beautiful bird“, sang er leise vor sich hin und legte ein paar Tanzschritte auf den Asphalt. Ihm gefiel, dass sie dezent geschminkt war - nur wenig Lippenstift und die Fingernägel perlmuttfarben lackiert. Weniger zurückhaltend war sie bei ihrem Schmuck, aber die Perlenkette, das Perlenarmband und die Perlenohrringe passten irgendwie zu ihr und ihrem violetten Kleid und den violetten Pumps. Arm schien sie nicht zu sein. Was sie wohl für einen Beruf hat? Er freute sich auf das Wiedersehen mit ihr. Wie würde sie sich verhalten, wenn er ihr von seinen beiden Töchtern, der vierzehnjährigen Marion und der um zwei Jahre jüngeren Conny erzählte?
Nur noch ein paar Schritte, dann war er bei seinen Kindern. Leise öffnete er die Haustür, ging die Treppe hoch und schlich in die Wohnung, schaute zuerst in Marions dann in Connys Zimmer; beide waren leer. Er fand die Mädchen tief schlummernd in seinem französischen Bett. Für ihn hatten sie neben das Bett eine Matratze mit seinem Bettzeug gelegt. Eigentlich waren sie über dieses Stadium hinaus, doch manchmal, wenn er ausging, kam bei ihnen das Verlangen nach Geborgenheit zurück, wie vor drei Jahren, als sie nach dem Tod ihrer Mutter Nacht für Nacht bei ihm schliefen, Schutz und Trost bei ihm suchten. Zehn Monate hatte es gedauert, bis sie wieder ohne ihn einen ruhigen Schlaf fanden.
Sie hatten beide ein Etagenbett in ihrem Zimmer, damit auch eine Freundin eingeladen werden konnte. Meistens verhielten sie sich selbst wie Freundinnen und schliefen zusammen bei Marion.
Johann putzte sich die Zähne, wusch sich, zog seinen Schlafanzug an und schlüpfte in sein Matratzenbett. Er gehörte zu den Menschen, die Schlafprobleme nicht kannten und mit wenig Schlaf auskamen; fünf Stunden pro Nacht reichten ihm. So auch in dieser Nacht.
Er lag mit offenen Augen auf dem Rücken, als am Morgen der dunkle Wuschelkopf von Conny über der Bettkante erschien, und ihre braunen Augen nach ihm lugten und prüften, ob er schon wach war. Ja, seine Augen lächelten ihr zu. Sie erwiderte sein Lächeln und plumpste mit einem fröhlichen „guten Morgen“ zu ihm hinunter. Er musste sie einfach gern haben, drückte sie kurz an sich und gab ihr ein Küsschen. In ihrem schwarz-gelb gestreiften Biene-Maya-Schlafanzug sah sie niedlich aus.
„Guten Morgen zusammen.“
„Hallo“, kam es nun auch von Marion. Sie ist in der Pubertät, will mal
Abstand, dann wieder Nähe, heute Nähe. „Kommt hoch ins große Bett und lasst uns zusammen dösen, wie früher“, forderte sie ihn und Conny auf.
„Aber nicht lange“, bremste er. „Wir müssen auch noch entscheiden, was wir unternehmen wollen.“
Am Sonntagmorgen zusammen dösen, das hatte Sophie eingeführt, und sie hatten es beibehalten. Wie lange noch, fragte er sich. Marion nabelte sich bereits ab. Conny würde ihr bald folgen.
Dösen fiel ihm heute schwer. Er war unruhig, dachte zuerst an Susanne, danach an Sophie und den schwierigen Neuanfang mit zwei verunsicherten Kindern, damals neun und elf Jahre alt, als alles neu organisiert werden musste. Ohne meine Schwiegermutter, die gute Berta, hätte ich das nicht geschafft, erinnerte er sich und nahm sich vor, ihr wieder einmal zu sagen, wie dankbar er ihr für ihre Hilfe ist. Er hatte Glück, dass Berta in der gleichen Stadt wohnte, und dass sie trotz ihrer neunundsechzig Jahre vor Gesundheit strotzte. Ein bisschen mollig war sie geworden, schön mollig, nicht fett.
Die letzten Wochen vor Sophies Tod und viele Wochen danach lebte Berta bei ihnen in der Grabengasse, führte den Haushalt und kümmerte sich mit viel Liebe um ihre Enkelinnen, tröstete sie und half ihnen aus dem Schmerz herauszukommen. Das konnte sie besser als er. Für ihn blieb die Rolle des unerschütterlichen Felsens in der Brandung, an dem sie sich festhalten konnten.
Um Berta wenigstens teilweise in ihr eigenes Leben zurückgehen zu lassen, hatte er eine Haushaltshilfe gesucht und mit Ailin, einer gebürtigen Thailänderin, die seit über zwanzig Jahren mit einem Deutschen verheiratet ist, mehr als eine Hilfe gefunden. Ailin kam an Wochentagen um zwölf Uhr in die Grabengasse und blieb, bis er gegen Abend von der Arbeit zurückkehrte. Sie kochte für die Mädchen, putzte, wusch und bügelte die Wäsche. Marion und Conny mochten sie wegen der ruhigen Freude, die sie ausstrahlte. Ailin sei immer gut drauf, sagten sie.
„Aufstehen!“, rief er, „nichts wie raus. Es ist schon halb neun.“ Er ging zum Fenster und guckte zum Himmel. „Es ist leicht bewölkt, aber ich sehe auch einige blaue Flecken. Was meint ihr, wir könnten einen Ausflug in den neu eröffneten Freizeitpark machen, dort sind auch viele Tiere?“ Beide brummelten Laute, die man als Zustimmung deuten konnte.
Marion war verrückt nach Tieren. Ihr Zimmer teilte sie mit einem Meerschweinchen, um das sie sich liebevoll kümmerte. Neben dem Meerschweinchen galt ihre große Liebe den Pferden. Sie seien wunderschön, kräftig und doch sanft, schwärmte sie. Freitagnachmittags arbeitete sie in einem Reiterhof, striegelte Pferde und mistete Ställe aus. Sie hatte reiten gelernt und durfte manchmal ein Pferd reiten, wenn es zu wenig Bewegung hatte, weil die Besitzerin krank war oder verreist. Johann fragte sich, ob es ein Zufall war, dass Marion, passend zu ihrer Pferdeliebe, ihr leicht gewelltes braunes Haar als Pferdeschwanz trug.
Nach dem Frühstück belegten sie Brote mit Bergkäse und Tomaten, packten diese zusammen mit Bananen und drei Flaschen Apfelschorle in ihre Rucksäcke und gingen in die Tiefgarage zu ihrem Auto, einem lindgrünen Mercedes Kombi. (Das Auto war ein Kompromiss zwischen Mercedes fürs Geschäft und Kombi für die Familie.) Heute durfte Marion vorne sitzen. Um Streit vorzubeugen, wechselten sie bei den Sitzplätzen konsequent ab.
Auf der Fahrt erzählten die Mädchen von einem Film über die Serengeti, den sie gestern Abend im Fernsehsender Arte gesehen hatten. Die vielen wilden Tiere - eine Elefantenherde, die ein tollpatschiges Neugeborenes in ihrer Mitte führte, sooo süüüß, und Giraffen und Nashörner und große Herden von Gnus, Zebras und Büffel mit ihren Jungen. Danach schimpften sie über die bösen Raubtiere, die nicht nur kranke und alte sondern auch viele Jungtiere rissen.
Schockiert waren sie von den Löwenmännern: Zwei starke Löwen - sie seien Brüder, habe es geheißen - hatten den alten Pascha in einem verbissenen Kampf besiegt. Die fünf Löwinnen des Rudels wollten die neuen Löwen nicht, fauchten sie weg und versteckten ihre Jungen vor ihnen. Doch es half nichts, als die Löwinnen auf der Jagd waren, fanden die Löwenmänner die Jungen und töteten alle. Sie wollten ihre Gene weitergeben, habe der Sprecher gesagt. Nur wenn die Löwinnen nicht mehr Junge säugten, würden sie wieder empfängnisbereit werden und sich mit den neuen Paschas paaren.
„Wie wenn Löwen etwas von Genen wüssten“, meinte Marion skeptisch.
„Die Natur kann grausam sein“, sagte Johann. „Die beiden Löwen haben sich dieses Revier erkämpft, und wollen dort mit den Löwinnen zusammen leben. Vermutlich wissen die Löwen, dass die Löwinnen sie erst dann akzeptieren, wenn sie keine Jungen haben.“
Der Freizeitpark war grün und weit. Kieswege führten durch hügeliges Gelände mit großen Tiergehegen, rechts saftige Wiesen mit Hirschen und Bisons, und links lichter Wald mit unzähligen Wildschweinen, alten, jungen und ganz jungen. Die gestreiften Frischlinge zauberten ein Lächeln in Marions und Connys Gesicht. Den stärksten Eindruck hinterließ ein riesiger Braunbär, der in einem Gehege mit stabilem Doppelzaun herumtappte und, gerade als sie am Zaun standen, in sein Wasserbad eintauchte, um sich abzukühlen. Durch einen Stahlzaun getrennt sollte in dem Nachbargehege eine Bärin mit zwei Jungen leben, aber die konnten sie nirgends entdecken.
Die Wege endeten auf einem zentralen Platz. Dort lockte ein Streichelzoo mit Ziegen, Schafen und Kaninchen die Mädchen an. Tiere zu berühren gab ihnen mehr Freude als Tiere anzuschauen. Ausdauernd versorgten sie kleine Ziegen mit Gemüsepresslingen, die sie in handlichen Päckchen für wenig Geld aus einem Futterautomaten zogen.
Danach Hände waschen und ab zum Spielplatz, zu Skooter, Hüpfburg und Rutschbahn. Sie probierten alles aus, blieben längere Zeit bei der Riesenrutsche, die ihnen offensichtlich am meisten Lustgewinn bescherte. Immer wieder sausten sie auf kleinen Teppichen hinab und, unten angekommen, beeilten sie sich mit dem Teppich unter dem Arm die lange Treppe hoch zu steigen, um wieder mit Tempo hinabzurutschen.
