Читать книгу Lebe, wenn du kannst. Wenn du nicht kannst, lasse ich dich ziehen - Berit Holzner - Страница 6

19. Dezember 2008

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Eine Schwester erlaubte mir dabei zu sein, wenn sie meine Mutter umbettete, ich durfte sogar mithelfen. Das müssen Sie jetzt eh lernen, sagte zu zuversichtlich. Das hat mir viel Mut gemacht, aber auch Angst. Denn mir war klar, dass ich sie zu Hause nicht würde pflegen können, mit Kind und Beruf, wenn sie so beeinträchtigt bliebe, wie die Ärzte es prognostizierten. Und ich fragte mich, ob ich sie täuschte und anlog, wenn ich sie aufforderte, am Leben zu bleiben; wenn ich sagte, wir freuen uns auf dich. Wie stellten wir uns das eigentlich vor, wenn wir unbedingt wollten, dass sie lebt?

Wie viel konnte ich leisten? Ich konnte eine professionelle Pflege nur ergänzen, zusammen mit meinem Bruder, das wurde mir klar. Würde sie trotzdem leben wollen?

Wir alle waren wild entschlossen, Mama spüren zu lassen, dass wir auf jeden Fall für sie da sein würden. Wir standen vor der Kopfklinik an einer kleinen Treppe im Schnee, mein Bruder, meine Schwägerin und ich, und unterhielten uns. Mein Vater hatte sich in den ersten zwei Tagen erst einmal sammeln müssen. Nun aber besuchte auch er sie oft und manchmal empfand ich es so, als ließe er mir keinen Raum. Trotzdem freuten wir uns, dass er jetzt auch dabei war, mit all seiner Energie. Er suchte nach Textstellen, die ihr Kraft und Lebensmut schenken sollten, und las sie ihr vor.

Ich hatte mich auch verändert – ich sagte nicht mehr wie am ersten Tag: Wenn du gehen willst, dann lasse ich dich ziehen, sondern ich sagte, dachte und fühlte: Wir freuen uns auf dich! Bleibe bei uns, lebe bei uns, wir freuen uns auf dich. Das empfanden auch mein Bruder und meine Schwägerin so. Wir rechtfertigten diesen Gedanken damit, dass ja auch medizinisch so gehandelt wurde.

Dennoch zügelte uns meine Schwägerin, die Krankenschwester ist: Es könnte für alle und besonders für meine Mutter selber ganz furchtbar schwer werden. Und wir überlegten, wie das Leben meiner Mutter aussehen könnte, wie viel Kraft wir hätten, um wirklich für sie da zu sein, wie die Pflege aussehen könnte …

Die Ärzte fragten uns in diesen Tagen allerdings immer wieder, ob unsere Mutter ein solches Leben wohl gewollt hätte, das sollten wir uns überlegen. Ich weiß bis heute nicht, was sie uns damit sagen wollten. Wollten sie, dass wir etwas überlegten, was für die ferne Zukunft galt, oder wollten sie, dass wir gleich die Geräte abschalten ließen? Letzteres war für uns alle ausgeschlossen. Wir alle waren uns einig, dass diese Haltung jetzt wichtig war, um ihr Kraft zu geben, vielleicht zu überleben. Denn wir hofften alle sehr – auch wenn wir die alte Mutter verlören –, eine neue zu gewinnen, eine, die wahrscheinlich noch sehen und ihre rechte Seite bewegen könnte, riechen, fühlen, Wind, Sonne und Küsse spüren könnte.

Wir hofften, dass auch dieses Leben ihr noch Freude bereiten könnte.

Wenn unser Gefühl für sie sehr intensiv war und wir so etwas sagten oder dachten oder sie berührten, dann – so beobachteten wir – ging ihr Blutdruck deutlich nach oben. Ich glaubte dann ein starkes Kraftfeld zwischen ihr und mir oder uns zu spüren. Ich hoffte, dass es für sie so war: dass sie, immer wenn wir da waren, in einem liebenden, unterstützenden Kraftfeld lebte.

Uli war bei meiner Mutter. Er empfand so wie ich, dass ein Kontakt möglich war, und sprach von ihren telepathischen Fähigkeiten, die sie früher gezeigt hatte. Er weinte immer wieder und war sehr aufgewühlt. Ich liebte ihn dafür. Er unterstützte mich dadurch emotional, denn so wurde deutlich, wie wichtig auch ihm meine Mutter war.

