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Mysteriöser Auftrag

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Francis Stevens hatte geglaubt, alle typischen Besucher eines Pubs in Glasgow zu kennen. Dart-Spieler, deren Fähigkeit, die Pfeile zielsicher in den vorher angesagten Sektor der Scheibe zu werfen, das Publikum beeindruckte. Männer, die am Tresen lehnten und entweder über den Chef jammerten, Ehefrauen, Geliebte oder das Leben allgemein. Menschen, die gute Livemusik schätzten und das lockere Gespräch mit Freunden. Seit kurzem war Francis sicher, eine neue Kategorie von Besuchern entdeckt zu haben - völlig Verrückte!

Eine Frau, die der neuen Kategorie entsprach, saß ihm gegenüber. Ihr kurzes, braunes Haar schimmerte seidig im Licht der Deckenlampen. Anscheinend hatte sie eine Vorliebe für teure Lederjacken. Zu ihrer schlanken Figur passten sie, vielleicht wollte sie sich jünger machen. Er schätzte die Frau auf Mitte dreißig. Ansonsten zeigte sie ihr Vermögen deutlich. An den Ohren blinkten Edelsteine einer Sorte, die Francis nicht identifizieren konnte, die Uhr sah ebenfalls teuer aus. Sie hieß Maggie Thornton, viel mehr wusste er nicht über die Fremde.

Im Gegensatz zu früheren Begegnungen hatte sie heute erstmals eine Begleiterin dabei. Das geschätzt höchstens zwanzig Jahre alte Mädchen trug ihr braunes Haar hüftlang. Es umrahmte ein schmales Gesicht. Leider hatte sie bisher kein Wort gesprochen. Wieder so eine Sphinx, die keinen Einblick in ihre Gefühlswelt gestattete. Sie kleidete sich normal mit Shirt, einer Jeans, einem bunten Halstuch. Zumindest in dieser Hinsicht teilte sie nicht die Extravaganz der älteren Begleiterin.

Francis fragte sich, ob beide miteinander verwandt waren. Zumindest geistig verband sie viel. Großzügiges Schweigen selbst auf einfache Nachfragen zu ihrem Leben und die Liebe zu Gesprächsthemen, die man zumindest als grenzwertig ansehen konnte.

„Haben Sie eigentlich nie Angst, dass irgendwann nette Menschen in weißen Kitteln kommen und Ihnen eine Zwangsjacke anbieten?“

Die ältere Frau behielt ihren gleichmütigen Gesichtsausdruck bei. Francis glaubte, ein leicht arrogantes Schmunzeln zu erkennen.

„Bedaure, Captain Stevens. Ich habe vor ganz anderen Dingen Angst, dem wahren Horror. Im Gegensatz zu Ihnen bekämpfe ich meine Probleme nicht mit Bier. Wir sind erst knapp eine Stunde hier und Sie haben das dritte Pint angefangen.“

„Sie können mich mal!“ Francis griff nach dem halbleeren Glas, hielt für einen Moment inne. Tatsächlich das dritte Pint? Er zuckte mit den Schultern und trank einen großen Schluck. Albernes Geschwätz dieser Thornton! Wen kümmerte es?

„Finanziell sind Sie bisher nicht schlecht mit uns gefahren“, fuhr Maggie fort. „Als Captain der Royal Marines verdienten Sie mehr. Aber das gaben Sie etwas voreilig auf. Sie können dem Bösen nicht entkommen, wenn es auf der Suche nach Ihnen ist. Man muss sich dem Schicksal stellen.“

Francis Stevens faltete die Hände auf dem Tisch. Eigentlich hatte er keine Lust darüber zu reden, seine Vergangenheit war Maggie bekannt. Trotzdem gab er die Hoffnung nicht auf, dass sie die Beweggründe endlich begriff.

„Ich bin bisher gut im Verstecken und halte daran fest. Das Schicksal hat mir schon genug Ärger bereitet. Sie haben null Ahnung vom Geräusch einer explodierenden Sprengfalle, dem Geschrei der Männer und den Versuchen eines Sanitäters, noch etwas zu retten. Dabei kannten alle die Nutzlosigkeit. Es gab Gründe für meinen Abschied aus dem Militärdienst. Es waren keine voreiligen Entschlüsse! Merken Sie sich das!“

Maggie Thornton hob skeptisch ihre Augenbrauen. Francis erkannte eine Spur von Arroganz.

„Helmand-Provinz in Afghanistan. Eine Staubschüssel und ein Glutofen im Sommer. Es kann einen fertigmachen, das gebe ich zu. Jeder hat sein Helmand, Captain, ich führe meinen eigenen brutalen Krieg. Leider darf ich nicht kündigen.“

„Schwachsinn!“

Erstmals trank Maggie aus ihrem Bierglas, ignorierte geflissentlich das wütende Gesicht ihres Gegenübers. „Wie laufen die von uns bezahlten Studien in Alt-Irisch?“

Francis runzelte die Stirn. Der Themawechsel ging für ihn verdächtig schnell über die Bühne. Andererseits kam es ihm gelegen.

„Gut! Es ist für mich merkwürdig, dass der Lehrer das Üben der Aussprache so betont. Ich kann inzwischen etwa tausend Jahre alte Schriften problemlos lesen und übersetzen. Aber niemand spricht dieses Zeug heute noch. Alt-Irisch ist so tot wie Latein.“

Maggie wechselte mit der Frau neben ihr einen Blick, beide schmunzelten. Die Jüngere griff in ihre Jacke, holte einen Briefumschlag hervor.

„Wir sind mit den Fortschritten zufrieden“, erklärte sie. Sie sprach jedes Wort betont und langsam aus, als stünde es im Oxford-Lexikon. Die völlige Abwesenheit von Dialekt irritierte Francis. Mädchen in dem Alter hatten normalerweise einen typischen Slang. „Es ist Zeit für den nächsten Auftrag. Sie finden in dem Umschlag genügend Geld zur Deckung Ihrer Lebenshaltungskosten. Als Gegenleistung besuchen Sie ab morgen ein Gestüt in Newton Mearns und nehmen Reitstunden.“

„Reiten?“ Francis konnte nicht anders, als sein Glas in einem Zug auszutrinken. Diese Frauen waren tatsächlich verrückt. „Wozu soll ich das lernen?“

„Wir halten es für sinnvoll. Die Antwort muss Ihnen reichen.“

Für Francis klang das eine Spur zu provokant. Er wollte wieder zum Glas greifen, erinnerte sich eine Sekunde zu spät, dass es leer war. Grimmig verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Ich komme mir wie eine Marionette vor. Sie nutzen meine finanzielle Situation aus, bezahlen mich für mysteriöse Tätigkeiten ohne Gründe dafür zu nennen.“

„Captain“, meinte Maggie in genervtem Unterton. „Seitdem Sie die Armee verließen, halten Sie sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Ihr Bachelor in Geschichte ist kein Türöffner, niemand gibt Ihnen eine Stelle. Mit Anfang dreißig nochmal neu anfangen zu wollen, hat nicht geklappt. Wir besserten in den letzten Wochen Ihre Finanzen auf. Alte Sprachen sind eine Ergänzung Ihres Studiums, erhöhen die Attraktivität auf dem Arbeitsmarkt. Sie sollten erleichtert darüber sein.“

„Ich fühle mich trotzdem unbehaglich. Was genau bezwecken Sie damit? Ich wette, dass in dem Briefumschlag wieder tausend Pfund stecken.“

„Addieren Sie fünfhundert dazu, dann passt es“, erwiderte die junge Frau neben Maggie Thornton.

