Читать книгу Emilia will Fotomodel werden - Benny Bohlen - Страница 3
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ОглавлениеAhornstraße 32
82362 Weilheim in Oberbayern
Emilia schlug seufzend die Augen auf. Die Nacht war angenehm gewesen, der Schlaf erquicklich. So ausgeruht und wohl wie heute hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt. Bäume hätte sie ausreißen können.
Bevor sie aufstand, gähnte sie herzhaft und streckte die Glieder. Ein Ritual, das sich - mit kleinen Abweichungen - jeden Morgen wiederholte.
Jetzt gab sie sich einen Ruck, warf die Steppdecke schwungvoll zur Seite und verließ das angenehm warme Bett, das sie an manchen Tagen am liebsten mitgenommen hätte. Ulkig hätte das ausgesehen, wenn sie in der Schule im Bett gelegen hätte.
„Emilia Brandtner, schnarchen Sie nicht!“, hörte sie die Klassenlehrerin im Geist ärgerlich rufen. „Wenn Sie schon mitten im Klassenzimmer im Bett herumkugeln müssen, sollten Sie sich wenigstens still verhalten! Sie stören den Unterricht!“
Der Unterricht Heike Wagenhoff war stets einschläfernd. Sie unterrichtete Betriebswirtschaftslehre, und nicht nur Emilia hatte Mühe, diese Stunde wachen Auges durchzustehen. Wenn ich einmal wirklich mit dem Bett angerückt käme, dachte Emilia amüsiert, würden die anderen Schüler es mir nachmachen.
Das Klassenzimmer würde zum Schlafsaal werden. Sie stellte sich die Lehrerin vor dreißig Betten vor.
„Wagenhoff, seien Sie still! Sie stören unseren Schlaf!“
Emilia schüttelte schmunzelnd den Kopf. Was du dir so zusammenspinnst, dachte sie, während sie einen Blick aus dem Fenster warf. Es war ein wunderschöner Herbstmorgen. Die Bäume trugen ein hübsches buntes Blätterkleid, das von goldenen Sonnenstrahlen zum Leuchten gebracht wurde.
Das himmelblaue Nachthemd, das Emilia trug, machte sie sehr sexy, denn es war ziemlich kurz, wodurch ihre langen, schlanken Beine großartig zur Geltung kamen. Außerdem war der Stoff so dünn, dass man ihre Brüste deutlich erkennen konnte. Darunter hatte sie ein gleichfarbiges Spitzenhöschen an. Emilia war blond und hatte veilchenblaue Augen.
Rafael, ihr Freund, verglich sie manchmal mit einer großen, zum Leben erweckten Barbie-Puppe. Obwohl er das als Kompliment meinte, gefiel ihr dieser Vergleich nicht, denn sie wollte kein Spielzeug sein.
Rafael … er war ein gutaussehender junger Mann, zwanzig war er im vergangenen Monat geworden, und er hatte gerade mit dem Medizin Studium begonnen. Er gefiel sich mit einem pechschwarzen Drei-Tage-Bart, den er mit einem speziellen Rasierapparat auf exakt die gleiche Länge brachte. Emilia hätte er mit glatten Wangen besser gefallen, doch er ließ sich nicht überreden, das Gestrüpp, das zu seiner persönlichen Note gehörte, wie er sagte, zu entfernen.
Rafael konnte sehr stur sein. Manchmal wünschte sich Emilia, er würde mehr auf sie eingehen, aber im Großen und Ganzen war sie mit ihrer Beziehung zufrieden. Rafael renkte sich nicht den Halswirbel aus; wenn ein hübsches Mädchen an ihm vorbeiging. Er war treu und als Liebhaber nicht übel.
Emilia ging ins Bad, zog sich aus und stieg in die Duschkabine. Vorsichtig drehte sie das Wasser auf, denn der erste Schwall war immer kalt, und sie hatte keine Lust, ihn voll abzubekommen. Als das Wasser warm wurde, drehte sie ganz auf und drückte reichlich Bade-Gel in ihre hohle Hand. Mit streichelnden Bewegungen verteilte sie das Gel auf ihrem nackten Körper. Sie massierte ihre Brüste ein wenig, weil sie gelesen hatte, dass das gut für ein straffes Gewebe war, strich mit beiden Händen über den flachen Bauch abwärts, seifte auch die Schenkel und den festen Po ein. Ihre Taille war so schmal, dass Rafael sie mit seinen Händen mühelos umfassen konnte. Rafael! dachte Emilia. Schon wieder Rafael.
