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1.Sieben Geißlein und ein Wolf
ОглавлениеAn einem eiskalten Montagmorgen im Mai marschierte ein Wolf einen verlassenen Weg entlang. Er fror, und sein Magen knurrte fürchterlich.
Es war keine gute Zeit für Wölfe.
Wirtschaftlich waren harte Zeiten angebrochen: es gab keine vernünftigen Jobs, und sein Kühlschrank in seiner in die Jahre gekommenen Höhle war leer.
Bis auf eine einsame Salzgurke im Glas, die verloren vor sich hindümpelte, erwartete ihn darin gar nichts mehr.
Der Wolf war verärgert. So hatte er sich das ganz sicher nicht vorgestellt.
Es half nichts: er würde wohl doch das tun müssen, was all seine Vorfahren stets gemacht hatten… er würde ab sofort auf die Jagd gehen.
Ihm grauste bei dieser Vorstellung.
Er als Akademiker hatte wirklich wenig Freude bei der Vorstellung, sich irgendwo in der Wildnis auf die Lauer legen zu müssen, um irgendeinem (hoffentlich hilflosen) Lebewesen das Ende zu bereiten.
Er würde seine zum großen Teil sehr gut erhaltenen Wildzähne in das Tier schlagen… Pfui.
Sein Magen bebte kurz.
Er war eigentlich kein Fleischesser. Vielleicht versuchte er es doch lieber als eine Art Nebenerwerbsbauer ohne Job. Mit zwei Berufen konnte man doch recht gut sagen, zum Geld verdienen – hab ich ein paar Felder.
Er ließ seine Augen über die Landschaft streifen.
Weiter vorne, da… Ja, da war doch ein Haus! Einen großen Garten hatte es offenbar auch. Möglicherweise war das was.
Er pilgerte weiter, und als er am Haus angekommen war, stellte er fest, dass es recht heruntergekommen zu sein schien.
Hm, wenn er Glück hatte, dann war da niemand. Und er konnte es in Besitz nehmen.
Der Wolf öffnete das Gartentor, das ein klein wenig quietschte, und schritt über den Kieselweg zur Eingangstüre.
Er drückte die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen.
Ein düsteres Vorzimmer empfing ihn.
In einer Ecke lag ein Haufen alter Zeitungen, direkt unter einem schäbigen roten Pulli.
Daneben stand ein Schirmständer, der Pfeil und Bogen beherbergte.
Spannend, dachte der Wolf. Wer wohnt hier? Oder vielmehr: wer hat hier gewohnt? Denn vielleicht hatte er Glück, und dieses Haus konnte sein neues Zuhause werden.
Er öffnete eine der Türen und gelangte in eine altertümlich aussehende Küche, die aussah, als sei sie aus den frühen 1950er Jahren.
Na ja. Besser als gar keine Küche ist das natürlich allemal, beschloss er. Und es hat außerdem den Vorteil, dass es mich an meine Kindertage erinnert.
Er dachte an seine Omama, die in ihrer Fünzigerküche stets kulinarische Wunder vollbracht hatte. Frische, selbstgemachte Teigwaren – eingelegte Früchte und selbstgemachte Marmeladen – aber am liebsten hatte er stets die Knödel gemocht. Lecker, statt Nachspeise bei ihm Hauptmahlzeit!
Der Wolf schmunzelte. Ihre Original-Österreichischen Rezepte hatte er eigentlich immer am liebsten gegessen… vor allem den Kaiserschmarren.
Sein Magen begann zu poltern.
Er schlich sich an den Kühlschrank heran und öffnete ihn.
Hurra! Darin war alles Mögliche, was er jetzt sofort zum Frühstück vertilgen konnte! Er griff zu.
Als er gerade seine Zähne in der Extrawurst hatte, brüllte jemand: „Sofort aufhören!“
Der Wolf erschreckte sich, verschluckte sich, und begann zu husten, dass ihm das Stück Extrawurst fast wieder hochkam.
Er fuhr herum.
Dann runzelte er die Stirn.
Da war niemand.
Also futterte er weiter.
Plötzlich warf jemand ein Netz über ihn und versuchte, ihn zu Boden zu ziehen.
Der Wolf wehrte sich verzweifelt, und irgendwie schaffte er es, sich aus dem Netz zu winden.
„Mist“, sagte die Stimme von vorhin. „Ich habe euch doch gesagt, wir hätten auch noch auf die anderen beiden warten sollen.“
Jetzt endlich nahm der Wolf ein kleines weißes Lebewesen wahr.
Und es war nicht alleine, nein: es war umgeben von lauter anderen kleinen weißen Lebewesen. Das heißt, eines hatte einen schwarzen Fleck auf der Stirn.
„Wer seid ihr?“ fragte der Wolf entgeistert.