Francis klappte für einen Moment der Unterkiefer herab. Als er das süffisante Grinsen der Frau sah, pochte er mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte.

„Wie wäre es mit ein paar Antworten? Ich muss mir bei jedem Treffen nebenbei noch das dämliche Gequatsche über Zeitreisen anhören. Dauernd halten Sie Vorträge über Kinder aus der Vergangenheit, die man von tödlichen Krankheiten heilen, für die Moderne umfangreich ausbilden und später einsetzen kann. Immer die gleiche alte Leier! Sie erzählen, dass man die hohe Kindersterblichkeit früherer Jahrhunderte ausnutzen kann, die Zeitlinie dadurch nicht beeinträchtigt wird. Blah, blah! Schwachsinn! Das ist das passende Wort! Erzählen Sie die Story mehr Leuten, dann kommen wirklich die netten Herren im weißen Kittel vorbei und nehmen Sie mit!“

„Lassen Sie das meine Sorge sein, Captain! Gut, dass Sie die Konzeption ansprechen. Haben Sie alles verstanden? Ist Ihnen zumindest in der Theorie klar, wie es funktioniert?“

Francis verdrehte die Augen. Für begriffsstutzig hatte er sich noch nie gehalten. Natürlich konnte er den hirnrissigen Quatsch nachplappern.

„Ja, man heilt die Krankheiten mit Hilfe der modernen Medizin und bildet die Kinder jahrelang in einem Camp aus, vermittelt neuzeitliches Wissen. Was Sie leider nicht mitteilten, ist der Sinn dieses aufwendigen Plans. Glauben Sie übrigens ernsthaft, dass die Kids später als Erwachsene Ihre Befehle ausführen?“

Unerwartet brach die junge Frau neben Maggie Thornton in Gelächter aus. Francis sah erstmals ihre weißen Zähne. Jeder hatte die richtige Proportion, fügte sich makellos neben den anderen ohne die kleinste Lücke, ohne hervorzustehen. Ein derart vollkommenes Gebiss hatte er noch nie gesehen.

„Die Kinder haben keine Wahl! Sollen die ihre Ausweise selbst drucken, oder die Geburtsurkunde?“

„Klappe, Eydis!“ Die Stimme von Maggie Thornton klang eisig. Die andere Frau zuckte zusammen, wurde bleich im Gesicht. Francis hob überrascht die Augenbrauen. Die beiden Personen verband anscheinend nicht nur Skurrilität, sondern auch ein Verhältnis von Vorgesetzter und Untergebene. Das war neu.

„Sie verstehen also das Konzept, Captain. Es entsteht kein Zeitparadoxon, wenn ein Kind in seiner ursprünglichen Zeitlinie gestorben wäre. Man vermittelt modernes Wissen und erhält Mitarbeiter für das 21. Jahrhundert.“

„Die völlig abhängig sind“, mischte sich die mit Eydis angesprochene Frau wieder ein, unterbrach Maggie in brummigem Tonfall.

Diese schlug sofort mit der flachen Hand auf den Tisch, die Augenlider wurden eng. Bevor zwischen den beiden Frauen ein Streit ausbrechen konnte, ergriff Francis das Wort. Ihn interessierte weder ihr Innenverhältnis noch ihre Vorliebe für hochtheoretische und im wahrsten Wortsinn verrückte Themen.

„Fallen Sie nicht übereinander her. Es gibt keine Zeitreisen, das ist Schwachsinn! Also hören wir auf, darüber zu sprechen! Ich will wissen, weshalb ich das alles machen soll! Warum bezahlen Sie mich?“

Erneut wechselten Maggie Thornton und Eydis schnelle Blicke. Letztere verschränkte die Arme vor der Brust. Vom Reden hatte sie wohl genug. Maggie schob den Umschlag mit Geld zu Francis.

„Morgen früh um neun Uhr in Newton Mearns. Die Adresse steht auf einem Zettel zwischen den Geldscheinen.“

„Und falls ich keine Lust auf Reiten habe?“ Francis ignorierte den Umschlag, blickte die Frauen herausfordernd an. Maggie zuckte mit den Schultern.

„Nun, Sie sind mit der Miete im Rückstand und jederzeit in Gefahr, auf die Straße gesetzt werden. Der Kredit für Ihr Auto ist nicht abbezahlt. Oder besitze ich falsche Informationen? Was halten Sie davon, wenn in den Computersystemen der Banken bei Ihrem Namen eine rote Lampe aufleuchtet? Keiner würde Ihnen in den kommenden Jahren auch nur einen Penny leihen!“

Francis fühlte die kalte Wut in sich aufsteigen. Seine finanzielle Lage war mies, das stimmte. Doch die Selbstachtung hatte er damit keinesfalls verloren. Niemand durfte ihn wie einen Dienstboten behandeln! Seine Hand griff nach dem Umschlag, knüllte ihn zusammen.

„Denken Sie erst!“, forderte Eydis in ruhigem Ton. Sie packte die Hand und drückte sie fest auf den Tisch.

Francis blinzelte verwirrt. Eydis sah ihn intensiv mit ihren rehbraunen Augen an. Ein beruhigendes Gefühl ging von ihr aus, übertrug sich auf Francis. Die Logik kehrte zurück, übernahm die Herrschaft. Leider hatte Maggie Thornton Recht, es gab keine Alternative. Seine finanzielle Situation zwang ihn seit Wochen, die merkwürdigen Aufträge anzunehmen. Alt-Irisch war nicht schlecht gewesen, vielleicht konnte er dem Reiten auch etwas abgewinnen. Mürrisch steckte Francis den Briefumschlag ein.

„Eydis ist Ihre Lehrerin“, verkündete Maggie. „Dafür entfallen vorläufig die Treffen im Pub. Es gibt ein paar neue Entwicklungen, die meine Aufmerksamkeit erfordern.“

„Wie schade! Ich werde das Zeitreisengeschwätz vermissen!“

Maggie verzichtete auf eine Erwiderung. Wortlos standen sie und Eydis auf und verließen den Pub. Francis ging an den Tresen, hob die Hand. Kieran, der Wirt, nickte seinem Stammgast zu und schob ihm ein volles Glas hin. Francis trank es sofort zur Hälfte aus.

„Es wird Zeit für einen vernünftigen Job, so wie ich ihn mir vorstelle. Man gräbt ein paar Knochen aus, oder liest schaurige alte Texte über die Tragödien der Vergangenheit, die das alles verursachten. Keine Emotionen, nur Kopfschütteln darüber, dass sich vor tausend Jahren die Leute aus irgendwelchen Gründen dauernd gegenseitig umgebracht haben.“ Er sah Kieran ins Gesicht. „Du hörst doch in der Stadt das Gras wachsen? Was sagt die Gerüchteküche über Maggie Thornton?“

Kieran zuckte hilflos mit den Schultern.

„Sie ist Aufsichtsratsvorsitzende einer Firmengruppe. Ab und zu steht ein Bild von ihr in der Zeitung. Sie spendet für soziale Projekte in der Umgebung von Glasgow.“

„Was für Firmen sind das, was stellen die her?“

„Nichts, sie verwalten offensichtlich ausschließlich Vermögen.“

Francis ergriff das Bierglas, drehte den Kopf. Einige bekannte Gesichter waren anwesend, saßen in Gruppen an den Tischen. Ein älterer Mann warf Pfeile auf eine Dartscheibe, ließ sich bei jedem guten Treffer feiern, bestand darauf, das sein Bierkonsum allein dafür verantwortlich sei. Ein junges Pärchen an einem Ecktisch hatte nur Augen für den jeweils anderen. Insofern sah alles normal aus.