Johann setzte sich auf eine Bank, im Halbschatten unter einem weißrosa blühenden Apfelbaum. Er hing seinen Gedanken nach, Gedanken an die glücklichen Jahre mit Sophie und den Tiefpunkt vor drei Jahren. Ab und zu stand er auf und fotografierte: Marion füttert lächelnd die Ziegen - Conny steht staunend vor dem riesigen Braunbären - Marion fährt Autoskooter - Conny springt auf der Hüpfburg - Marion und Conny sausen jauchzend die Riesenrutsche hinunter. Er freute sich, dass seine Töchter in ein normales Leben zurückgefunden hatten.
Sie kamen zu ihm gerannt, wollten, dass er einmal mit ihnen zusammen hinabsause. Nach anfänglichem Zögern gab er nach, wie meistens. Hinterher musste er gestehen, dass ihm die rasante Talfahrt gefallen hatte.
Es war klug, ein Picknick mitgebracht zu haben, denn das Verpflegungsangebot im Park war bescheiden. Die Cafeteria war kein Lokal, sondern ein großer Kiosk mit einer Kaffeemaschine und einer Kuchenvitrine und einem qualmenden Wurstgrill im Freien. Außer Kuchen, bei dem sie später zugreifen wollten, gab es nur Rostbratwurst, also nichts für Marion, die sich, ausgelöst durch ihre Tierliebe, nur fleischlos ernährte.
Oben am Bisongehege setzten sie sich auf eine Bank, aßen ihre belegten Brote und die Bananen, tranken Apfelschorle und schauten zu der kleinen Bisonherde. Neun Tiere zählten sie: Ein großer Bulle, zwei Kühe mit je einem Kalb und vier Halbwüchsige. Außer ihrem zotteligen Fell und ihrer imposanten Größe - Bisonbullen können eine Tonne schwer werden, informierte das Schild am Zaun - hatten die Bisons nichts zu bieten. Sie bewegten sich nur wenig; nicht einmal die Kälber tollten herum. Deshalb klang Johanns Bemerkung, „ich könnte einen Kaffee vertragen“, in Marions und Connys Ohren wie ein Signal zum Aufbruch aus der Langeweile.
Vor der Cafeteria warteten auf einem eingeebneten und mit Kies belegten Platz sechs grün lackierte Metalltische mit jeweils vier grünen Klappstühlen auf die Gäste. Außer einem Tisch, an dem eine junge Frau mit einem deutlich älteren Mann und zwei kleinen Knaben Eis aßen, waren alle frei. Johann bestellte einen doppelten Espresso, Marion und Conny entschieden sich für Coca-Cola. Aus der Kuchenvitrine wählten alle drei den Himbeertraum, eine mehrschichtige Komposition aus Mürbeteig, Sahnequark, Himbeeren und feinen Streuseln. Mit Getränken und Kuchen setzten sie sich an den am weitesten vom Wurstgrill entfernten Tisch.
Marion probierte den Kuchen und gab ein „Mhm“ von sich.
„Oh ja, der ist lecker“, stimmte Conny zu.
Johann nickte und sagte: „Auch der Espresso ist nicht schlecht.“ (Wenn etwas gut ist, sagt man hier, es sei nicht schlecht).
Hungrige Spatzen hüpften auf dem Kies um den Tisch herum und hofften auf zufällig herabfallende Krümel, sehr zur Freude von Marion und Conny, die mit absichtlich vom Tisch fallenden Stückchen nachhalfen.
Ob der große Braunbär einen Bisonbullen reißen könne, fragte Conny. Das glaube sie nicht, meinte Marion, so ein Bisonbulle sei wehrhaft, ein Stich mit den Hörnern oder ein Tritt mit den Hufen würde den Bären schwer verletzen. Vielleicht sogar tödlich, sagte Johann. Scherzend fügte er hinzu: Man hätte den Bären ins Gehege der Bisons schicken sollen. Dann hätten die sich bewegt. Die Mädchen lachten, und er lachte mit ihnen.
Zufrieden machte sich das Kleeblatt, wie Johann seine Töchter und sich gerne nannte, auf die Heimfahrt. Er setzte die Mädchen zuhause ab und fuhr, wie jeden Sonntagnachmittag, für eine oder zwei Stunden in die Firma, um den Montag vorzubereiten.
Johann hatte in Tübingen Betriebswirtschaft studiert, danach für eine Export-Import-Firma zwei Jahre lang in New York gearbeitet, ehe er vor sechzehn Jahren zur Linder Pumpen GmbH hier im Industriegebiet wechselte. Als Linder vor sieben Jahren die Tochterfirma Li-Filter gründete, konnte er als Teilhaber einsteigen. Sie stellten leistungsstarke Filtermaschinen her, kein Kleinzeug. Den weltweiten Vertrieb aufzubauen war seine Aufgabe, eine Arbeit, die ihm Spaß machte, auch wenn sie ab und zu - immer wenn ein Problem auftrat, das schnell gelöst werden musste - viel Kraft erforderte.
Am späten Sonntagnachmittag war er allein in der Firma. Er setzte sich in den bequemen Chefsessel am Schreibtisch in seinem Büro, einem hellen Eckzimmer im ersten Stock des Firmengebäudes. Wände und Decke waren cremeweiß gestrichen, der Boden mit hellbraunem Laminat belegt. Abgesehen von dem edel wirkenden Sessel war der Raum funktionell (man könnte auch sagen bescheiden) mit hellgrauen Büromöbeln der Firma Auermann eingerichtet. Im rechten Winkel zum Schreibtisch schloss sich ein Computertisch an, daneben ein großer Aktenschrank. An der Wand links stand ein Sideboard und schräg gegenüber vom Schreibtisch ein ovaler Besuchertisch mit sechs gepolsterten Stühlen. Ein großer Drachenbaum in einem rollbaren Edelstahltopf und ein vierteiliges Wandbild einer Alpenlandschaft, mit Schafen auf einer grünen Weide im Vordergrund und zackigen grauen Bergen dahinter, milderten die geschäftliche Atmosphäre.
Der Schreibtisch spiegelte das Bild eines ordnungsliebenden Menschen; links lagen zwei dünne Stapel mit Akten, in der Mitte ein Notizblock mit zwei Kugelschreibern und rechts ruhte ein drahtloses Telefon in einer Ladestation. Weitere Arbeitsgeräte, ein Laptop und ein Laserdrucker, standen auf dem Computertisch bereit. Telefax und Kopierer waren im Vorzimmer untergebracht, dem Arbeitsplatz von Mary Wright, seiner aus Wales stammenden Assistentin. Sie war die erste Mitarbeiterin, die er bei Li-Filter eingestellt hatte.
Rote Haare, grüne Augen, helle Haut und viele Sommersprossen - nein, so sah sie nicht aus, sie passte nicht in unser Bild vom irisch-keltischen Typ. Nur die helle Haut stimmte, Sommersprossen fehlten, ihre Haare waren dunkelblond und ihre Augen braun. Mary hatte an der Universität in Cardiff ein Bachelor-Diplom in Business and Administration erworben. Das war nützlich, doch genauso wichtig für das weltweite Geschäft war ihr perfektes Englisch.
Er schloss den Schreibtisch auf und griff nach seinem Kalender. Als erstes sollte er morgen Jorge Souza anrufen und mit ihm besprechen, wie sie ihre Filtermaschine, Marke Clearfilter, bei der Messe Aqua Clean in Lissabon optimal präsentieren könnten. Jorge war Repräsentant von Li-Filter in Portugal und deshalb zuständig für die Betreuung ihres Messestandes. Johann wollte nur zwei Tage dazu stoßen.
Das speziell für Ausstellungen gebaute Exemplar eines Clearfilter mit transparentem Gehäuse (damit die Funktionsweise der Filtermaschine gezeigt werden konnte) und die Ausrüstung des Stands mit dem großen Firmenschild, den Schautafeln und dem Prospektständer hatte er schon vor zehn Tagen durch die Spedition Transitco nach Lissabon schicken lassen.
Ich muss mich erkundigen, ob alles in gutem Zustand angekommen ist, schrieb er auf seinen Notizblock ebenso wie die Fragen: Besitzt Jorge genügend Prospekte in Englisch und Portugiesisch, oder sollte Li-Filter noch welche nachdrucken? Und hat er die schriftlichen Erläuterungen zu den Schautafeln, in denen erfolgreiche Anwendungen unserer Filtermaschine in Industriebetrieben, in Hotels und bei Naturkatastrophen dargestellt sind? Auch über den Aufbau einer Repräsentanz in Brasilien sollte ich mit ihm reden und ihn bitten, direkt neben unserer Filtermaschine ein Schild mit der Aufschrift ‚Repräsentant für Brasilien gesucht‘ aufzustellen.
Von seinem Büro ging Johann in den Montageraum, wo sieben halbfertige Filtermaschinen auf die noch fehlenden Teile warteten. Mindesten vier mussten sie in der nächsten Woche ausliefern. Stolz lief er von einer Maschine zur anderen und kehrte im Geist zurück in die Zeit, als sie begannen diese Maschine zu entwickeln:
„Wir brauchen einen Filter, mit dem wir unsere Emulsionen reinigen können“, hatte Karl Linder in einer Besprechung mit seinen leitenden Mitarbeitern gesagt und sich an Johann gewandt: „Recherchieren Sie bitte, welche Maschinen für diesen Zweck auf dem Markt sind.“
Zu jener Zeit wusste Johann nicht viel über Emulsionen. Natürlich hatte er mitbekommen, dass die Techniker in der Fertigungshalle Metallteile für die Linder Pumpen mit Hilfe von Emulsionen bearbeiteten: Löcher mussten gebohrt, Profile gefräst, Oberflächen und Kanten geschliffen werden, und alles auf ein Zehntel eines Millimeters genau, mit Werkzeugen, die in Werkzeugmaschinen eingespannt von leistungsstarken Motoren zu Höchstleistungen angetrieben wurden. Damit die Werkzeuge nicht heiß liefen und kaputt gingen, wurden sie mit einer Öl-Wasser-Emulsion gekühlt und geschmiert. Öl-Wasser-Emulsion klingt einfach, ist aber in Wahrheit ein Hightech-Produkt mit zahlreichen Komponenten, die exakt aufeinander abgestimmt sind: Spezielle Öle, destilliertes Wasser, Emulgatoren, Stabilisatoren, Mittel gegen Korrosion, gegen Bakterien, gegen Pilze, gegen fast alles.