Sie dachte sehr oft an ihn. Ihr Tag begann und endete mit ihm. Selbst in der Schule konnte sie nicht verhindern, dass sich ihr Geist mit ihm beschäftigte.
„Emilia Brandtner! Wo sind Sie schon wieder mit Ihren Gedanken?“, wetterte die Direktorin häufig.
„Na, wo schon?“, war sie manchmal versucht zu antworten. „Bei Rafael natürlich!“
Als Emilia wenig später, zwar dezent geschminkt, aber im superkurzen Minirock die Küche betrat, warf die Mutter ihr einen missbilligenden Blick zu.
„Findest du, dass das die richtige Kleidung für die Schule ist?“
„Ich trage sehr gerne einen Rock“, erwiderte Emilia und setzte sich an den Küchentisch. „Außerdem habe ich hübsche Beine. Warum soll ich sie verstecken?“
„Du bist immerhin achtzehn Jahre alt, und ihr habt Lehrer, die nicht viel älter sind.“
„Die sind kurze Röcke in der Schule gewohnt“, gab Emilia unbekümmert zurück.
Helene Brandtner goss Kaffee in eine Tasse und stellte sie vor ihre Tochter hin. Sie trug einen altmodischen Morgenrock, und ihr kurzes blondes Haar war fürs erste schnell mit wenigen Bürstenstrichen in Ordnung gebracht. Erst wenn alle aus dem Haus waren, nahm sie sich Zeit für sich. Ihr Mann hatte sich mit dem üblichen flüchtigen Kuss auf die Wange vor zwanzig Minuten verabschiedet, und Emilia würde in wenigen Minuten zur Tür hinausflitzen.
„Heutzutage scheint es Mode zu sein, stets unpassend gekleidet aufzutreten“, sagte Helene Brandtner verständnislos. Sie bestückte den Toaster mit zwei Weißbrotscheiben. „Man beraubt den Theaterbesuch seines festlichen Rahmens, indem man mit schiefgelaufenen Sportschuhen erscheint, geht in schmuddeligen Jeans ins Konzert und zieht seine älteste Bluse für die Oper an.“
„Die Leute tragen einfach das, worin sie sich am wohlsten fühlen“, erklärte Emilia.
„Du hast natürlich recht, Emilia. Aber ich finde, gerade heutzutage, etwas weniger Haut zu präsentieren.“
„Wie meinst du das, Mami?“
„Du weißt es genau! Wir wurden mit Flüchtlingen überschwemmt, die jetzt gelangweilt in den Containern hausen und scharf auf junge, hübsche, blonde Mädchen sind!“
Das fand Emilia überhaupt nicht, aber sie widersprach ihrer Mutter nicht. Solche Diskussionen konnten sich über mehrere Stunden hinziehen, ohne was zu bringen, denn sie hatten beide ihre feste Meinung, von der sie nicht abzugehen bereit waren.
Die Weißbrotscheiben hüpften aus dem Toaster. Helene Brandtner legte sie auf Emilias Teller.
„Gibt es irgendetwas Neues in der Schule?“
„Die hat doch eben erst begonnen.“
„Deswegen kann es doch schon was Neues geben.“
„Es geht alles seinen gewohnten Trott“, sagte Emilia und nahm einen Schluck vom lauwarmen Kaffee. Dass Eltern immer auf Sensationen erpicht waren, dachte sie. In diesem Moment läutete Emilias Handy.
„Oh … es ist Rafael!“
Sie nahm den Anruf entgegen und bat den Freund, einen kleinen Moment zu warten. Sie wollte mit ihm ungestört telefonieren.