Zwei Männer weckten die Aufmerksamkeit von Francis. Sie redeten kaum miteinander, beobachteten jedoch genau die Umgebung. Ihre Blicke gingen zur Seite, als Francis sie ansah.

„Diese Typen da drüben am Tisch“, sprach er den Wirt an. „Sind sie vorher schon einmal hier gewesen?“

„Nein, sie kamen einige Minuten nach Maggie Thornton in den Pub, tranken seitdem nur Orangensaft. Wer war eigentlich das junge Mädchen, das sie bei sich hatte?“

Francis hatte nur den Vornamen gehört, der ihm wenig sagte. Wahrscheinlich stammte sie aus dem Ausland, was ihre betonte Aussprache erklären würde. Ein weiteres Glas später faltete Francis den Zettel mit der Adresse auseinander, der im Briefumschlag gelegen hatte. Diese Thornton spendierte verdächtig viel Geld. Die Gegenleistung stellte nicht das Problem dar. Vielmehr hasste Francis das geheimnisvolle Getue und seine Abhängigkeit.

„Du solltest dir eine Freundin zulegen!“

Francis wehrte ab, betrachtete mit Interesse, wie sich ein neues Glas mit Bier füllte. Kieran und seine Sprüche!

„Ich habe im Moment wenig zu bieten, außer einem schäbigen Zimmer in einer Absteige.“

„Falsch! Du kannst dich anbieten, einen ehrlichen Typ. Früher warst du oft mit dieser Sabrina im Pub. Was ist aus ihr geworden?“

„Sabrina ist Geschichte, genauso wie der Rest meines Lebens. Was ist mit dem Bier?“

Kieran zögerte einen Moment, bevor er das Getränk zu seinem Gast schob. „Du grübelst zu oft über die alte Sache. Es war dunkel und die einsame Farm mit der Mauer ideal für die Übernachtung des Spähtrupps.“

Francis verzog das Gesicht und griff routiniert das Glas. „Du kennst die Story ja schon auswendig. Bin ich so ein Schwätzer? Ich hätte an Sprengfallen denken sollen, es war meine Schuld. Mach noch ein Bier fertig, ich habe seit ein paar Minuten Geld dafür!“

Kieran resignierte. Nach Ablauf einer Stunde hatte der Umsatz für seinen Stammkunden stark zugenommen. Francis beobachtete die beiden merkwürdigen Männer. Etwas stimmte mit ihnen nicht, davon war er immer mehr überzeugt. Er wechselte knappe Worte mit Kieran, worauf der Wirt mit den Dart-Spielern ein Täuschungsmanöver verabredete. Während Francis die Toilette aufsuchte, blockierten sie die Tür und feierten lautstark ihre Ergebnisse. So entstand eine undurchdringbare Menschenmenge.

Mit rotem Kopf zwängte Francis sich umständlich durch das Fenster im Pissoir. Früher wäre es ein kleines Hindernis gewesen. Die Gasse am Hintereingang lag in Dunkelheit. Francis atmete die kühle Nachtluft ein. Wenn er einen vernünftigen Job hätte, bräuchte er nicht nach der Pfeife dieser Thornton zu tanzen. Reiten lernen! Was für ein Unsinn! Welche Verbindung existierte zu Alt-Irisch? Er trat grübelnd hinaus auf die Straße.

Ein Wagen stoppte mit quietschenden Reifen vor ihm.

Francis erkannte einen dunklen Van, dessen Seitentür mit einem Ruck zur Seite gestoßen wurde. Zwei vermummte Männer sprangen heraus und stürmten sofort auf ihn zu. Ein Tritt in den Bauch raubte ihm die Luft und warf ihn an die Wand. Francis hob reflexartig die Fäuste zur Abwehr hoch, konnte Gesichtstreffer verhindern und erwischte einen Angreifer mit einem schnellen Konter. Leider beeinträchtigte sowohl der Bierkonsum als auch seine mangelnde Fitness die Gegenwehr. Zumindest einer der Männer war ein Profi und hieb Francis erneut in die Magengrube. Der Schmerz raste durch den Körper, die Beine versagten den Dienst und Francis prallte auf den Boden. Er hob die Hand, wollte weitere Schläge abwehren, doch es kam nichts mehr. Jemand packte ihn am Kragen. Undeutlich erkannte er einen Kopf, bedeckt mit einer Sturmhaube.

„Sie sollten andere Freunde wählen! Das ist besser für die Gesundheit!“

Die Angreifer sprangen zurück in den Lieferwagen. Das Heulen des Motors nahm Francis kaum wahr. Er rang nach Luft, streckte sich auf dem Asphalt aus. Der Unterleib schmerzte. Was zur Hölle war das gewesen? Der Wagen verschwand in der Ferne.

Nicht weit entfernt in einer Häusernische, schwach beleuchtet durch das Licht der Straßenlaterne, verschränkte Eydis die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf.

„Wie erbärmlich! Das hätte ich besser hinbekommen!“

„Du hast eine spezielle Nahkampfausbildung“, bemerkte Maggie Thornton und trat aus dem Lichtkegel der Straßenlampe zurück in die Dunkelheit. Eydis folgte ihr.

„Ich dachte, der Typ wäre beim Militär gewesen!“, wandte sie ein. „Davon merkt man nichts.“

„Er hat einen Durchhänger, aber mit etwas Ausbildung fängt er sich wieder. Ich halte ihn für unsere Zwecke geeignet.“

„Einsame Ruferin in der Wüste!“

„Nicht so bissig, Eydis. Du solltest der Leiterin von Britannien vertrauen. Ich verstehe etwas von Psychologie.“

Eydis blies hörbar die Luft aus. Sinnloses Geschwätz!

„Wenn das die Meister der Zeit gewesen wären und nicht von uns angeheuerte Typen, dann wäre der Kerl mausetot. Etwas anderes als Bierpints hochheben kann er nicht mehr. Stevens ist Ballast, ganz einfach nur Ballast! Wie kannst du ernsthaft glauben, dass er auch nur irgendeinen Nutzen hat?“

„Dieses Erlebnis wird ihn wütend machen“, prophezeite Maggie Thornton. „Er wird wissen wollen, was hinter der Sache steckt. Sein Ehrgeiz wird uns in die Hände spielen.“

„Maggie! Ich will nicht darauf herumreiten, dass du die Chefin der Insel bist und ich nur ein Native. Aber die Aktivitäten der anderen sind deutlich sichtbar! Morven will uns vernichten. Der letzte Angriff hätte sie beinahe in den Besitz der richtigen Koordinaten gebracht!“

„Ich lasse mir bezüglich der sensiblen Informationen etwas einfallen.“ Ein im Dunkeln nur schwach sichtbares Schmunzeln zeigte sich in ihrem Gesicht. „Mir schwebt ein gutes Versteck vor. Notfalls wirst du die Daten beschützen und eine kleine Reise unternehmen.“

Eydis zuckte zusammen. „Was? Es hieß, mein Aufenthalt hier sei für immer! Ich habe eine hohe Punktzahl, deswegen kam ich vorzeitig hierher. Das ist meine Belohnung! Das darf mir niemand wegnehmen!“

Maggie Thornton machte eine abwehrende Handbewegung. „Wir erleben gerade eine Krisensituation, wie du korrekt sagtest. Wenn der Notfall eintritt, ist alles erlaubt!“

„Deine Regeln! Nicht meine!“

„Korrekt! Du wirst dich fügen. Außerdem gibt es bei diesen Reisen keine Einbahnstraße, wie du weißt. Konzentriere dich lieber auf die wichtigen Dinge. Stevens muss das Reiten lernen, das ist dein Job.“

Maggie Thornton wandte sich ab und winkte mit der rechten Hand. Autoscheinwerfer leuchteten auf. Eine Limousine fuhr vor, in welche die Frau einstieg. Eydis blieb mit geballten Fäusten zurück. Arrogante Kuh! Ein Gewitter braute sich zusammen und Maggie tat so, als stünde Sonnenschein bevor. War Verrücktheit in diesem Jahrhundert die Regel?