Die Art und Weise wie eine Emulsion bei der maschinellen Bearbeitung von Metallteilen wirkte, hatte er sich an einem Bohrautomaten genau angeschaut: Aus einem Tank am Boden der Werkzeugmaschine saugte eine Pumpe die Emulsion kontinuierlich an und drückte sie durch ein flexibles Rohr nach oben, wo sie in einem starken Strahl auf das Werkzeug gerichtet wurde, auf einen Bohrer, der in rasender Geschwindigkeit an exakt vorgegebenen Stellen Löcher in Metallteile bohrte. Die Emulsion kühlte und schmierte das Werkzeug, nahm die beim Bohren entstandenen Metallspäne auf und floss durch einen Trichter zurück in den Tank. Die groben Späne sanken zu Bden, während die feinen Späne und Schmutz in der Emulsion verblieben und mit ihr wieder nach oben zum Werkzeug gelangten.
Es war leicht zu verstehen, dass die Emulsion von Tag zu Tag mehr verschmutzte und früher oder später unbrauchbar wurde und durch eine frische Emulsion ersetzt werden musste. Reinigte man jedoch die Emulsion täglich, indem man mit einem Filter Metallspäne und Schmutz abtrennte, konnte man sie über einen längeren Zeitraum verwenden. Das sparte Kosten und vermied Abfall.
Johanns Marktrecherche hatte zu keinem guten Ergebnis geführt. Die angebotenen Filtermaschinen waren entweder sehr teuer oder weniger teuer aber nicht leistungsfähig.
„Dann entwickeln wir selbst eine geeignete Maschine“, hatte Karl Linder gesagt, „wenn da eine Marktlücke ist, stoßen wir hinein.“
So sehe er das auch, hatte Johann zugestimmt und hinzugefügt, dass er bei seinen Recherchen auf ein neuartiges Edelstahlgewebe gestoßen sei, das ihm wie geschaffen scheine, um Emulsionen und Öle zu filtrieren.
Freundlich lächelnd hatte der Chef ihm zugenickt und ihn gefragt, ob er eine Beschreibung, einen Prospekt über dieses Filtergewebe habe. Ja doch. Johann hatte in seinen Unterlagen geblättert, zwei Seiten herausgezogen und sie Herrn Linder zugeschoben.
Am nächsten Morgen hatte Karl Linder ihn zu sich gerufen und sich bei ihm bedankt. Sie bräuchten ein Muster dieses Filtergewebes. Er solle mit dem Hersteller Kontakt aufnehmen. Wenn diese Firma einen Vertreter in ihrer Region habe, solle er diesen zu einem Besuch einladen.
Zwei Tage später war der Vertreter, Herr Weischedel, mit einem Muster zu ihnen gekommen. Er bestätigte ihnen, was sie vermutet und erhofft hatten: Dieses Edelstahlgewebe würde sich sehr gut zur Filtration von Emulsionen und Ölen eignen, und sollte Schmutz das Gewebe verstopfen, ließe es sich leicht frei spülen.
Als Herr Weischedel gegangen war, hatte Karl Linder lächelnd zu Johann geblickt und eine Entscheidung getroffen: „Also packen wir’s an.“ Er hatte Johann den Ingenieur Werner Knobloch zur Seite gestellt und beide beauftragt, innerhalb von zwei Wochen einen Plan auszuarbeiten mit einer Skizze und einer Analyse der Kosten.
Mit Werner Knobloch hatte Johann sich sofort gut verstanden, und fachlich ergänzten sie sich ideal. Sie planten zusammen, Werner skizzierte die Filtermaschine, und Johann kalkulierte die Kosten.
Der Chef hatte ihren Plan geprüft, sie gelobt und ein Budget zur Verfügung gestellt. Und dann hatte er ihnen ein Zuckerl hingeworfen: Wenn sie eine marktfähige Maschine zustande brächten, wolle er für dieses Produkt, das zu seinen anderen Produkten, den Pumpen, nicht passe, eine Tochterfirma gründen, und sie beide daran beteiligen. Der Mann wusste, wie man Mitarbeiter motivierte.
„Ich mag das Funkeln in deinen Augen“, hatte Sophie gesagt, als er ihr mit Feuer von der neu zu entwickelnden Maschine und der Aussicht, vom Angestellten zum Unternehmer aufzusteigen, berichtete.
Sie hätten ein paar harte Monate durchzustehen, hatte er gewarnt. Er wolle nach wie vor zwischen fünf und sechs Uhr nach Hause kommen, mit Marion und Conny spielen, zusammen kochen und essen, die Kinder ins Bett bringen und ihnen eine Geschichte vorlesen, danach aber für zwei bis drei Stunden zurück in die Firma gehen. Sophie hatte bitter geschluckt. Nach ihrem Arbeitstag in der Apotheke abends ohne ihn in der Wohnung zu sitzen, war nicht das, was sie sich wünschte.
In jenem Jahr hatten sie mit Ella, einer Schwedin aus Lund, ein ausgesprochen liebes Kindermädchen. Marion und Conny waren verrückt nach ihr. Ella hier und Ella da, Ella war das häufigste Wort, das durch die Wohnung schallte. Ella brachte Marion morgens in die Schule und Conny in den Kindergarten. Danach besuchte sie einen Deutschkurs. Am Nachmittag sammelte sie Conny und Marion ein und führte sie mit einem kleinen Umweg über einen Spielplatz zurück nach Hause.
Abends hatte Ella frei. Meistens schaute sie unten in der Wohnung eine Fernsehsendung an, um ihr Deutsch zu verbessern, oder sie las oben in ihrem Zimmer ein Buch oder schrieb einen Brief. Unter der Woche ging sie selten aus, nur samstags in die Disco. Sophie fragte Ella, ob sie ihr an dem einen oder anderen Abend, wenn sie sowieso zu Hause sei, Marion und Conny überlassen könne. Zuerst guckte Ella komisch, aber als Sophie ihr erklärte, dass sie abends gern ab und zu bei ihrem Mann in der Werkstatt wäre, stimmte Ella ohne Umschweife zu. Männer müsse man immer im Auge behalten, flüsterte Sophie ihr vertraulich zu und zwinkerte dabei mit einem Auge. Darauf lachten beide.
Johann freute sich, als Sophie ihm eines Abends sagte, heute komme sie mit. Sie wolle bei ihm sein. Ella würde auf die Kinder aufpassen. Sie würde ihr Buch mitnehmen. Stefan Zweigs Biografie über Balzac las sie damals, wenn er sich recht erinnerte.
Werner Knobloch hatte nichts gegen Sophies Besuch. Im Gegenteil. In Gegenwart einer Frau würden sie bestimmt nicht so viel fluchen, meinte er.
Sophie bekam einen gepolsterten Stuhl, einen kleinen Tisch und eine Tischlampe. Sie las, schaute den Männern zu, trank mit ihnen ein Bier und ließ sich erklären, was sie machten und machen wollten.
Begleitet von starken Emotionen - mal aufwühlendes Hochgefühl nach einem kleinen Erfolg, mal niederschmetternde Zweifel nach einem Fehlschlag - entwickelten sie eine Maschine mit einer Pumpe, einem dichten Behälter mit einem Zulaufrohr, einem Filterrahmen in der Mitte und einem Ablaufrohr am Ende. Wie gut, wie schnell, wie zuverlässig würde ihre Maschine Schmutz und Metallspäne aus Emulsionen herausfiltern, aus verschmutzten Emulsionen, die es bei Linder reichlich gab? Kaum hatten sie die Versuche begonnen, stellten sie fest: „Mist! So geht’s nicht.“ Das zuerst eingebaute Filtergewebe hatte zu weite Maschen, weshalb nur grobe Schmutzpartikel darin hängen blieben und die feinen in der Emulsion verharren. Das nächste Filtergewebe war enger gewoben, eng genug, damit es auch feine Schmutzpartikel zurückhielt. Als sie das klare Filtrat sahen, zog Freude in ihre Gesichter. Spontan klatschten sie sich ab, wie zwei Beachvolleyballspieler nach einem gelungenen Schlag. Aber die Freude währte nicht lange. Der Filter war nach kurzer Zeit undicht, weil durch den Druck, mit dem die Pumpe die Emulsion durch das Gewebe presste, im Filterrahmen eine Schweißnaht riss.
Solche Probleme gebe es bei jeder Neuentwicklung, hatte Karl Linder sie beruhigt, auf Anhieb klappe selten etwas. Er spornte sie an, dies zu verändern und das zu verbessern, und dann wieder und wieder, bis sie schließlich eine robuste und dauerhaft funktionierende Filtermaschine vor sich hatten.
„Wie wollen wir sie nennen?“, hatte der Chef gefragt, selbst kurz nachgedacht und, bevor Johann und Werner antworteten, den Namen Clearfilter vorgeschlagen.
Bei der Messe Metallbearbeitung in Stuttgart hatten sie ihre Filtermaschine auf dem Stand der Linder Pumpen GmbH präsentiert. Das war gut so, denn die Linder Pumpen waren seit mehr als zwei Jahrzehnten für beste Qualität bekannt und zogen viele Interessenten an. Von denen blieben einige, nachdem sie sich über das Pumpensortiment informiert hatten, bei Clearfilter hängen, und nicht nur zum Schauen. Sie wollten von Johann und Werner genau wissen, wie die Maschine arbeite, was sie leiste und wie viel sie koste. Gut informiert erkannte mancher, dass er mit Clearfilter ein Problem in seinem Betrieb lösen konnte. Eine häufig gestellte Frage war, ob man diese Filtermaschine mieten könne, um zu prüfen, wie gut sich damit die Flüssigkeiten in ihrem Unternehmen reinigen ließen. Ja, man konnte sie mieten. Sie hatten zu diesem Zweck vier Maschinen bereit gestellt.