„Rafael. Sag mal, hat er immer noch diesen schrecklichen Bart, der ihn aussehen lässt, als wäre er permanent schmutzig?“
„Ich werde ihm zu Weihnachten eine Enthaarungscreme schenken.“
Emilia sprang vom Küchentisch auf und lächelte der Mutter nochmals zu. Ob sie wusste, dass sie bereits regelmäßig mit Rafael schlief? Wahrscheinlich vermutete sie es, sie verdrängte es aber vehement - wie alles, was ihr unangenehm war.
In ihrem Zimmer angekommen, sagte sie in das Handy: „Jetzt bin ich allein.“
„Na, du!“, rief Rafael gut gelaunt in den Hörer.
„Na, du selber“, gab Emilia keck zurück.
„Gut geschlafen?“
„Hervorragend.“
„Von mir geträumt?“
Sie kicherte. „Nein, einen Alptraum hatte ich nicht.“
„Das wagst du nur zu sagen, weil du nicht vor mir stehst. Du bist ein schlimmes Mädchen. Ich werde dich bei der nächsten Gelegenheit übers Knie legen.“
„Und was weiter?“
„Das wirst du dann schon sehen. Apropos sehen. Sehen wir uns heute Nachmittag?“
„Hatten wir das nicht abgemacht?“, fragte Emilia verwundert.
„Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dabei bleibt“, meinte Rafael. „Kannst dich schon mal freuen.“
„Worauf?“
„Auf eine sturmfreie Bude. Meine Eltern sind freundlicherweise für zwei Tage nach München gefahren. Wir haben das Haus für uns allein.“
„Na, wenn das keine gute Nachricht ist“, kicherte Emilia amüsiert.
Die Stunden zogen sich wie zähflüssiger Sirup. Am schlimmsten war die letzte mit der Klassenlehrerin Heike Wagenhoff, deren »Lieblingsschülerin« Emilia war.
„Emilia, sagen Sie uns dies …“ – „Emilia, erklären Sie uns das …“ – „Stellen Sie sich vor, Emilia, Sie haben ein kleines Unternehmen, das rote Zahlen schreibt …“ – „Emilia, schreiben Sie folgendes an die Tafel …“ – „Was muss man hierbei berücksichtigen - Emilia?“ – „Wie würden Sie dieses Problem lösen - Emilia?“
Manchmal hatte Emilia echt den Eindruck, sie würde sich mit der Wagenhoff allein in der Klasse befinden.
„Emilia. Emilia. Emilia …“
Sie kam kaum dazu, an Rafael zu denken, aber wenn er ihr ganz kurz einfiel, wurde sie von einem Gefühl angenehmer Vorfreude erfüllt. Sie war sehr gern mit ihm allein. Wenn seine Eltern nicht da waren, nutzten sie das immer weidlich aus. Was hatten sie in dem großen Haus nicht schon alles angestellt. Ein leises Lächeln erschien auf Emilias Lippen.
„Emilia, was gibt es zu grinsen?“, wollte die Wagenhoff, die in ihrem Leben wohl noch nie gelacht hatte, unfreundlich wissen.
„Nichts, Frau Wagenhoff“, antwortete Emilia rasch - und dann war die Stunde endlich um.
„Heute hatte dich die Wagenhoff mal wieder fast pausenlos im Visier“, sagte Alexander Zedlitz beim Verlassen des Schulgebäudes mitfühlend.
Emilia zuckte gleichmütig die Schultern und erwiderte: „Dieses eine Jahr verkrafte ich sie noch, aber danach will ich nie wieder von ihr hören.“
„Sie kann verdammt lästig sein.“
„Ich habe gelernt, mit ihr zu leben.“
„Mir würde sie gewaltig auf den Geist gehen“, meinte Alexander. „Wenn du möchtest, nehme ich dich auf meinem Vespa Roller mit.“
„Ich bin selbst mit dem Mofa da“, erwiderte Emilia.
„Mein Pech.“
Das Bedauern war ernst gemeint, denn Alexander hatte sehr viel für Emilia übrig. Deshalb versuchte er auch immer, ihr irgendeinen Gefallen zu tun. Leider gab es Rafael. Alexander wusste, dass es ihm nie möglich sein würde, Rafael auszubooten, aber er war so ehrlich, zuzugeben, dass er es versucht hätte, wenn er auch nur die winzigste Chance gewittert hätte.