*

Der Reiterhof bestand aus einer langen Halle. Francis wusste seit dem ersten Tag, dass fünfzig Pferde darin Platz fanden. Daneben stand das zweistöckige Haus der Eigentümer, erbaut aus roten Backsteinen. Rosensträucher wucherten an der Fassade, umgeben von viel Unkraut. Der Besucherparkplatz sah verlottert aus, eine geschotterte Fläche mit Pfützen. Francis vermutete, dass man ihn vor vielen Jahren billig angelegt und seitdem nicht mehr ausgebessert hatte. Viele Teile des Pferdehofs brauchten Pflege, die Reithalle mit den quietschenden Toren, die Holzpfosten der Weideflächen, die rostigen Drähte der Zäune. Lediglich die Tiere sahen gepflegt aus, was allein an ihren Besitzern lag. Zahlten die Mieter der Boxenplätze zu wenig Geld oder verprassten es die Eigentümer des Reiterhofs leichtfertig? Francis wusste keine Antwort auf die Frage.

Es gab einen festen täglichen Rhythmus. Am Morgen fuhren die ersten Menschen vor, striegelten ihre Pferde und wachsten das Leder des Zaumzeugs ein. Die meisten Eigentümer kamen am Nachmittag, suchten auf der Parkfläche einen pfützenfreien Platz und fluchten, wenn sie keinen fanden. Oft besprachen sie mit anderen die jeweiligen Vorlieben, verabredeten Ausritte oder Turniere. Sie teilten die Ansicht von Francis betreffend des Zustands des Grundstücks. Ansonsten fand er kaum gemeinsame Themen.

Francis Stevens fühlte sich fremd in dieser Welt. Die Gespräche über Reitkleidung, Lederstiefel, große Geländewagen und die Vorteile bestimmter Pferderassen langweilten. Für ihn waren alle Tiere irgendwie gleich. Auch kannte er keine Ranglisten von irgendwelchen Turnieren und die Qualität von Dressuren sagte ihm nichts. Er vollzog die Reitstunden ohne Begeisterung, so wie heute. Am Ende der Trainingseinheit öffnete Francis den Kofferraum seines Autos und trank eine Bierdose leer. Es half wenig gegen den Frust, aber es schmeckte.

„Wo ich herkomme, trinken Männer Alkohol nach gewonnenen Kämpfen“, sprach eine Frauenstimme hinter ihm.

„Am ersten Tag sagten Sie mir, dass Sie auf Island geboren wurden, Miss Leifsdottir“, erwiderte Francis. „Über diesen Felsen im Atlantik weiß ich nicht viel, doch dort soll es friedlich zugehen.“

Eydis Leifsdottir verzog keine Miene. Mit verschränkten Armen stand sie vor ihm. Die Sommerhitze erzeugte Schweißtropfen auf ihrer Stirn.

„Ich bezog mich auf eine andere Zeit, das ist richtig. Sie machen übrigens Fortschritte.“

Francis öffnete ein neues Bier, ließ die geleerte Konserve in den Kofferraum fallen. „Schneller Themawechsel, der Versuch der Ablenkung“, stellte er fest. „Was haben Sie zu verbergen?“

„Warum liegen neben den Dosen noch ein Schlagring und ein Gummiknüppel?“

Mit der linken Hand klappte Francis den Deckel zu. Das junge Mädchen wich nicht nur elegant allen Fragen aus, sondern besaß eine gute Beobachtungsgabe. Die von ihr angesprochenen Gegenstände hatte er seit dem nächtlichen Angriff bei sich. Das nächste Treffen würde anders ablaufen.

Eydis strich den Schweiß von ihrer Stirn. „Wollen Sie ein kühles Wasser? Der Kühlschrank in meinem Zimmer ist voll.“

Francis verneinte mit einer Ausrede. Eydis wohnte neben den Ställen in einer Bruchbude, ein besserer Begriff fiel ihm nicht ein. Ein Misthaufen stand in unmittelbarer Nähe und zog Fliegen an wie ein Magnet Eisenspäne. Als Stadtmensch fand Francis den Geruch unerträglich. Die Jahreszahl 1976 an der Eingangstür des Wohntraktes zeigte das Erbauungsdatum und vermutlich den letzten Zeitpunkt, an dem jemand an dem Haus etwas ausgebessert hatte.

„Sie erzählen mir zwar kein Wort über Maggie Thornton, aber vielleicht über sich. Leben Ihre Verwandten alle auf Island?“

„Sie sind schon lange tot.“ Der Tonfall klang gleichgültig, als würde sie aus der Zeitung vorlesen. „Ich habe keine Familie.“

Francis murmelte betroffen eine Entschuldigung. Da Eydis emotional so unberührt schien, stellte er eine weitere Frage: „In welchem Verhältnis stehen Sie zu Maggie?“

Die Miene von Eydis blieb unbewegt. „Wir sehen uns morgen, Mr. Stevens.“

Francis sah dem jungen Mädchen nach. Er wurde aus Eydis und ihrem Verhalten in keiner Weise schlau. Mit Maggie teilte sie offensichtlich einen Sinn für geheimnisvolles Agieren.

Der folgende Tag spielte sich erneut in der Reithalle ab. Francis drehte auf einem Pferd Kreise. Diese Art von Training ödete ihn an, doch er schwieg. Als Eydis das Ende der Übung verkündete, atmete Francis tief aus und stieg ab.

„Leben Sie gerne hier?“ Francis gab den Versuch nicht auf, Eydis Informationen zu entlocken.

„Ich ziehe bald um.“ Sie blieb an seiner Seite, während Francis den Hengst in die Box zurückführte. „Sie sind mein letzter Schüler.“

„Wohin geht es?“

„In den Süden“, sagte Eydis knapp. „Striegeln Sie das Tier und sagen Sie mir dann Bescheid. Ich halte mich hinter der Halle auf.“

Mürrisch befolgte Francis die Anweisungen und verschloss die Box. Das Pferd schnaubte, strich mit dem Maul an den Kopfhaaren des Mannes entlang, hinterließ eine Speichelspur. Francis wischte angeekelt mit einem Tuch darüber. „Blödes Vieh!“

Als bewährtes Mittel zur Steigerung der Laune nutzte er den Biervorrat in seinem Kofferraum und suchte seine Trainerin. Die erste Dose war schon fast leer, als er Eydis hinter dem Stall traf. Sie hielt einen modernen Bogen in der Hand und verschoss Pfeile auf eine sechzig Yard entfernte Scheibe an der Wand. Alle schlugen in der Mitte ein.