Erfolg kann beschwerlich sein. Nach der Messe stellten sie fest, dass sie sofort dreizehn Clearfilter vermieten könnten. Sie hatten aber nur vier. In diesem Fall müssten sie die Mietdauer auf einen Monat befristen, schlug Karl Linder vor, und die vier Maschinen nach und nach von einem zum anderen schicken. Sie atmeten auf, telefonierten mit den Kunden, die nicht gleich bedient werden konnten, und baten sie um Verständnis dafür, dass sich die Lieferung verzögere.
Nach einem Monat stießen sie an eine Hürde: Drei der ersten vier Mieter wollten die Filtermaschine nicht zurückschicken. Sie waren mit ihrer Leistung zufrieden und wollten sie kaufen. Was nun?
Kauf gehe vor Miete, hatte Karl Linder ihnen klar gemacht und sie aufgefordert schnellstens fünf weitere Clearfilter bauen zu lassen. Als auch die innerhalb von zwei Monaten verkauft waren, rief der Chef Johann und Werner zu sich und eröffnete ihnen mit feierlicher Miene, dass nun die Zeit reif sei für die Gründung der Tochterfirma Li-Filter GmbH. Er wolle sie beide mit jeweils zehn Prozent an dieser Firma beteiligen. Wenn sie sich stärker einbringen wollten, könnten sie weitere Anteile kaufen. Werner winkte ab; er hatte gerade eine teure Scheidung hinter sich. Johann, der von seinem Vater eine kleine Summe geerbt hatte, erwarb weitere zwanzig Prozent.
„Ich bin stolz auf dich“, hatte Sophie gesagt, als er ihr den Gesellschafter-vertrag zeigte, in dem er als Teilhaber und Prokurist der Firma Li-Filter GmbH genannt war. Und dann hatte sie sich eng an ihn geschmiegt, ihn geküsst und ihre Zunge in seinen Mund geschoben. Erfolg macht sexy.
Die Woche über hatte Johann jeden Tag, ja, an manchem Tag mehrmals, an Susanne gedacht, die Tage gezählt bis zum Samstag, an dem sie sich treffen wollten. Und heute war es soweit. Um drei Uhr saß er im Café König, wartete und hoffte, dass sie kommen würde. Er hatte sich an einen Tisch hinten im Eck gesetzt, mit dem Rücken zur Wand, damit er die Eingangstür im Blick hatte und von dort auch gesehen werden konnte.
Wann war ich zuletzt hier, fragte er sich. Genau besehen ging er selten in dieses einem Wiener Kaffeehaus nachempfundene Lokal mit den typischen Marmortischen und Thonet-Stühlen. Bei der Renovierung vor zwei Jahren hatte der Architekt die Wand zur Rathausgasse in eine lichtspendende Glasfront umgestaltet, mit vier großen Fenstern und einer breiten Glastür zwischen dem ersten und dem zweiten Fenster. Das Mauerwerk der anderen drei Wände war bis in eine Höhe von einem Meter mit hellbraunen Holzpaneelen verkleidet. Darüber klebte eine beigefarbene Tapete, die in Grautönen mit Kaffeehaus-motiven und Namen von österreichischen Kaffeearten - Kleiner Brauner, Verlängerter, Melange - bedruckt war.
Hinter der Theke, rechts vom Eingang, erfüllte Rosemarie, die Besitzerin, die Wünsche ihrer Gäste. Ferdinand, der Ober, trug Kaffee (zusammen mit einem Glas Wasser) und Kuchen und Wein zu den Tischen.
Das Lokal war gut besetzt: Einzelne Männer, die Zeitung lasen, Paare, die sich leise unterhielten und eine Gruppe, in der eine Frau mit großer Lautstärke das Wort führte.
Susanne kam strahlend auf ihn zu, in einem blauen Kleid und farblich dazu passenden Pumps und Handtasche. Er lächelte, stand auf und ging ihr ein paar Schritte entgegen. Sie begrüßten sich mit einer leichten Umarmung und einem Küsschen auf die Wange. Er spürte seine Knie zittern.
„Wo möchtest du sitzen?“, fragte er.
„Wenn ich wählen darf, nehme ich den Stuhl hinten an der Wand.“
Er setzte sich ihr gegenüber, lächelte (da war wieder dieses Dauerlächeln in seinem Gesicht) und schaute in ihre Augen, ließ seinen Blick zu ihrem himbeerroten Mund, ihren goldenen Haaren, ihrem schlanken Hals und ihrem Kleid wandern.
„Du bist chic“, sagte er, und das war keine Schmeichelei. Das blaue Kleid mit den halblangen Ärmeln und den Raffungen unter der Brust, die ihren Busen betonten, schien wie für sie geschneidert zu sein. „Und du riechst gut.“ Ihr Duft zog ihn an, und das sollte er wohl auch.
Sie lachte, bedankte sich für die Komplimente und fügte hinzu: „Dafür bin ich lange vor dem Spiegel gestanden.“
Johann verstärkte sein Lächeln.
„Du gefällst mir auch“, sagte sie und sah ihn an. Ein eleganter Mann in einem graublauen Sommeranzug und einem dunkelgrauen T-Shirt darunter. Passend zu seiner hohen Stirn und der randlosen Brille, so fand sie, trug er sein braunes Haar, oder das, was davon noch übrig war, sehr kurz geschnitten.
Als der Kellner an ihren Tisch kam, begrüßte er Susanne mit einem freundlichen: „Guten Tag, Frau Edel“, und sie grüßte zurück: „Guten Tag, Herr Ferdinand.“ Sie bestellten Kaffee, sie einen Espresso und er einen Cappuccino.
„Kommst du öfter hierher?“, fragte Johann.
„Ja, ich treffe mich hier einmal im Monat mit drei Freundinnen zum Rommee.“
Er hätte ihr jetzt erzählen können, dass er als Student in Tübingen ab und zu in der Kneipe Schlachthaus Skat gespielt habe, aber das tat er nicht. Er kam gleich zu dem Punkt, der ihm seit letztem Samstag durch den Kopf ging:
„Ich rede nicht gern um den heißen Brei herum. Darf ich dich fragen, ob du in einer festen Beziehung lebst?“
„Ja, du darfst fragen, und nein, ich lebe in keiner festen Beziehung. Ich war elf Jahre lang verheiratet, bin aber seit vier Jahren geschieden. Der einzige Mann in meinem Leben ist mein Sohn Florian.“
Der Kellner brachte den Kaffee. Sie trank einen Schluck Wasser, gab zwei Tütchen Zucker in den Espresso, rührte um und nippte daran.
„Florian ist vierzehn. Er geht auf das Johannes-Kepler-Gymnasium und interessiert sich für Energiegewinnung mit Wind, Sonne, Gezeiten und was weiß ich noch was.“
„Ein junger Forscher, das ist gut.“ Johann probierte den Cappuccino.
„Ich mag den Milchschaum auf deiner Oberlippe“, scherzte sie.
Er lachte, wischte mit einer Papierserviette seinen Mund ab. „Ich habe auch Kinder, zwei Töchter, Marion und Conny.“
„Leben die bei ihrer Mutter, oder bei dir?“
„Bei mir.“ Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. „Sophie, meine Frau, ist vor drei Jahren an Brustkrebs gestorben. Es war schlimm. Es fällt mir immer noch schwer, darüber zu reden.“
„Wie traurig“, mitfühlend legte Susanne ihre Hand auf seinen Arm.
„Vielleicht hast du Sophie gekannt. Sie ist, wie du, in dieser Stadt aufgewachsen, war eine der beiden Inhaberinnen der Marien-Apotheke.“
„Könnte sein“, meinte Susanne. „Wie war denn ihr Mädchenname?“
„Hauser.“
„Sophie Hauser“, murmelte sie, „nein, da klingelt es nicht bei mir. Die Marien-Apotheke kenne ich natürlich.“
Susanne kippte den Rest ihres Espresso. „Erzähl‘ mir mehr von deinen Töchtern.“
„Conny ist zwölf. Sie geht in das gleiche Gymnasium wie dein Sohn, nur vermutlich zwei Klassen tiefer. Sie ist ein Sonnenschein. Den Verlust ihrer Mutter hat sie besser verkraftet als Marion.“
Er räusperte sich, trank einen Schluck Wasser.
„Marion besucht die Realschule. Sie ist vierzehn und verrückt nach Tieren. Sie will Tierpflegerin werden, oder neuerdings Pferdewirtin. Sie arbeitet freitagnachmittags in einem Reiterhof, striegelt Pferde und mistet Ställe aus. Manchmal darf sie ein Pferd reiten. Total aus dem Häuschen war sie, als sie von der Hippotherapie erfuhr. Weil sie so einfühlsam seien, schwärmte sie, könne man Pferde darauf abrichten, sich vorsichtig zu bewegen, wenn behinderte Menschen auf ihnen sitzen.“
„Das klingt interessant. Sie scheint sehr zielstrebig zu sein.“
„Ja“, sagte Johann und nickte zögernd mit dem Kopf. Die Tiere ausgenommen fand er Marion nicht besonders zielstrebig.