„Alexander Zedlitz!“ Die bissige Stimme der Klassenlehrerin ließ Alexander heftig zusammenzucken.
„Oje“, stöhnte er und sah Emilia unglücklich an. „Sie hat gesehen, wie ich eine Dose Bier trank.“
„Kommen Sie zurück, Zedlitz, ich habe mit Ihnen zu reden!“
„Ach, du dickes Ei“, seufzte Alexander. „Sie hat ein neues Opfer gefunden.“
„Lass dich nicht unterkriegen“, riet ihm Emilia.
„Das sagt sich so leicht“, ächzte Alexander.
„Zedlitz! Wird's bald?“
„Ich komme, Frau Wagenhoff!“ Alexander schlich wie ein geprügelter Hund zurück.
Über den Brandtners wohnte Sarah Magenheim, die seit vier Jahren blind war. Sie hatte ihr Augenlicht bei einem Autounfall verloren, den sie nicht verschuldet hatte. Ein Betrunkener hatte sie mit seinem Fahrzeug frontal gerammt, und ihr Wagen war in Flammen aufgegangen. Der Betrunkene war unverletzt geblieben, und als sie im Krankenhaus zu sich gekommen war, hatte sie nichts mehr gesehen.
Seither half ihr die Familie Brandtner, wo immer sie konnte. Emilias Vater erledigte kleinere Reparaturen, Helene Brandtner half in der Wohnung von Sarah Magenheim, und Emilia kaufte regelmäßig für sie ein. Diesmal hatte es Emilia damit sehr eilig, denn anschließend wollte sie zu Rafael fahren, nach dessen Umarmung sie sich schon sehnte. Manchmal hätte sie sich von ihm etwas mehr Zärtlichkeit gewünscht und es auch gern gesehen, wenn er auch mal näher auf ihre Interessen eingegangen wäre und die Freizeit dementsprechend gestaltet hätte - aber sie sagte sich, niemand war perfekt, auch sie nicht. Er war schon okay.
Emilia schleppte den Einkaufskorb die Treppe hinauf und läutete an der Tür, die sich kurz danach öffnete. Sarah Magenheim war eine attraktive Frau, groß und schlank. Sie hatte sich vorgenommen, ihr Schicksal fest in die Hand zu nehmen, und versuchte so viel wie möglich selbst zu erledigen.
In ihrer Wohnung fand sie sich so gut zurecht, als könne sie immer noch sehen, und sie war, obwohl das Schicksal sie so hart getroffen hatte, nie schlecht gelaunt und für alles, was man für sie tat, dankbar.
Da sie Emilia schon lange kannte, duzte sie sie. Sarah Magenheim war Emilias Vertraute, mit der sie über alles reden konnte. Obwohl ihre Nachbarin so alt war wie Emilias Mutter, verstanden sich die Frauen wie gute Freundinnen.
Emilia trug den Einkaufskorb in die Küche. Die Blindheit hatte Sarah Magenheim sehr sensibel werden lassen.
„Scheint so, als hättest du es heute eilig“, stellte sie lächelnd fest. Sie sah mit ihren großen, leeren Augen dabei in Emilias Richtung.
„Stimmt“, gab Emilia zu.
„Keine Zeit für ein kleines Schwätzchen?“
„Tut mir leid …“
„Rafael?“
„Ja“, sagte Emilia. „Er erwartet mich bereits.“
„Bestimmt schon sehr sehnsüchtig.“
„Das hoffe ich“, antwortete Emilia.
„Dann solltest du dich schnell auf den Weg machen.“
„Zuerst müssen die Lebensmittel an ihren Platz.“
„Traust du mir nicht zu, dass ich das selbst kann?“
Sarah Magenheim tastete die Waren im Korb ab, und räumte die Kühlprodukte in den Kühlschrank.
„Du machst das großartig, Sarah“, lobte Emilia. „Ich muss dich immer wieder bewundern.“
„Nun fahr schon zu Rafael“, drängte die Nachbarin. „Aber fahr vorsichtig. Und grüß den jungen Mann von mir.“