„Ein Hobby von Ihnen? Ich habe auch welche.“

„Lassen Sie mich raten: Sie trainieren das Leertrinken von Bierdosen?“

Francis presste die Lippen zusammen. „Sie haben mit Ihren 19 Jahren wenig vom Leben gesehen, Miss Leifsdottir. Ich hingegen blicke auf einen verdammten Kriegseinsatz zurück. Sparen Sie sich also bissige Bemerkungen.“

Eydis legte einen Pfeil auf und spannte den Bogen. Mit leisem Surren raste das Geschoss dem Ziel entgegen und traf exakt ins Schwarze.

„Sie kennen mich nicht“, sagte sie kühl und entblößte ihre tadellosen Zähne bei einem künstlichen Lachen. „Ja, ich bin jünger als Sie, doch ich kenne Grauen, Hoffnungslosigkeit und den nahenden Tod. Ich bräuchte unendliche Biervorräte um meine Erinnerungen zu ertränken.“

Francis grinste spöttisch. Was wusste so ein Mädchen schon?

„Wollte Sie einmal ein Pferd treten? Bekamen Sie einen Schnupfen in der Bruchbude, in der Sie momentan leben? Brachten die Fliegen Sie zum Wahnsinn?“

Eydis ignorierte die Beleidigungen und holte einen weiteren Pfeil aus dem Köcher. „Es hält einem Vergleich mit Ihrem Dossier stand. Sie trafen eine falsche Entscheidung. Das kann passieren.“

Francis presste die leere Blechdose in der Hand zusammen. Sein Gesicht bekam eine rote Farbe.

„Es ist ja interessant, dass sogar jemand wie Sie offensichtlich alles über mich weiß, mir jedoch das kleinste Detail vorenthalten wird! Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich stehe dazu und gehe auf meine Art damit um. Sie wissen nichts über Grauen und Tod! Gar nichts!“

Eydis schoss den Pfeil ab. Das Geräusch des Einschlages hallte unmittelbar herüber.

„Jeder hat seinen Traum, Mr. Stevens. Ich träume von einem selbstbestimmten Leben. Kräftig zubeißen zu können ist auf Dauer zu wenig.“

„Das verstehe ich nicht. Was haben Ihre Zähne damit zu tun?“

Eydis nahm einen Pfeil, betrachtete ihn kritisch. Die Spitze schien ihr nicht zu gefallen.

„Genießen Sie Ihre Freiheit und die Unwissenheit. Beide sind miteinander verknüpft.“ Sie lachte spöttisch. „Die nächsten Tage soll es sonnig bleiben. Was halten Sie von einem Ritt ins Gelände?“

„Kommen Sie dann mit ein paar Informationen herüber? Ich will wissen, warum man mir viel Geld für Reitstunden zahlt. Wozu ist das gut?“

„Wir sehen uns morgen, Mr. Stevens.“

Eydis legte den Bogen zur Seite und ging zur Zielscheibe. Geübt entfernte sie die Pfeile. Francis ließ die zerknüllte Dose fallen. Wer Antworten verweigerte, sollte dafür den Müll wegräumen. Den dummen Spruch mit dem Wiedersehen am nächsten Tag konnte sie sich auch sparen.

Am folgenden Morgen war Eydis nicht anwesend. Niemand im Gestüt wusste etwas. Schulterzuckend widmete sich Francis seinen treuen zylindrischen Begleitern aus dem Kofferraum. Etwa eine Viertelstunde später kam ein roter Wagen angebraust, hielt mit quietschenden Reifen knapp vor einem anderen. Francis schüttelte den Kopf und hob zum Gruß die Bierdose.

„Ein paar Inch mehr und es hätte gekracht. Ihre Reitkünste sind besser!“

Eydis knallte die Fahrertür zu, würdigte Francis keines Blickes. „Es gab Komplikationen. Ich muss mich umziehen. Schmeißen Sie das Blechding diesmal in den Abfall.“

Sie trug eine Stoffhose und ein Shirt, unpassend für eine Reittour. Gehetzt rannte sie zur Wohnung. Francis runzelte die Stirn. Wo kam sie her? Sie kannte den Termin für den Ausritt. Unpünktlichkeit passte nicht zu ihr. Vielleicht hatte sie bei einem Freund übernachtet und verschlafen, überlegte Francis. Er warf die geleerte Dose in den Mülleimer und ging in den Stall.

Als Eydis zurückkehrte und die Sattelgurte ihrer Stute festzurrte, bemerkte Francis ihre zittrigen Hände. Erstmals trug sie eine graue Halskette, was er ebenfalls erstaunlich fand. Die großen Kettenglieder deuteten auf billigen Modeschmuck hin und an dessen Ende bemerkte Francis undeutlich ein rechteckiges Gebilde. Die Umrisse zeichneten sich unter dem Shirt ab. Wahrscheinlich ein simpler Anhänger, so hässlich wie die Kette. Falls das ein Geschenk ihres Freundes war, hatte der junge Mann einen schlechten Geschmack. Francis schmunzelte. Frauen musste man hübsche Geschenke machen. Die Erfahrung stand dem mutmaßlichen Freund der Isländerin noch bevor.

Eydis führte den Ritt durch die hügelige Landschaft an. Der Sattel drückte Francis nach einer halben Stunde an empfindlichen Körperteilen, die nur gepolsterte Autosessel gewohnt waren. Die Schmerzen übertrugen sich auf das Gesicht von Francis, ließen es verkniffen aussehen.

„Hat Maggie kürzlich Kontakt mit Ihnen aufgenommen?“, fragte das Mädchen.

„Nein, außer den regelmäßigen Treffen mit komischen Gesprächsthemen gab es nicht viel.“

Eydis lachte und zeigte dabei ihre weißen Zähne. „Die Zeitreisen und die Kinder aus früheren Jahrhunderten. Irgendwann gibt ihr eines der Kinder hoffentlich einen Tritt in den Hintern.“

Francis zog die Augenbrauen hoch. „Sie reden geradezu, als sei es die Realität?“

Eydis stoppte ihr Lächeln. „Sorry, ich plappere Unsinn! Bleiben wir bei Ihnen. Sie lernen reiten und die Urform des Gälischen können Sie bereits. Das sind zwei wichtige Treppenstufen, Mr. Stevens!“

„Treppenstufen? Interessante Metapher. Was erwartet mich oben?“

Eydis sah in die Ferne und schwieg. Der Ritt führte sie durch die weitläufigen Felder. Ab und zu sah man einen gemächlich fahrenden Mähdrescher. Der Frühweizen sei reif, berichtete das Mädchen. Francis hörte kaum hin. Landwirtschaft interessierte ihn so wenig wie Pferde. Die Bäume am Wegesrand spendeten in der heißen Augustsonne nur minimal Schatten. Auch die leichte Brise trug wenig zur Linderung der Hitze bei. Eydis blieb schweigsam und Francis wollte keine Frage mehr stellen.

An einer Weggabelung hielt Eydis ihr Pferd überraschend an, drehte sich mehrmals um und nagte an der Unterlippe. Francis kam an ihre Seite. Bevor er etwas sagen konnte, gebot sie ihm mit einer Geste zu schweigen. Erneut schwenkte ihr Blick über die Landschaft. Der Weg führte links in ein kleines Wäldchen und rechts einen Hügel hinauf.

„Die Route zurück zum Gestüt verläuft jenseits der Kuppe dort. Sie drehen an der nächsten Kreuzung nochmal rechts und bleiben auf dem Feldweg. Stoppen Sie nirgends, egal was Sie sehen!“

Francis Stevens betrachtete Eydis mit einer Mischung aus Erstaunen und Misstrauen. Was sollte das bedeuten?

„Ihre Sinne sind nicht geschärft! Sie reiten durch die Gegend, ohne zu bemerken, wer oder was irgendwo lauern könnte.“

„Vielleicht die bösen Monster?“, fragte Francis spöttisch.