„Wer sorgt denn für die Mädchen?“
„Ich und... ich habe eine sehr gute Haushaltshilfe und mit Berta Hauser eine warmherzige Schwiegermutter. Als ich vor sechzehn Jahren in diese Stadt kam, um bei der Firma Linder zu arbeiten, mietete ich bei den Hausers eine kleine Wohnung unter dem Dach. Ich mochte Berta vom ersten Tag an.“ Lachend setzte er hinzu: „Doch weil sie nicht mehr frei war, entschied ich mich für ihre Tochter Sophie.“
Susanne lächelte, aber so lustig wie Johann fand sie diesen Scherz nicht. Sie wollte noch mehr von ihm wissen:
„Was arbeitest du bei Linder?“
„Ich bin Betriebswirt. Die ersten neun Jahre arbeitete ich in der Exportabteilung des Stammhauses, diente mich hoch. Als Linder vor sieben Jahren die Tochterfirma Li-Filter gründete, konnte ich als Teilhaber einsteigen. Linder ist ein großer Pumpenhersteller. Wir bei Li-Filter produzieren Filter-maschinen und verwenden dazu Linder Pumpen. So hängen die beiden Firmen zusammen. Meine Aufgabe ist es, ein weltweites Vertriebsnetz für unseren Clearfilter, so heißt die Filtermaschine, aufzubauen.“
„Wow“, Susanne war beeindruckt.
Herr Ferdinand sah in ihre Richtung mit einem Blick, der sagte, wenn sie hier sitzen wollen, sollten sie auch konsumieren.
„Wollen wir noch etwas bestellen?“, fragte Susanne.
„Ja, ein Glas Wein wäre fein“, schlug er vor. Sie entschieden sich für ein Viertel trockenen Spätburgunder und zwei Gläser.
„Jetzt möchte ich aber auch noch ein bisschen mehr von dir hören“, forderte er sie auf.
„Ich unterrichte Deutsch und Englisch am Friedrich-Schiller-Gymnasium. Dort ging ich selbst zur Schule.“ Sie strich sich ein Löckchen hinters Ohr, überlegte, was in ihrem Leben so interessant war, dass es sich zu erzählen lohnte. „Studiert habe ich in Freiburg. Es war eine schöne Zeit in einer schönen Stadt. Ich denke gern an diese Jahre zurück und an die drei Jungs, mit denen ich in einer Wohngemeinschaft lebte.“ Sie sah die drei deutlich vor sich - Walter, der durchtrainierte Sportstudent, Christoph, der feinsinnige Kunsthistoriker, den sie mochte, und Karl, der hart arbeitende Chemiker, der ab und zu aromatisch nach Labor duftete. Mit einem Schmunzeln ergänzte sie: „Da musste ich lernen mich durchzusetzen. Ich habe keine Geschwister, niemand, der mit mir um den Inhalt des Kühlschranks konkurrierte. Das war neu für mich.“
Johann unterdrückte ein Grinsen.
Der Ober brachte den Wein, füllte in jedes Glas knapp die Hälfte des Kruginhalts und wünschte „zum Wohl.“
Sie bedankten sich. Johann hob sein Glas, stieß mit Susanne an und sagte:
„Auf uns.“
„Ja, auf uns“, erwiderte sie.
„Nach dem Studium reiste ich zusammen mit meiner Freundin Petra vier Monate lang kreuz und quer durch Indien“, erzählte sie weiter.
Johann bekam große Augen. „Das klingt abenteuerlich.“
„Ja, es war ein Abenteuer, eines mit ungeahnten Folgen. Auf unserem Abstecher nach Südindien lernte ich meinen Ex-Mann Horst kennen. Der machte in Mysore ein Praktikum in Tropenmedizin. Wir verliebten uns und heirateten bald nach unserer Rückkehr in die Heimat.“ Sie zögerte, spielte nervös mit ihrem Perlenarmband, trank einen Schluck Wein. Ihr schönes Lächeln wandelte sich zu einer ernsten Miene. Leise sagte sie: „Leider musste ich schon bald nach unserer Hochzeit feststellen, dass mein Mann das Untreue-Gen besitzt.“
„Gibt es so etwas?“ fragte Johann wissbegierig und beschloss, darüber das Internet zu befragen.
„Ich denke schon“, antwortete sie. „In den elf Jahren unserer Ehe hatte er zahlreiche Affären - harmlose Liebeleien, nannte er das. Scheiden ließ ich mich, als ich erfuhr, dass eine Krankenschwester, seine rechte Hand, ein Kind von ihm erwartete.“ Sie war ziemlich aufgewühlt von diesen, ihren eigenen Worten und brauchte ein paar Sekunden, um ihre Gefühle einzufangen. „Er lebt hier in dieser Stadt mit seiner neuen Familie, ist seit einigen Jahren Oberarzt am Krankenhaus. Florian besucht ihn jede Woche.“
„Das Leben läuft nicht so, wie man es sich wünscht“, stimmte Johann zu.
„Man könnte verrückt werden“, sagte Susanne. „Wenn man bei einer der wichtigen Entscheidungen im Leben einen Fehler macht, oder Pech hat, bleibt man geschlagen zurück, und das Leben läuft allein weiter.“
„Ich weiß, wie schwierig es ist, nach einem Niederschlag aufzustehen“, schloss Johann sich einfühlsam an. „Was können wir schon frei entscheiden? Ich denke, dass uns der Zufall regiert. Ob wir arm oder reich geboren werden, ob unsere Eltern sich um uns kümmern oder saufen, können wir nicht beeinflussen, das ist reiner Zufall. Und später, wenn wir selbst entscheiden können, haben wir nur eine begrenzte Auswahl an Möglichkeiten, und die ist vom Zufall diktiert.“ Er bemerkte, dass er mit seinem tiefsinnigen Gerede Susanne langweilte und versuchte seinen Monolog positiv zu beenden: „Es war Zufall, dass ich vor sechzehn Jahren in diese Stadt kam. Ich arbeitete damals für ein deutsches Handelsunternehmen, Export-Import, in New York. Als ich entdeckte, dass diese Firma Probleme mit der Zollbehörde bekam und eine Anklage wegen unseriöser Geschäftspraktiken zu erwarten hatte, suchte ich nach einem neuen Arbeitsplatz und bewarb mich von New York aus auf Stellenanzeigen in deutschen Zeitungen. Dabei stieß ich zufällig auf eine Anzeige der Firma Linder.“
„Ich danke diesem Zufall“, sagte sie und hob ihr Glas.
„Ich auch.“ Er stieß mit ihr an und trank einen Schluck, bevor er weiter redete: „Hier entdeckte ich, dass ich die Ruhe und die Natur liebe. Im Sommer bin ich am liebsten draußen, bewege mich gern - fahre Rad, wandere in den Bergen, segle, schwimme im See.“
„All das mag ich auch“, sagte sie. „Aber es gibt etwas, das mir noch mehr Freude macht: Reisen. Letztes Jahr war ich in Peru. Den Kontakt mit fremden Kulturen empfinde ich wie einen Tritt in den Hintern, der mich aus der stumpfen Routine des Alltags in einen hellwachen Zustand befördert. Ich fühle mich dann lebendiger, spontaner.“
Johann schmunzelte. „Das klingt wundervoll.“
Sie erzählten und erzählten, entdeckten, dass sie beide klassische Musik mochten, am liebsten Mozart, und gern lasen.
„Im Winter mutiere ich zum Bücherwurm“, bemerkte sie mit einem Lächeln.
„Hast du einen Lieblingsschriftsteller?“, fragte er.
„Ich bin nicht festgelegt. Wenn es sich um gute Prosa handelt, bin ich dabei. Zurzeit lese ich einiges von Mario Vargas Llosa. Das hängt mit meiner Reise nach Peru zusammen. Kennst du Das böse Mädchen, Das Paradies ist anderswo oder Tod in den Anden?“
„Das Paradies ist anderswo habe ich mehr als einmal gelesen; was für ein Stoff und was für ein Schreibstil!“
Sie schaute auf ihre Uhr. „Wir könnten noch ein paar Schritte durch den Park gehen. Es ist Frühling.“
„Oh ja.“ Er bezahlte die Rechnung und gab Herrn Ferdinand ein nicht zu knappes Trinkgeld.
Sie bedankte sich und schickte ihr strahlendes Lächeln in seine Augen.
Er lächelte zurück, erhob sich und reichte ihr eine Hand. Vor dem Café legte er seinen Arm um ihre Taille und sagte: „Ich mag dich.“
Als sie antwortete: „Ich mag dich auch“, zog er sie zu sich und küsste sie zart auf den Mund. So nah bei ihr, nahm er wieder ihren aufregenden Duft wahr. „Was ist das für ein Parfüm, das so gut riecht?“
„Eternity, von Calvin Klein.“
„Ich finde, es passt zu dir“, sagte er.
„Danke, ich freue mich, dass du diesen Duft magst.“
Sie schlenderten vorbei an den in voller Pracht stehenden Tulpen und den schon verblühten Narzissen, küssten sich wieder, knabberten und saugten an ihren Lippen. Es war perfekt: Die Sonne schien, eine Amsel sang, und Johann Arm in Arm mit Susanne.
Als sie sich ihrem Auto, einem silberfarbenen Peugeot 206, näherten, fragte sie: „Wann können wir uns wieder sehen?“
„Leider nicht vor nächstem Samstag. Wir haben während der ganzen Woche eine Delegation aus Kenia in der Firma, für die muss ich mich auch abends frei halten. Die wollen unseren Wasserfilter in Ostafrika vertreiben.“
„Gut, dann bis nächsten Samstag. Wieder um drei Uhr in unserem Café?“, fragte sie.
„Ja. Du wirst mir fehlen.“
Noch eine Umarmung, noch ein Kuss, dann stieg sie in ihr Auto und fuhr los. Er winkte ihr nach, bis sie in einer Kurve verschwand.
Am Montagabend zeigte Johann den kenianischen Gästen seine Stadt, ein Städtchen, das in vergangenen Jahrhunderten durch seine Lage an einer Handelsstraße zu Wohlstand gekommen war. Die alte, zu groß erscheinende Kirche, mehrere Patrizierhäuser mit gepflegten Innenhöfen, ein erhaltenes Stadttor (das sich nach Osten öffnende) und eine Häuserzeile aus dem siebzehnten Jahrhundert belegten die frühe Größe.