Auch die beiden Würzburger Brüder meiner Mutter und eine Tante waren an diesem Tag gekommen. Es war ergreifend. Bleib bei uns, Edith, wir brauchen dich, beschwor meine Tante meine Mutter.

Ich war den ganzen Tag über bei ihr, dazwischen einmal mit Finn über verschneite Felder spazieren gegangen. Eine weite Ebene, am Horizont Bäume, wir liefen über die Schneeflächen. Außerdem hatte ich eine CD für sie gekauft, Mozarts Klarinettenquintette, und verschiedene Pianostücke mitgebracht, diese Musik ließen wir neben ihr laufen. Ich freute mich sehr, als ich sah, dass auch einige Schwestern die Musik anstellten.

An diesem Abend saß ich bei ihr bis tief in die Nacht. Manchmal schaute ein Pfleger herein, stellte irgendetwas ein und ging wieder. Ich saß manchmal links neben ihr am Kopfende und legte meine Hände auf ihre Schulter oder ihre Hand oder an ihren Kopf, manchmal saß ich rechts von ihr und berührte ihren Arm, streichelte ihn, legte auch eine Hand auf ihr Bein und saß so lange da. Ganz leise spielte Mozarts Klarinettenquintett. Die Musik sollte sie beruhigen, sollte ihr Sicherheit geben, sollte auch die möglichen Spasmen im Gehirn verhindern helfen. Tiefe Ruhe lag in dieser Musik, ein leichtes Wiegen, warme weiche Töne, ernste Gelassenheit. Ich saß eine Stunde, noch eine Stunde und noch eine, die Musik spielte, es war Nacht, und ich schaute sie an.

Ihre Stirn – die dunklen Haare waren seitlich zurückgelegt – lag ganz frei, eine helle ebene Fläche. Ihre zarte, von feinsten Fältchen durchzogene Haut war wie immer so weich. Ich streichelte ihre Wangen, ihre Arme, ich hielt ihre Hand in meiner und streichelte ihre feinen langen Finger. Ich wollte, dass – auch wenn ihr Bewusstsein das nicht tat – ihre Haut, ihr Körper mich wahrnehmen würden, auf ihre Weise. Ihre Haut spürte die Liebe, die Berührung, die Anwesenheit und merkte sie sich, da war ich mir sicher. An diesen Tagen blieb ihre Hand völlig unbewegt, sie lag einfach in meiner und ich fuhr mit meinen Fingern an ihren entlang. Ihre Lippen waren an diesem Tag schon ein wenig geschwollen, glaube ich, aber ihre Schönheit war dennoch zu sehen, egal wie zerschunden ihre Lippen auch werden sollten – die Unterlippe ein bisschen voller als die Oberlippe, die Kindheitsnarbe unten rechts, die geschwungene Oberlippe. Die Narbe an der linken Schläfe war groß und blutrot, Auge und linke Gesichtshälfte waren auch geschwollen. Sie lag da und die Atemmaschine pumpte regelmäßig. Ihr Körper hob und senkte sich, die Augen waren geschlossen. Sie lag unter einem Krankenhauskittel, manchmal war sie kaum zugedeckt, nur die Beine, so dass man ihren Körper sehen konnte. Wenn sie Fieber hatte – später –, legten die Pfleger ihr nasse Tücher über den nackten Oberkörper. Es war schön, ihren Leib zu umfassen, die Hand auf ihren Bauch zu legen, die Hand an ihre Seite zu legen, ihr Gewicht, ihre Körperhaftigkeit zu spüren.

Meine Hände, mein Oberarm, meine Seite haben diese zarten Berührungen in sich aufgenommen. Sie sind vollgesogen mit ihr. Meine Haut hat sich mit ihr vollgesogen. Mein Arm merkte sich die Berührung um Kopf und Schulter, meine Hand ihren rechten Unterarm, meine Lippen merkten sich die Haut ihrer Wange – bis heute.

In Gegenwart meiner Mutter habe ich mich immer wohl gefühlt, immer ruhig, erfrischt, angeregt, lebendig. Es war auch hier so. Bei ihr zu sein war das Schönste in diesen Tagen. Es wurde der feste Bestandteil meiner Tage. Ich saß bei ihr, ich ging um sie herum, manchmal sagte ich etwas, ich saß wieder bei ihr, ich beugte mich über sie, ich sah den Pflegern und Schwestern zu, ich trat zurück, ich hielt ihre Hand, ich betrachtete sie; tiefster Frieden lag in dem Raum.

Lebe, wenn du kannst. Wenn du nicht kannst, lasse ich dich ziehen

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