Eydis griff in die Tasche ihrer Jacke, reichte ihm einen länglich, weißen Gegenstand. Dabei beugte sie sich weit zu ihm herüber. Francis nahm es überrascht, betrachtete das Geschenk.

„Eine Packung Kaugummi?“

Eydis grinste verschlagen, drehte ihr Pferd um. „Es ist ein Test. Stecken Sie es ein und tun Sie so, als wäre es wichtig.“

Sie gab ihrem Hengst die Sporen und ritt in scharfem Galopp in das Wäldchen hinein. Francis traute sich das angesichts seiner geringen Kenntnisse nicht zu, blieb im Trab und folgte dem Ratschlag von Eydis. Neugierig betrachtete er die Packung, eine handelsübliche Marke, noch ungeöffnet. Skurriles Verhalten schien tatsächlich der gemeinsame Nenner von Eydis Leifsdottir und Maggie Thornton zu sein. Achselzuckend steckte er den Kaugummi in die Brusttasche.

Nach dem Hügel gabelte sich der Weg erneut, wie von der Isländerin vorhergesagt. Francis Stevens ritt an einem Weizenfeld vorbei. Die Landschaft um Glasgow machte auf Francis den üblichen friedlichen Eindruck. Einige der sanften Erhebungen kamen ihm bekannt vor, er war genau auf der anderen Seite mit Eydis geritten. Der Weg schien zu stimmen. Was sollte die komische Bemerkung über Dinge, die angeblich irgendwo lauerten? Ein Scherz? Eine dumme Idee?

Kopfschüttelnd trabte Francis in Richtung einer Baumgruppe und sah zu seiner Überraschung dort zwei Pferde angebunden stehen. Eine Frau lag auf dem Gras, die Hose des rechten Beines hochgekrempelt, während ein Mann einen Lappen darum wickelte. Beide Personen trugen Reitkleidung, schwarze Stiefel und einen Reithelm. Sie nahmen von dem Neuankömmling zuerst keine Notiz, sondern redeten miteinander. Unter dem Helm der Frau lugten schwarze Haare heraus. Nachdem Francis neugierig angehalten hatte, sah ihr Begleiter auf und erklärte, dass sie gestürzt sei.

„Ich heiße Jenny“, sagte die Reiterin mit dem Anflug eines Lächelns. Sie rieb ihren Fuß. „Könnten Sie absteigen und zusammen mit Bill anpacken? Ich muss auf mein Pferd und kann nur mit einem Bein auftreten. Mit zwei Stützen wären die Erfolgschancen größer.“

„Selbstverständlich“, erwiderte Francis höflich. Beide Reiter schätzte er auf Mitte zwanzig, wahrscheinlich ein junges Paar. Er kniete neben der Frau und betrachtete den Fuß. Außer weißer und gepflegter Haut erkannte er keine Verletzung, nicht einmal die typischen bläulichen Symptome einer Prellung.

„Sie scheinen viel Glück gehabt zu haben. Scheute das Pferd?“

Jenny stoppte das Lächeln, zeigte ein höhnisches Grinsen. Francis spürte im gleichen Moment einen stechenden Schmerz im Nacken, der sich im Körper ausbreitete und alle Muskeln verkrampfte. Er fiel zu Boden und registrierte wie hinter einem Schleier eine Gestalt über ihm, die einen Elektroschocker hielt. Mit geübtem Griff packte Jenny Francis, drehte ihn auf den Bauch, legte ihm Handschellen an. Der mit Bill bezeichnete Mann steckte den Schocker ein und durchsuchte die Taschen.

„Was hat die Kleine dir gegeben?“

Francis blickte verstört, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. „Ich verstehe kein Wort!“

Jenny gab ihrem Begleiter einen Wink, der den Elektroschocker erneut ansetzte. Die Elektrizität schien jeden Muskel zu entzünden, ihn in Feuer zu verwandeln. Francis schrie auf.

„Hat das ausgereicht, oder will mein ehemaliger Offizier den Helden spielen?“ Jenny schaute gelangweilt. „Das kleine Biest aus Island hat einen sechsten Sinn für Gefahren, man kommt nicht an sie heran. Sie bemerkte unsere Anwesenheit, gab dir etwas. Ich sah es deutlich im Fernglas. Was ist es?“

Francis berichtete über die Packung Kaugummi, was bei seinen Peinigern Skepsis verursachte.

„Vielleicht ist es in der Verpackung versteckt!“, vermutete Bill, riss sie auseinander, knickte jeden Streifen, ehe er ihn achtlos zur Seite warf. Schließlich stieß er einen Fluch aus, packte Francis am Kragen.

„Da ist nichts drin! Wo ist es?“

„Wo ist was?“

Bill schlug zu. Die Faust traf Francis mitten im Gesicht, es gab ein hässliches Geräusch, als würden Knochen brechen. Blut lief über die Lippen, hinterließ einen metallischen Geschmack im Mund. Ein weiterer Schlag traf das Auge, Schmerzwellen durchströmten den Körper von Francis.

Jenny machte danach eine abwehrende Handbewegung. Das verletzte Auge brannte wie Feuer, Francis sah verschwommene Umrisse der Umgebung. Die rechte Gesichtshälfte fühlte sich taub an. Gerne würde er den beiden alles sagen, doch er wusste nichts.

„Wir müssen sicher sein, Bill. Vielleicht hat das Biest ihn ebenfalls ausgetrickst. Hole aus meinen Satteltaschen das Satellitentelefon und rufe in der Zentrale an. Wir verfolgen Eydis und schnappen sie. Heute bringen wir es zu Ende.“

Bill gehorchte, während Jenny sich neben Francis setzte. Fast zärtlich strich sie über das kantige Gesicht, legte die braunen Haarsträhnen nach hinten.

„Eigentlich siehst du nett aus. Leider steckst du in etwas drin, dass mindestens zwei Nummern zu groß für dich ist.“ Sie zog ein Messer aus ihrer Tasche, fuhr damit am Hals des Mannes entlang. „Weil du süß bist, werde ich dich schmerzlos töten. Ich muss abwarten, ob Bill andere Befehle bringt.“

Francis wollte den Kopf heben, doch Jenny drückte ihn zurück.

„Hören Sie!“, keuchte er, bemühte sich um Konzentration. „Ich habe keine Ahnung, worum es geht. Wenn Sie mich einfach laufen lassen, dann verspreche ich ...“

„Still!“ Jenny legte ihm den Zeigefinger auf den Mund. „Du weißt nichts, das ist uns klar. Jedoch kann ich keinerlei Rücksicht nehmen. Zuviel steht auf dem Spiel.“

Francis suchte nach einem Ausweg. Die Handschellen verhinderten eine Flucht. Aber vielleicht ließ sich mit vernünftigen Argumenten etwas erreichen. Bevor er reden konnte, presste Jenny ihm das Messer an den Hals und schüttelte den Kopf. Francis gab es auf. Sie wollte keine Gespräche. Jenny saß eine gefühlte Ewigkeit neben ihm, bis sie unruhig wurde und den Kopf hob.

„Bill? Was gibt es für Neuigkeiten? Was hat man gesagt?“

Schweigen war die Antwort. Jenny blickte zur Seite.