Aber noch mehr als die sorgfältig renovierten Bauwerke, die stolz aus der Geschichte strahlten, weckte eine Erscheinung am Himmel das Interesse seiner Gäste. Das Flugobjekt versetzte sie regelrecht in Ekstase.
„Look, look, look“, rief einer und zeigte mit der Hand auf einen Zeppelin, der am Himmel schwebte. Nun starrten auch die beiden anderen nach oben und staunten. „Strange“, sagte einer, und „beautiful“ ein anderer. Mit beautiful meinte er vermutlich die Blumen, die auf die Zeppelinhaut gemalt waren. Der Schriftzug Mainau machte deutlich, dass dieses Luftschiff Reklame für die Blumeninsel Mainau machte.
Johann sagte ihnen, er sei genauso überrascht gewesen wie sie, als er zum ersten Mal einen Zeppelin am Himmel gesehen habe. Das sei eine Besonderheit dieser Region. Über die Jahre hätten sich die Leute, die hier lebten, an die fliegende Zigarre gewöhnt, weil sie fast jeden Tag über sie hinweg treibe. Zeppeline würden hier in der Nähe, in Friedrichshafen, gebaut und mit Helium, einem Edelgas, das viel leichter ist als Luft, befüllt.
Fragen prasselten auf ihn ein: Wie groß? Wie hoch? Wie schnell? Wie viel Menschen an Bord? Johann war auf solche Fragen vorbereitet, denn er hörte sie immer wieder von seinen Gästen, auch von manchen aus Deutschland. Dieser Zeppelin sei fünfundsiebzig Meter lang, sagte er, und damit größer als das größte Passagierflugzeug. Er werde von einer Art Schiffsschraube am Heck angetrieben und erreiche eine Geschwindigkeit von ungefähr siebzig Kilometer pro Stunde. Die Rundflüge begännen am Hangar in Friedrichshafen. Von dort gehe es hoch auf dreihundert Meter und dann hinaus in nahe und ferne Regionen. An einem klaren Tag, wie heute, müsse der Blick von oben großartig sein.
Während sie sich unterhielten, waren sie langsam weiter gegangen und näherten sich jetzt dem Rebstock, einem alten badischen Restaurant, in dem man in angenehmer Umgebung gut essen konnte. Johann legte Wert darauf, seinen Geschäftspartnern auch menschlich nahe zu kommen, etwas über ihre Lebensumstände und ihren Charakter zu erfahren. Dies gelang am besten beim Essen und Trinken in entspannter Atmosphäre.
Als er mit drei Afrikanern das Lokal betrat, flog mancher Kopf in seine Richtung. Katharina, die Tochter des Hauses, schön gekleidet in einer badischen Tracht, kam lächelnd zu ihm, dem treuen Kunden und guten Bekannten, begrüßte ihn und seine Gäste und führte sie zu einem großen runden Tisch in einem Erker. Den Tisch hatte er am Vormittag von Mary reservieren lassen, denn ohne Vormerkung war es nahezu unmöglich im Rebstock, der auch am Montagabend voll besetzt war, Platz für vier Personen zu bekommen.
Astrid, Katharinas junge Gehilfin, brachte die Speisekarten. Jetzt, zur Spargelzeit, gab es im Rebstock eine über die Stadtgrenze hinaus gerühmte Spargelplatte mit weißem und grünem Spargel, Kartoffeln und Flädle (wie man dünne Eierpfannkuchen hier nennt), dazu gerauchten und gekochten Schinken und zwei verschiedene Saucen, Hollandaise und Bernaise. Auf die Frage, welches Gericht er ihnen empfehlen könne, beschrieb Johann seinen Gästen die Spargelplatte mit so viel Feuer, dass sie sofort zustimmten. Ihm lief schon das Wasser im Mund zusammen. Er winkte Katharina herbei und bestellte für alle vier die Spargelplatte und zum Trinken ein Flasche trockenen Riesling vom Bodensee und einen Krug stilles Wasser.
Gerade hatte Katharina die Bestellung aufgenommen und ging in Richtung Küche, da erfuhr Johann, dass einer seiner Gäste Moslem war. Er rief Katharina zurück, nannte ihr das Problem und fragte, was sie an Stelle von Schinken servieren könne. Sie schlug gegrillte Hähnchenbrust vor und erhielt vom Moslem ein freudiges “yes please.“
Der Zeppelin musste seine Geschäftspartner stark beeindruckt haben, denn sie waren mit ihm noch nicht fertig, wollten alles noch einmal hören. Ob er selbst einmal mit dem Luftschiff geflogen sei, fragte einer.
Nein, noch nicht, antwortete Johann, aber er wolle das bald nachholen. Er warte auf einen besonderen Anlass. Weil in der kleinen Gondel nur zwölf Passagiere Platz fänden, seien Flüge mit dem Zeppelin ziemlich teuer.
Katharina brachte Wein und Wasser, entkorkte den Riesling und goss Johann eine kleine Menge in sein Weinglas, damit er die Güte prüfen konnte. Johann ließ einen Schluck über Zunge und Gaumen rollen. Als er „fein“ sagte, schenkte sie ihm und den beiden dem Alkohol nicht abgeneigten Afrikanern Wein ein und dem Moslem Wasser.
Johann hob sein Glas und prostete den anderen zu, wünschte ihnen gute Gesundheit und Erfolg. Mit Freude gaben seine Gäste die guten Wünsche zurück. Darauf tranken alle einen Schluck. Das Gespräch wanderte vom Zeppelin zu Frauen und Kindern. Als er ihnen erzählte, dass er seit dem Tod seiner Frau vor drei Jahren allein mit seinen beiden Töchtern lebe, sahen sie ihn ungläubig an und fragten, ob es in Deutschland keine heiratswilligen Frauen gäbe. Doch, sagte Johann, er habe es auch schon mit mehreren versucht aber die Richtige noch nicht gefunden. Einer meinte, er habe eine unverheiratete Schwester, eine Lehrerin, die er ihm bei seinem nächsten Besuch in Kenia vorstellen wolle. Johann lächelte und sagte höflich, dass er die Schwester gerne kennenlernen würde.
Zu seinem Glück kam es zu keinen weiteren Vorschlägen, weil sich nun alle auf Katharina konzentrierten, die zusammen mit Astrid einen Servierwagen heran rollte. Die großen Platten mit den kunstvoll arrangierten Speisen lösten beifällige Laute aus. Gekonnt richteten die beiden Frauen für jeden einen Teller und wünschten „guten Appetit.“ Nach den ersten Bissen, hörte er von seinen Geschäftspartnern „Ahs“ und „Ohs“, einer schmatzte genüsslich. Es schien ihnen zu schmecken und ihm auch.
Jerome, der älteste der drei, sagte, die Leute hier verstünden zu leben.
Johann, der meinte einen neidischen Unterton gehört zu haben, erklärte, so gut speise er nur selten und nur mit Gästen, zuhause würde er bescheiden essen.
Sie hatten ihre Teller geleert und schielten auf die noch halb vollen Platten. Das entging der aufmerksamen Gehilfin nicht. Gleich kam sie mit frischen, vorgewärmten Tellern und verteilte darauf den Rest der Speisen. Am Ende hatten alle ihren Bauch vollgeschlagen, so voll, dass für ein Dessert - es gab Erdbeeren mit Schlagrahm - kein Platz mehr war.
Johann schlug einen Verdauungsspaziergang vor. Den gestaltete er so, dass sie nach gut tausend Schritten das Hotel Altstadt erreichten. Er fragte sie, ob sie mit ihren Zimmern zufrieden seien, und bekam lobende Worte zu hören, luxuriös meinte einer und sehr ruhig ein anderer. Morgen erwarte sie ein anstrengender Tag, sagte Johann, und verabschiedete sich.
Kurz vor zehn Uhr kam er zu seinen Kindern, die in ihren Schlafanzügen vor dem Fernsehgerät saßen und auf ihn warteten, nicht weil sie ihm noch etwas Wichtiges mitteilen wollten, nein, sie warteten auf ihn, weil sie besser einschlafen konnten, wenn er in der Wohnung war. Er bedankte sich bei Oma Berta, der Kindsmagd, und begleitete sie zu ihrem Auto.
Mit großen Schritten, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, ging er zurück in die Wohnung, freute sich, dass er sich noch ein Weilchen zu Marion und Conny auf das Sofa setzten konnte. Während er die Oma nach unten begleitete, waren sie auf dem Sofa auseinander gerückt und hatten für ihn Platz gemacht. Er quetschte sich zwischen sie und legte um jede einen Arm. Es sei schön bei seinen Liebsten zu sitzen, sagte er. Beide lächelten, Conny nur kurz, weil sie gähnen musste und nicht gleichzeitig lächeln und gähnen konnte. Sie sei müde, säuselte sie. Gleich darauf fing auch Marion zu gähnen an. Ehe sie an ihn gelehnt einschliefen, schickte er sie mit einem Küsschen und dem Wunsch für eine gute Nacht ins Bett.
Er rief Susanne an und sagte ihr, dass er sie vermisse. Von da an telefonierten sie jeden Abend, nahmen zaghaft das Wort Liebe in den Mund. Er erzählte von seiner Kindheit und Jugend in Hamburg, von seinen Eltern, die schon gestorben waren, und seiner Schwester Helga, die in Hamburg wohnte. Sie würden oft miteinander telefonieren und sich jedes Jahr besuchen, entweder hier oder in Hamburg. Helga liebe Marion und Conny, und die liebten ihre Tante, ihre Großzügigkeit und ihren trockenen Humor. Wenn sie Heinz Erhardt nachmache, kugelten sie sich vor Lachen.
Ob Helga eine Familie habe, fragte Susanne.
Nein, sie habe nicht geheiratet. Sie habe einige Freunde gehabt, darunter jedoch Keinen, den sie hätte ständig um sich haben wollen. Vielleicht sei sie zu anspruchsvoll. Sie habe einen Doktortitel, sei Biologin. Seit einigen Jahren arbeite sie als Abteilungsleiterin in einem Lebensmittelkonzern.
