Читать книгу Lebe, wenn du kannst. Wenn du nicht kannst, lasse ich dich ziehen - Berit Holzner - Страница 5

18. Dezember 2008

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Es ist nicht so einfach, mir alles wieder in Erinnerung zu rufen.

Herholen wollte ich die Intensität, die Liebe, die starken Gefühle und besonders die starke Trauer, die ich noch einmal erleben wollte. Dazu wollte ich Tag für Tag in meinen Aufzeichnungen von damals lesen, mich erinnern und das Wichtigste niederschreiben. Das Geschriebene würde eine Mischung sein aus Teilen der Tagebuchaufzeichnungen und Ergänzungen, die ich hinzufüge.

(Dabei schreibe ich nicht nur über meine Mutter, wie ich eigentlich annahm, sondern viel über mich. Das irritiert mich im Nachhinein.)

In einer wärmenden Trauer aufgehen, die mich der Mutter näherbringt, wie ich erhoffte, kann ich jedoch nicht. Denn was ich jetzt am zweiten Tag des Schreibens vor allem spüre, ist ein Gefühl von Übelkeit, mein Kopf fühlt sich zum Bersten gefüllt an, die Nebenhöhlen sind zu – wie damals, als ich mit Kopfschmerzen durch die ersten Tage gegangen bin. Alles funktionierte, mein Gehirn, meine Gefühle, und doch war es so anstrengend, den Kopf klar zu halten. Und das wiederholt sich jetzt.

Ich habe mich in diesen Tagen sehr gepflegt gekleidet – jeden Tag, anders als sonst: einmal ihr zu Ehren, aber auch, um mich unter Kontrolle zu halten.

An diesem Morgen, einen Tag nach ihrer Operation, sollte die Untersuchung ihres Kopfes Prognosen ermöglichen. Ich war noch vor der Untersuchung bei ihr. Sie lag fast unverändert, ihr Gesicht war klar und ruhig, die Augen fest geschlossen. Sie strahlte Ruhe aus, die sich auf mich übertrug. Diesmal sagte ich nicht: Mama, lebe, sondern: Ich liebe dich, Mama, lebe, wenn du kannst. (Wenn du nicht kannst und gehen möchtest/musst, dann lasse ich dich ziehen). Zu diesem Zeitpunkt dachte ich, wir dürfen sie nicht halten, wenn sie nicht bleiben kann. Ich hatte in meiner Jugend Kübler-Ross gelesen, ich hatte als junge Erwachsene meine Großmutter verstanden, als sie sagte, sie wolle nun bald sterben, und ihr das gesagt – ich wollte jetzt meine Mutter in dem unterstützen, was für sie das Beste sein könnte.

So offen blieb ich nicht.

Zwei Wochen lang versuchte ich sie mit meinen Gedanken und Gefühlen zu erreichen und auch zu beeinflussen. Gleichzeitig wollte ich das gerade nicht: sie beeinflussen. Ich war hin- und hergerissen.

Ich wollte sie fühlen lassen, dass ich sie liebe, ich wollte ihr eine Basis geben, damit sie die Kraft entwickeln könnte, weiterzuleben. Sie sollte spüren, dass wir auch mit ihr leben wollten, wenn sie sehr stark behindert wäre. Sie sollte nicht aus Rücksicht auf uns sterben, sondern nur, wenn es für sie selber gut wäre. Ich fühlte diese Gedanken sehr stark, obwohl der Versuch, sie mit meinen Gedanken und Gefühlen zu erreichen, unglaublich anstrengend war. Meine Gefühle mussten ja, so war mein Anspruch, echt und lebendig sein.

Vor allem am ersten Tag war ich noch recht offen für den Lauf der Dinge. Später aber traute ich mich manchmal kaum, sie zu verlassen. Ich glaubte manchmal, sie brauche immer meine Impulse, ich glaubte, dass auch von meinen Gefühlen ihr Leben abhängen würde. Ich fühlte mich verantwortlich. Dazwischen aber lagen immer wieder die langen Phasen der Ruhe und des Friedens mit ihr.

Während der ersten großen Untersuchung mussten mein Bruder, meine Schwägerin, mein Vater und ich lange warten und gingen in eine Cafeteria der Uniklinik. Die Stimmung war erwartungsvoll und leicht aufgeräumt.

Wieder in der Kopfklinik begegneten wir dem Stationsoberarzt – so wunderbar vieles an dieser Station war, so furchtbar war dieser Mann. Ich war beunruhigt gewesen, weil meine Mutter gestern so stark das Auge zugedrückt hatte, vielleicht war sie nicht genug sediert, fragte ich mich und also auch den Arzt. Dieser aber lachte mich aus – sie liege so tief im Koma, keine Reaktion könne da möglich sein.

Der Arzt sagte, dass ihr Gehirn sehr zerstört sei und dass sie im besten Fall halbseitig gelähmt wäre und nicht mehr sprechen könne. Ihre Intelligenz aber bliebe erhalten, wenn sie jemals aufwachte und sogar überlebte, was sehr unwahrscheinlich sei.

Ich dachte mir an diesem Tag wieder, so geht das Leben also. Alles hätte anders kommen können, aber es ist nun so gekommen.

Ich war froh, dass ich ihr in den letzten Jahren bewusst versucht hatte zu zeigen, wie sehr ich sie liebe. Dass ich sie vor kurzem noch auf ihre Wange geküsst hatte und dass auch Finn sie geküsst hatte, zum Abschied, nachdem sie einen Nachmittag wie jeden Dienstag auf ihn aufgepasst hatte.

Pfarrer Amendt, ein Bekannter meiner Eltern und zufällig auch der Klinikpfarrer, erteilte ihr die Letzte Ölung, Uli, mein Vater und ich waren dabei. Uli weinte und auch ich musste weinen, als der Pfarrer ihre Namenspatronin Edith Stein bat, für meine Mutter zu beten. Edith Stein. Von ihr hat mir meine Mutter schon erzählt, als ich noch ein Kind war.

Bis nachts war ich dann mit meinem Bruder noch bei meiner Mutter.

Ich bin für dich da. Das wurde an diesem Abend der Satz der ersten Tage: Wenn du leben möchtest und leben kannst, dann sind wir für dich da und freuen uns auf dich. Das galt für meinen Bruder und für mich gleichermaßen.

Diese Frau zu verlieren ist schwer, wurde mir klar. Ihren Körper, ihr Wesen.

Lebe, wenn du kannst. Wenn du nicht kannst, lasse ich dich ziehen

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