„Bill? Ich will verdammt noch mal wissen, was Sache ist! Töten wir ihn gleich oder bringen wir ihn zu einem bewährten Platz für Verhöre?“

Ihr Partner schwieg. Jenny runzelte die Stirn, sah zu Francis und betrachtete ihn schier endlose Sekunden. Dann zog sie eine Pistole aus einem versteckten Futteral. Francis starrte mit dem gesunden Auge auf sie. Wollte Jenny ihn erschießen? Doch die Frau drehte sich um. Wie eine Katze kroch sie durch das Gras, spähte über eine Garbe Unkraut in Richtung der Baumgruppe, an der sie und ihr Partner die Pferde angebunden hatten. Offensichtlich sah sie nicht das Gewünschte, richtete sich vorsichtig weiter auf.

„Bill? Was ist los?“

Francis hörte ein Rauschen, verbunden mit dem undefinierbaren Laut eines Einschlages, wie beim Auftreffen einer Faust auf Muskeln. Jenny torkelte leicht nach hinten. Erneut ertönte das merkwürdige Geräusch. Diesmal fiel die Frau auf die Knie, blieb einen Moment in der Position, bis sie langsam vorwärts kippte und regungslos liegenblieb.

Francis rollte schwerfällig zur Seite. Die auf dem Rücken gefesselten Hände behinderten ihn. Keuchend rutschte er auf den Knien voran.

Jenny zeigte keine Bewegung, obwohl Francis sich näherte. Als er die Liegende erreicht hatte, stockte ihm der Atem. In ihrer Brust steckten zwei Pfeile, dicht nebeneinander in Herznähe! Ein kleiner Blutfleck färbte die graue Windjacke an dieser Stelle rot ein. Die Augen starrten leer in den Himmel und eingefroren in ihrer Mimik war der Ausdruck grenzenlosen Erstaunens.

„Überrascht?“

Francis drehte den Kopf. Eydis Leifsdottir stand vor ihm, einen modernen Bogen locker in den Händen haltend. Auf dem Rücken trug sie einen Köcher, aus dem eine Reihe von Pfeilschäften hervorlugten. Das Gesicht der jungen Frau machte auf Francis den Eindruck einer Sphinx, die Tote schien sie mental kalt zu lassen. Sie durchsuchte die Leiche, befreite Francis mit Hilfe eines gefundenen Schlüssels.

„Wir sollten uns beeilen. Das Pärchen arbeitete nicht alleine, die Gegend ist geradezu verseucht von ähnlichen Typen.“

Francis betrachtete sie fassungslos. Der Komplize der toten Frau war nirgends zu sehen. Das gelassene Auftreten von Eydis sagte jedoch viel über sein Schicksal aus.

„Was soll das? Sie fragten mich ...“

Eydis winkte rasch ab. „Alles zu seiner Zeit. Nehmen Sie Ihr Pferd, meines steht weiter hinten. Wir müssen reden.“

„Das glaube ich allerdings!“ Francis rieb sich die Handgelenke, suchte anschließend nach einem Taschentuch, tupfte vorsichtig das Blut von den Lippen. Das Gesicht brannte wie Feuer und das linke Auge pochte schmerzvoll im Rhythmus des Herzschlages. Er konnte damit fast nichts sehen, es schwoll an. „Sie haben mich hereingelegt, absichtlich in die Falle geschickt mit der theatralischen Übergabe einer Kaugummipackung! Ich hatte in meinem Leben öfters Ärger, doch niemals verprügelte man mich wegen so einer Idiotie!“

Eydis wedelte mit ihrem Bogen, zeigte ansonsten keine Gefühlsregung. „Es war notwendig, um meine Waffe aus dem Versteck zu holen. Die anderen waren abgelenkt. Wir müssen jetzt los!“

Francis schüttelte den Kopf. So leicht wollte er sich nicht abspeisen lassen. Es gab einen Überfall, zwei tote Personen und viel zu bedenken. Man musste die Behörden informieren, der Polizei die Umstände genau erklären. Für Francis lief die Tat klar auf eine Notwehrsituation hinaus.

„Dieser Bill sollte nach einem Satellitentelefon suchen. Damit können wir die Polizei rufen!“

„Das werden wir nicht!“ Die Stimme der jungen Frau klang ungewöhnlich scharf. „Es dauert zu lange und traditionell sind Polizisten unbewaffnet. Die Freunde der beiden Typen werden schneller hier sein und ich kann mich nur mit Pfeilen wehren. Entweder wir reiten sofort oder wir sterben!“

Francis presste grimmig das Taschentuch zusammen. „Das ist doch ein Witz! In was sind Sie verwickelt? Worum geht es überhaupt?“

Eydis hob den Zeigefinger. „An einem bestimmten Ort beantworte ich alle Fragen. Ich verspreche es!“

Francis betrachtete die Isländerin mit gemischten Gefühlen. Es entsprach nicht seinem Charakter, sich als Unschuldiger von einem Tatort zu entfernen. Andererseits konnte Eydis Recht haben und weitere Killer in der Gegend sein. Notgedrungen stimmte er zu und stieg mühsam in den Sattel.

Eydis ritt in schnellem Galopp durch die Landschaft, passierte eine Landstraße und ignorierte die hupenden Autos. Lediglich das Pferd von Francis scheute. Er brachte es mit Mühe unter Kontrolle. Schließlich erreichten sie an einem Waldweg eine verfallene Hütte. Die Hälfte des Daches war eingefallen, blockierte den Zugang in das Innere. An den Mauern wucherte Efeu empor und überall wuchsen Brennnesseln in dichten Büscheln. Eydis stieg ab und band ihr Tier an einen in der Nähe stehenden Baum.

„Sie erinnern sich noch an die Gespräche über Zeitreisen, die kranken Kinder aus früheren Jahrhunderten?“

Francis torkelte vorwärts. Er brauchte eine Pause und einen Platz zum Hinlegen, keine sinnlosen Diskussionen. Im Pub waren sie ihm bereits auf die Nerven gegangen und momentan hatte er andere Sorgen. Die Schmerzen wurden stärker. Mit dem verletzten Auge sah er überhaupt nichts mehr. Es wurde Zeit für einen Arzt.

„Mir steht jetzt nicht der Sinn nach diesem Schwachsinn. Man versuchte mich zu töten und Sie haben zwei Menschen mit Pfeilen erschossen! Was soll das alles? Ich brauche eine medizinische Versorgung.“

Die junge Frau lehnte sich mit dem Rücken gelassen an die Hütte, verschränkte die Arme vor der Brust. Intensiv musterte sie Francis.

„Vor über tausend Jahren wurde auf Island ein Mädchen geboren und ihre Eltern nannten sie Eydis!“

Francis riss erst die Augen auf, dann lachte er lauthals. „Wollen Sie mir weismachen, dass ...“

Statt einer Antwort griff Eydis mit den Händen in ihren Mund, zog die Lippen für einen Moment zur Seite. Die tadellosen weißen Zähne wurden deutlich sichtbar.

„Sie bewunderten das sicher, mein Gebiss wird ständig von vielen Menschen gelobt. Es gibt dafür einen Grund. Es sind Implantate, sie hängen an Titanstiften, die man in den Kieferknochen bohrte. Ich besitze fast keinen eigenen Zahn mehr. Wissen Sie warum? Es war kein Pferdetritt, wie sie einmal so spöttisch bemerkten.“ Sie sah Francis herausfordernd an. „Das Schiff meiner Eltern geriet in Seenot und ich wurde als einzige Überlebende an die schottische Küste gespült. Durch die Kleidung und Sprache konnte man sofort meine Herkunft erkennen. Sie hatten tragische Erfahrungen gemacht mit Leuten aus dem Norden, behandelten mich entsprechend. Ich war eine Sklavin und gleichzeitig leider eine Projektion für Rachegelüste. Für jedes vermeintliche Fehlverhalten, jeden angeblich schlecht erfüllten Dienst zog mir der Dorfschmied brutal einen Zahn.“

Francis schüttelte ungläubig den Kopf. Ein Märchen für Leichtgläubige, eine an den Haaren herbeigezogene Geschichte! Es wurde Zeit für die Wahrheit. Bestimmt ging es um kriminelle Dinge, in welche die Isländerin hineingerutscht war. Eydis hob erneut den Zeigefinger.