Susanne erzählte, dass ihre Mutter bei ihrer Geburt beinahe gestorben wäre. Deshalb habe sie keine Geschwister. Ihre Mutter sei auch ein Einzelkind, aber die Mitglieder der väterlichen Linie, die Fischers, seien sehr fruchtbar. Sie habe viele Basen und Vettern, von denen einige hier lebten, mit ihr aufwuchsen und die fehlenden Geschwister ersetzten. Ihre Eltern würden in einem Nachbarort wohnen. Dort hätten sie vor einigen Jahren ein großes Haus gekauft mit genug Platz für die Schreinerei ihres Vaters und die Physiotherapiepraxis ihrer Mutter.
Ob die noch arbeiteten, fragte Johann.
Nein, jetzt nicht mehr. Ihr Vater werkle herum, da ein Regal für Florian, dort einen Blumenständer für sie. Und ihre Mutter behandle noch ein paar alte Bekannte.
Das gefalle ihm, sagte Johann.
Susanne redete weiter: In der Schule habe sie keine Probleme gehabt, selbst Chemie und Physik seien für sie kein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Nebenher sei sie zum Tennis und in den Ballettunterricht gegangen.
Bei dem Wort Ballett ging Johann ein Licht auf. Deshalb tanze sie so gut, bemerkte er.
Ja, damit habe es begonnen, aber richtig tanzen gelernt habe sie im Tanzclub Latinos, in den sie mit sechzehn eingetreten sei. Sie habe eine schöne Jugend gehabt. Ihre Eltern und die Eltern ihrer Mutter hätten sie mit Liebe umsorgt und für jeden ihrer Wünsche ein offenes Ohr gehabt. Sie sei brav gewesen, nur mit achtzehn habe sie etwas Böses gemacht.
Jetzt sei er aber gespannt, sagte Johann.
Weil ihr die Debatten über Abtreibung auf die Nerven gegangen seien, habe sie spät in der Nacht mit roter Farbe an eine Wand der Stephanskirche Mein Bauch gehört mir gesprayt.
Johann lachte.
Wenige Tage später habe jemand unter ihre Worte mit brauner Farbe Diese Mauer aber nicht geschrieben. Das sei bestimmt der Pfarrer gewesen, habe sie damals gedacht.
Er prustete los. Das sei eine tolle Geschichte. Nachdem er sich beruhigt hatte, sagte er nachdenklich, er habe auch manches Böse gemacht: Geklaut, geprügelt - nichts Großes und auch nicht allein; in der Gruppe habe man sich gegenseitig hochgeschaukelt. Das liege lange zurück. Heute schäme er sich dafür.
Wie er von Hamburg in den Süden gekommen sei, fragte Susanne.
Nach dem Abitur sei er seiner Freundin Dagmar nach Tübingen hinterhergelaufen und habe an der Eberhard-Karls-Universität studiert. Auf der Suche nach einem aufregenderen Umfeld sei Dagmar am Ende des zweiten Semesters weiter gezogen nach München, aber ohne ihn, er sei bis zum Examen in Tübingen geblieben. Ihm habe es dort gefallen. Tübingen sei eine alte Studentenstadt, mit preiswerten Kneipen und dem Neckar, auf dem im Sommer Studenten in Stocherkähnen schipperten. Er habe auch den Botanischen Garten gemocht, sei gern mit einem Lehrbuch unter exotischen Bäumen gesessen. Er ging im Geist durch, was noch erwähnenswert sei, fuhr dann fort: Die Neckarzeile mit dem Hölderlinturm an einem Ende sehe malerisch aus. In einem der Häuser mit einem Balkon hin zum Fluss lebe das Zimmertheater. Dort habe er einige groteske Stücke gesehen. Er erinnere sich an Warten auf Godot von Samuel Beckett und König Ubu von Alfred Jarry.
Susanne erzählte von Indien, von den prächtigen Bauwerken und der unbeschreiblichen Armut der Menschen, auf der einen Seite goldene Paläste, auf der anderen Familien, die auf der Straße lebten und ihren Wohnplatz durch eine Reihe von Kieselsteinen zur Nachbarfamilie abgrenzten. Diese Bilder seien für sie und ihre Freundin Petra schwer zu verkraften gewesen. Und die unzähligen Bettler, alle zwanzig Meter einer. Und der Lärm in den Städten, und der Verkehr - ein wildes Durcheinander von Fahrradrikschas, Ochsenkarren, ratternden Dreiradtaxis, hupenden Bussen - und dazwischen magere, heilige Kühe und Massen von Fußgängern.
Erholung hätten sie in Goa gefunden. Die Leute seien dort weniger arm und es gebe genug zu essen: Fisch aus dem Meer, Reis, Bananen, Kokosnüsse. Sie hätten sich unter die Hippies an der Anjuna Beach gemischt, gefaulenzt und an einer einsamen Stelle nackt im Meer gebadet.
Das sei ein schönes Bild, sagte Johann.
An Werktagen stand Johann spätestens um sechs Uhr auf, schlich ins Badezimmer, putzte seine Zähne, wusch und rasierte sich. Mit Hose und Bademantel bekleidet ging er in die Küche und richtete das Frühstück für seine Töchter und sich - Corn Flakes, Vollkornbrot, Frischkäse, Kirschmarmelade, Joghurt, Fruchtsaft, Milch, Kakao und Tee. Danach weckte er die beiden Schülerinnen, nicht ohne vorher noch einen Blick auf die an der Tür des Küchenschranks hängenden Stundenpläne geworfen zu haben; bloß nicht zu früh wecken!
Conny will Wissenschaftlerin werden - wie Marie Curie, verkündete sie in ihrer jugendlichen Unbekümmertheit. Sie lernt leicht und gleicht nicht nur mit ihrem hellwachen Geist sondern auch mit ihrem braunen Wuschel aus Naturlocken und ihrem zierlichen Äußeren ihrer Mutter. An der Oberlippe trägt sie ein Piercing, einen kleinen Ring aus Nickel-freiem Silber. Johann neckte sie mit der Bemerkung, dass der Ring farblich gut zu der Zahnspange in ihrem Mund passe.
Marion schlägt mehr nach ihm, ist im Körperbau größer und kräftiger als Conny und im Kopf nicht spontan, eher bedächtig. Sie hatte den Verlust ihrer Mutter weniger gut überstanden als Conny, hatte über Monate immer wieder Phasen gehabt, in denen der Schmerz sie beherrschte. Dann weinte sie viel und redete wenig. Bertas Arme, in denen sie gerne lag, und das Meerschweinchen Susi, das sie zu ihrem elften Geburtstag geschenkt bekam, holten sie allmählich aus ihrer Trauer heraus.
Neue Sorgen um Marion hatte er sich im letzten Jahr gemacht. Die Polizei hatte ihn vorgeladen. Na, so was! Es könne sich nur um ein Verkehrsdelikt handeln, dachte er und rätselte, wo und wann er zu schnell gefahren sei. Oder hatte er eine rote Ampel übersehen? Doch es ging nicht um ihn. Auf der Dienststelle eröffnete ihm ein junger, forscher Polizist, dass seine Tochter Marion Mitglied der Jugendbande sei, die sie vor vier Tagen beim Einbruch in eine leer stehende Villa geschnappt hätten.
Ungläubig hatte er den Beamten angeschaut und ohne zu zögern erwidert, da müsse ein Irrtum vorliegen, seine Tochter würde bestimmt nirgends einbrechen.
Vielleicht jetzt noch nicht, erklärte der Polizist. Ihr Name sei in dem Notizheft gestanden, das sie bei dem Gangleader gefunden hätten. Sie sei noch kein aktives Mitglied. Deshalb hätte sie, so vermute er, bei diesem Einbruch nicht mitmachen dürfen.
Angeschlagen, wie ein Boxer kurz vor dem Aus, war er von dem Polizeiposten ins Freie gewankt. Auf dem Heimweg murmelte er mehrmals vor sich hin: „Es hätte schlimmer kommen können.“
„Marion, Schatz, was machst du denn für einen Scheiß?“, fragte er sie. „Wie kannst du nur? Denk doch an deine Mutti, was würde die wohl dazu sagen? Haben wir durch Sophies Tod nicht schon genug Leid erfahren?“
Er nahm sie in den Arm. Sie heulte los und nuschelte, es tue ihr leid. Ihre Tränen rollten auf seinen Pulli. Sie solle ihm versprechen, dass sie sich von dieser Bande fernhalten werde. Schräg von unten blinzelte sie ihn an und setzte voll Reue einen weiteren Tränenschub frei. Sie verspreche es, sagte sie. Die Gang habe sich aufgelöst. Rudi, der Leader, sei in ein Erziehungsheim gesperrt worden. Johann atmete auf.
Von der Wohnung am Rande der Altstadt konnten beide Mädchen ihre Schule zu Fuß erreichen. Johann fuhr die fünf Kilometer zur Firma Li-Filter mit dem Auto. Wenn es irgendwie ging, kehrte er zwischen fünf und sechs Uhr nach Hause zurück, oft mit Arbeit im Gepäck für die Nacht. Zuerst redete er ein paar Worte mit Ailin, fragte sie, wie es ihr gehe, wie sie mit den Mädchen zurecht- komme, was sie morgen kochen werde, und ob noch genügend Einkaufsgeld in der Kasse sei.
Nachdem Ailin sich verabschiedet hatte, setzte er sich zu seinen Töchtern und hörte sich an, was sie auf dem Herzen hatten. Meistens kam spontan nicht viel. Sie hatten Hunger, wollten mit ihm in die Küche, das Abendessen richten und nebenher über Freunde, Streit, Ausflüge, Musik, Bücher und Fernsehen reden. Das Thema Schule hoben sie für später auf. Unter der Woche kochten sie selten. Sie aßen Vollkornbrot mit Butter, Käse, Tomaten, Gurken und Oliven, und tranken dazu Früchtetee. Zum Nachtisch gab es Obst: Äpfel und Bananen und dazu Kirschen im Frühsommer, Trauben im Herbst und Mandarinen im Winter.