„Pah!“ sagte das Lebewesen, das ihn schon ganz zuerst angesprochen hatte. „Du hast Nerven! Stiehlst uns das Essen aus dem Kühlschrank und fragst uns, wer wir sind! Die Frage ist eher – wer bist du!“
Der Wolf schluckte. „Ja, das stimmt auch wieder… Ich wollte euch auch nicht beklauen, aber ich war schon so lange unterwegs, und der Hunger macht mich schon ganz wahnsinnig. Ich bin der Wolf.“
„Na ja“ sagte ein anderes der kleinen Wesen.“Besser, er isst etwas aus dem Kühlschrank, als er isst uns.“
„Menschenskind, Jakob!“ erwiderte das Wesen, das ganz zuerst gesprochen hatte. „Du hast Nerven.“
„Ja, hab ich“ meinte Jakob. „Die braucht man auch. Es sind harte Zeiten.“
Der Wolf schaute. Er war etwas ratlos, das schienen Kinder zu sein. Aber weshalb waren sie ganz alleine?
„Kannst du uns auch ein Frühstück machen?“ fragte das weiße Wesen namens Jakob. „Elena hat den Kühlschrank heute nicht aufbekommen, und außerdem kann sie sowieso nicht kochen. Vielleicht machst du uns ein englisches Frühstück? Dann können wir alle miteinander essen.“
Der Wolf nickte.
Wenig später saßen sie miteinander an einem runden Tisch und verspeisten das Frühstück, das der Wolf für sie alle zubereitet hatte. Es gab Eier, Speck , Würstchen, und gebackene Bohnen. Außerdem hatte jeder ein kleines Glas Orangensaft und es gab frischen Toast, den der Wolf in Dreiecke geteilt hatte.
Der Wolf erfuhr, dass die Mutter der Kinder weggegangen war, weil sie auf der Suche nach Arbeit war. Eigentlich hatte ja Tante Gundula auf sie aufpassen sollen.
Bloß: Tante Gundula war gleich wieder abgezischt, denn sie hatte keine Nerven für Kinder. Sie sah auch gar keinen Grund, sich mit den Bambini ihrer Schwester herumzuärgern. Und außerdem gab es da einen reizenden Mann, den sie dringend nach Berlin begleiten musste.
Die Kinder waren Geißlein, und er erfuhr auch gleich wie sie hießen: Elena, die ihn ganz zuerst angesprochen hatte, war die Älteste und eine Garantin für resolute Ideen. Jakob war der Jüngste, und dazwischen lagen Tabea, Eleanor, Susanna, Amelie, Werner und Niels.
Und dass Tante Gundula weggegangen war, tat ihnen allen nicht leid.
Na ja, dachte sich der Wolf. Das kenn ich irgendwie. Manche Verwandte sind eine absolute Zumutung, oder anders ausgedrückt: Mit den richtigen Verwandten brauchst du keine Feinde mehr.
„Kannst du bei uns bleiben?“ fragte Elena. „Das wäre sicher lustiger als mit der blöden Schachtel von Tante.“
Der Wolf nickte. „Das mach ich gerne. Aber was machen wir jetzt, nach dem Frühstück?“
„Gartenarbeit!“ krähte Susanna.
„Meine Matheaufgabe“ sagte Tabea.
„Nein, wir scheiben meinen Französischaufsatz“ erklärte Amelie.
„Immer der Reihe nach“ erklärte der Wolf. „Fangen wir vielleicht mit Mathe an. Dann haben wir das Schlimmste hinter uns.“
So machten sie es dann auch.
Später schleppten sie den Wolf in den Garten und zeigten ihm alles.
„Sehr verwildert“ bemerkte der Wolf und befreite seinen linken Fuß aus einem kleinen Loch im Boden, das viel wilder Klee und Brennnesseln zugewuchert hatten.
„Da drüben ist unser Gemüsebeet!“ sagte Jakob und deutete in eine Richtung, in der sicher alles Mögliche wuchs – bloß Gemüsebeet konnte der Wolf beim besten Willen keines ausmachen.
Der Wolf räusperte sich. „Na ja, Kinder, wo parkt ihr euren Rasenmäher?“
Spät am Abend machte der Wolf frische Palatschinken, und Elena ging in der Abstellkammer die Marmeladenvorräte suchen.
Beim Abendessen schlemmten sie alle, und die sieben Geißlein lächelten den Wolf glücklich an.
„Bleibst du jetzt bei uns, Wolf?“ fragte Jakob. „Mama kommt wahrscheinlich erst irgendwann mal wieder nach Hause. Falls sie es nicht so macht wie Gundula…“
Er lachte. „Obwohl, das glaub ich eigentlich nicht. Trotzdem wäre es nett, wenn du bei uns bleiben möchtest.“
„Das wird er wohl auch“ antwortete Elena für den Wolf. „Bei uns ist es eh viel lustiger für ihn. Und außerdem hat er die Rosen mit dem Rasenmäher umgefahren… das muss er erst mal wieder in Ordnung bringen.“
„Na ja“ sagte der Wolf. „Außerdem, euer Gemüsebeet habe ich noch gar nicht finden können. Mir scheint, es ist spurlos verschwunden.“
Da lachten sie alle los.
Später sank der Wolf in die Kissen seines neuen Bettes. Morgen würde er das Zimmer ein klein wenig umdekorieren, bis seine eigentliche Besitzerin zurückkehrte. Und vor allem würde er mit den Kindern ein Gemüsebeet anlegen… Vielleicht mussten sie auch die Matheaufgabe neu machen, denn da war sicher einiges schief gelaufen – Mathe war nicht eben seine Stärke.
Wunderschön, der Duft von Lavendel…
Innerhalb weniger Sekunden war der Wolf auch schon eingeschlafen.