Wenn es nicht schüttete oder stürmte, machten sie nach dem Essen einen Spaziergang in den Park oder bummelten durch die Stadt. Heute zeigte sich der Frühling mit Sonne und milden Temperaturen von seiner schönsten Seite und weckte ihre Lust, Federball zu spielen. Mit Sportschuhen und einem Rucksack mit Schlägern und Federbällen und drei Flaschen Apfelschorle zogen sie zum Stadtgarten, wo es außer einem Sandplatz und Spielgeräten für Kleinkinder auch zwei Badminton-Felder mit Netz und Begrenzungslinien gab. Als sie dort ankamen, waren beide Felder besetzt. Das hieß warten, bis eines frei wurde, und sich bis dahin neben dem Platz warm spielen.
Schon bald konnten sie auf ein Feld wechseln. Zuerst spielte Marion gegen Conny. Er sah ihnen gerne zu, bewunderte Marion, die hart und präzise den Federball über das Netz schickte, und staunte über Conny, wie sie immer wieder listig den Ball zurück schaufelte. Dann musste er ran, zuerst gegen Marion und zum Schluss gegen Conny. Sie verlangtem ihm alles ab und freuten sich, wenn er einen Ball nicht erwischte.
Auf dem Heimweg, der heute, wie so oft, über die italienische Eisdiele am Marktplatz verlief, fragte er sie nach den Hausaufgaben und den anstehenden Klassenarbeiten. Noch konnte er ihnen in fast allen Fächern helfen oder wenigstens zusammen mit ihnen bei Google nach einer Lösung suchen.
In seinem Zimmer hatte er einen Computer mit Internetanschluss, den er hauptsächlich fürs Geschäft nutzte, wenn er nachts Emails an ausländische Repräsentanten von Li-Filter schickte und Informationen über Kunden und Konkurrenten suchte. Aus Furcht vor Viren wollte er nicht, dass Marion und Conny ohne ihn an diesen Computer gingen.
Er hatte den Mädchen einen Laptop gekauft, damit sie lernen, mit Word und Excel umzugehen. Den Internetanschluss hatte er ihnen bislang verweigert, weil er nicht wollte, dass sie auf pornografischen Seiten landeten. Er wusste, was sie zu sehen bekommen würden, wenn sie bei Google das Wort ficken eingaben. Das war wirklich nichts für Mädchenaugen. „Kann ich sie überhaupt davor schützen?“, fragte er sich. „Wie lange wird es dauern, bis sie solche Bilder bei einer Freundin oder einem Freund zu sehen bekommen?“ Dieser Gedanke gefiel ihm nicht.
Oma Berta unterstützte ihn, als er mit seinen Töchtern über Sex sprach. Für jede hatte er ein Aufklärungsbuch gekauft, so konnte er sich auf das, was ihm wichtig erschien, beschränken: Wenn es auch viele schmutzige Worte für die Geschlechtsorgane und Sex gebe, sagte er, sei Sex nicht von vornherein schmutzig, im Gegenteil, Sex sei wunderschön, wenn zwei Menschen, die sich liebten, das freiwillig miteinander machten. Ohne Liebe sollte man auf Sex verzichten. (Bei diesen Worten kam ihm der Pfarrer, der Wasser predigte und Wein trank, in den Sinn, denn um seine Geilheit zu bändigen, hatte er in den letzten drei Jahren oft Sex ohne Liebe praktiziert.)
Man müsse auch nicht möglichst früh mit Sex beginnen, denn Liebe sei oft von Kummer begleitet, den man mit zwanzig besser verkrafte als mit fünfzehn. Und sie sollten sich nicht von anderen Jugendlichen, die mit ihren sexuellen Erfahrungen prahlten, unter Druck setzen lassen; meistens sei an der Prahlerei nichts dran.
Danach ging er auf Kondome ein zum Schutz gegen eine ungewollte Schwangerschaft und eine Infektion mit Viren wie dem HIV, das AIDS auslöste. Johann zeigte ihnen Bilder von AIDS-Patienten: Ausgemergelte Menschen, die wie Mumien aussahen, weil sie durch andauernden Durchfall nur noch aus Haut und Knochen bestanden, Menschen mit Kolonien von Hefepilzen in Mund und Rachen, und Menschen, deren Haut bedeckt war mit Kaposi-Sarkomen, üblen Krebsgeschwüren. Marion und Conny waren schockiert.
„Kein Sex ohne Kondom!“, wiederholte er mehrmals.
Er habe Kondome in der untersten Schublade seiner Kommode. Wenn sie sich später einmal verlieben würden, könnten sie sich dort bedienen. Sie sollten aber mit den Kondomen keinen Unfug anstellen, warnte er. Vor einigen Jahren sei ein Schüler wegen sittlicher Verfehlungen vom Johannes-Kepler-Gymnasium geflogen, weil er Kondome, die er seinem Vater geklaut hatte, an seine Klassenkameraden verkaufte.
Marion und Conny kicherten. Diese Geschäftsidee schien ihnen zu gefallen.
Es habe nicht lange gedauert, bis ein Kondom von den Eltern eines Schülers entdeckt und die Frage nach dem Woher gestellt worden sei. Gut, man hätte den Namen des Verkäufers nicht der Schulleitung nennen müssen, ein Gespräch mit dessen Eltern hätte seiner Meinung nach genügt.
Wenn sie Fragen hätten, sollten sie zu ihr kommen, sagte Berta, sie sei immer für sie da. Die liebe Oma besuchte sie regelmäßig samstagnachmittags und half einfühlsam die Mutter zu ersetzen. Und wenn Johann geschäftlich reisen musste, blieb sie über Nacht oder nahm - bei längeren Reisen - die Mädchen zu sich.
Berta war seine engste Vertraute. Er hatte ihr Vollmacht für sein privates Bankkonto gegeben und eine Scheckkarte, mit der sie Einkäufe für Marion und Conny bezahlen konnte. Wenn es galt Unterwäsche auszuwählen, war sie kompetenter, und beim Kleiderkauf geduldiger als er. Für den Fall, dass ihm ein Unglück zustoßen sollte, hatte er für sie in einem Ordner die wichtigen Dokumente zusammengestellt - seine Bankkonten, seine Lebensversicherung, den Vertrag über seinen Anteil von dreißig Prozent an Li-Filter, den Grundbucheintrag für die Wohnung, die Vereinbarung über die Auszahlung von Sophies Anteil an der Marien-Apotheke in einen Vermögenssparplan für Marion und Conny, sein Testament und die Adressen von seinem Steuerberater und seinem Rechtsanwalt.
Die gute Berta. Sie schien eine robuste Psyche zu haben. Ein paar Jahre vor dem Tod ihrer Tochter musste sie den Verlust von Herbert, ihrem Mann, verkraften. Herbert, der als Pharmareferent unter der Woche im Auto unterwegs war, suchte an den Wochenenden Erholung in den Bergen, wanderte im Sommer und im Herbst, zog mit Langlaufski im Winter los und machte Skitouren im Frühjahr, meistens zusammen mit Berta oder mit seinem Pharmakollegen Jürgen, selten allein. Er hielt sich für einen erfahrenen Bergwanderer, meinte, das Risiko gut einschätzen zu können, und wählte einfache Touren, wenn er alleine ging. Er mochte die Appenzeller Alpen, die Churfirsten, die an der Nordseite sanft anstiegen und nach Süden steil zum Walensee abfielen. Bei klarem Wetter hatte er oben einen spektakulären Blick nach Süden auf tausend Alpengipfel.
Seine letzte Tour führte ihn zum Brisi, seinem Lieblingsberg. Am Tag darauf fand ihn die Alpine Rettung der Ostschweiz unter einem Felsvorsprung vierhundert Meter unterhalb des Gipfels, erfroren, mit einer zerrissenen Hose und Schürfwunden an den Händen, aber einem Lächeln im Gesicht.
„Warum? Warum? Warum?“, hatte Berta geschrien und mit ihren Fäusten auf den Tisch gehauen, als wolle sie ihren Schmerz von sich weg in das Holz hämmern. Damals habe sie viel geweint, erzählte sie Johann eines Abends bei einem Glas Wein.
Wie es zu dem Unglück am Berg gekommen war, Tatsachen und Vermutungen, hielt ein Bericht fest: Zu Hause sei er bei Sonne und wenigen Wolken losgefahren, hatte Berta zu Protokoll gegeben. Am Vormittag sei es auf der Nordseite der Churfirsten bewölkt gewesen, aber nach Niederschlag habe es nicht ausgesehen, sagten Bauern, die dort ihr Vieh auf der Weide hielten. Dennoch sei am frühen Nachmittag ein Unwetter mit Sturm und Hagel über sie hinweg gefegt. Der Hagel habe den Bergpfad in eine Eisbahn verwandelt, meinten die Alpinen Retter, ohne spezielle Ausrüstung wäre der Abstieg nicht möglich gewesen. Die Schürfwunden an den Händen und die zerrissene Hose wiesen darauf hin, dass der Tote versucht habe abzusteigen, dabei aber gestürzt sei.
Finanziell ging es Berta gut. Ein Haus frei von Schulden mit einer kleinen Mieteinnahme aus dem Dachgeschoss, eine Rente aus ihrer langjährigen Tätigkeit als medizinisch-technische Assistentin, und die vielen tausend Euro aus Herberts Lebensversicherung, die sie mit Johanns Hilfe gewinnbringend angelegt hatte. Das war mehr als genug.
Mit den wenigen ihr wirklich sympathischen Freundinnen und Bekannten traf sie sich regelmäßig zum Kaffeeklatsch und zu Besuchen von Theateraufführungen und anderen kulturellen Veranstaltungen. Bei einer Ausstellung zum Thema Unser Wald war sie auf Edgar, einen rüstigen Förster im Ruhestand, gestoßen und hatte sich von ihm den Wald erklären lassen. Sie fand ihn sympathisch und folgte seiner Einladung zu sonntäglichen Wanderungen.