„Hören Sie zu! Ich wurde glücklicherweise durch eine Infektion krank, wäre beinahe gestorben. Ein herumziehender Mann kaufte mich und durch ein Zeitportal kam ich an einen anderen Ort. Ich wurde ausgebildet, man erneuerte mein Gebiss. Seitdem arbeite ich für etwas, das sich knapp als Organisation bezeichnet. Die Leute sind schwerpunktmäßig im 10. Jahrhundert unterwegs, sammeln Kinder wie mich ein um sie auszubilden und für ihre Zwecke einzusetzen.“

„Das ist Blödsinn! Was sollte man mit solchen Kindern in diesem Jahrhundert anfangen?“

„Kennen Sie den Politiker Albert Carter?“

Der Name sagte Francis etwas. Der Mann hatte Ambitionen auf das Amt des Premierministers, die Chancen standen gut. Sein Stolz war ein Pferdegestüt in Yorkshire und Francis glaubte gelesen zu haben, dass bereits einige Tiere das Rennen in Ascot gewonnen hatten.

„Man wird eine junge Pferdetrainerin bei ihm einschleusen und ihn unauffällig überwachen“, sprach Eydis weiter. „Ich wurde für den Einsatz ausgewählt, da seine Tochter ungefähr mein Alter hat und die Chance besteht, dass wir uns anfreunden. Ablehnen kann ich nicht, die Organisation versorgt mich mit Papieren und Finanzen. Ich bin völlig abhängig, die ideale Mitarbeiterin. Meckern darf ich, aber ansonsten bleibt mir nur der Gehorsam übrig.“

Eydis zeigte ein grimmiges Lächeln, während Francis die erhaltenen Informationen zu verarbeiten versuchte. Sein Verstand weigerte sich, das Gehörte zu akzeptieren.

„Nehmen wir an, dass es stimmt, was ich immer noch nicht glaube. Welchen Zweck verfolgt diese ominöse Organisation? Woher kommt die Technologie?“

„Ich weiß wenig. Es ist so eine typische Frage von Macht und Einfluss. Man will wichtige Bereiche unter Kontrolle bringen, im Hintergrund die Fäden ziehen. Im Grunde ist es mir egal, aber ein Problem tauchte auf. Es gibt eine andere Gruppe, die ebenfalls Zeitreisen beherrscht. Sie nennen sich hochtrabend Meister der Zeit. Die beiden freundlichen Reiter von vorhin arbeiteten für sie. Wie es aussieht, scheiterte ein Ablenkungsplan und die Meister gehen aufs Ganze.“

Francis ging auf und ab, langte an die Stirn. Zwischendurch schüttelte er den Kopf. Eydis lehnte an der Hauswand, beobachtete ihn neugierig. Ein leichtes Schmunzeln erschien in ihrem Gesicht.

„Maggie Thornton ist immer auf der Suche nach neuen Mitarbeitern für das 10. Jahrhundert. Sie kamen durch die finanziellen Probleme, den Bachelor in Geschichte und die militärische Erfahrung sofort in Frage. Alt-Irisch ist die Urform des Gälischen, das man dort spricht. Ich persönlich bin keinesfalls davon überzeugt, dass Sie etwas für unseren Club sind.“

Francis fuhr herum. Wütend hob er erst die geballten Fäuste, ließ sie dann aber sinken. Die junge Frau war nur eine Marionette.

„Ich werde garantiert nicht für solche Leute arbeiten! Ich halte für niemanden mehr den Kopf hin. Für diese Informationen wird sich die Polizei interessieren. Ich kenne wichtige Personen, man wird mich anhören. Wenn Sie irgendwelche Beweise liefern können, werden wir dem Spuk gemeinsam ein Ende bereiten.“

Das Grinsen von Eydis wurde stärker. Sie steckte ihre Hände in die Hosentaschen. Den Bogen und die Pfeile hatte sie am Sattel gelassen, trug dafür eine Stofftasche, die an langen Trägern an der Hüfte baumelte.

„Die Polizei? Sie sind naiv! Ich könnte Ihnen einen Vortrag halten, genau erklären, wieso es nicht funktionieren würde. Aber es gibt ein größeres Problem. Meine Chefin gab mir etwas.“ Sie griff an den Hals, nestelte einen an der Kette hängenden USB-Stick hervor. „Das Ausbildungscamp befindet sich in Neuseeland auf der Nordinsel. Es ist in einem Jahrhundert, in dem dort keine anderen Menschen leben. Das wissen die Meister bereits. Was für einen Angriff fehlt, ist die exakte Zeitlinie. Auf dem Stick ist verzeichnet, was unsere Feinde suchen. Wir tauschten die Informationen in allen Computern der Organisation aus gegen falsche Werte. Maggie gab mir den Datenspeicher heute früh, glaubte ihn in Sicherheit. Der Vorfall vorhin beweist, dass der Plan gescheitert ist. Es gibt momentan nur einen Ort, an dem er geschützt ist, Mr. Stevens. Sie werden die Daten in das 10. Jahrhundert bringen und dort meinen Leuten übergeben.“

Francis lachte laut auf. War die Frau vollkommen verrückt geworden?

„Sie haben mich nicht verstanden, Miss Leifsdottir! Ich arbeite keinesfalls für diese Organisation. Helfen Sie mir lieber, das zu beenden! Machthungrige Vereinigungen, die im Hintergrund die Fäden ziehen wollen! So etwas darf ich nicht zulassen! Wir müssen den Sumpf trockenlegen! Dann sind auch Sie frei, können tun, was Sie wünschen, brauchen keiner Thornton zu gehorchen.“

Eydis schwieg einen Moment, nahm die Kette vollständig ab. Nachdenklich starrte sie den Stick an, der langsam hin und her pendelte. Auf Francis machte sie den Eindruck einer intensiv grübelnden Person. Das sah er positiv. Die Argumente hatten die gewünschte Wirkung erzielt. Schließlich wickelte sie das Halsband mit einer lässigen Bewegung um den Unterarm.

„Gut, Mr. Stevens. Wie sollen wir vorgehen?“

Francis atmete erleichtert auf. Endlich entwickelte sich die Angelegenheit in die richtige Richtung. Er betrachtete die Umgebung, versuchte die Hügel zu identifizieren. Mit Eydis im Rücken deutete er nach Norden, suchte in Gedanken den kürzesten Weg zu einer Polizeistation. Die junge Frau hatte von vielen Verbrechern in der Gegend berichtet. Die Flucht musste schnell verlaufen, dann hatten sie eine Chance.

„Wir befinden uns bei Newton Mearns. Wenn wir der Landstraße folgen, werden wir ...“

Schmerz durchzuckte seine rechte Schulter. Sofort wirbelte Francis herum, bekam Eydis am Arm zu fassen. Ungläubig fixierte er die automatische Spritze in ihrer Hand. Sie war leer!

„Wissen Sie, was ich mehr hasse, als die Organisation, Mr. Stevens?“ Eydis starrte ihn gleichmütig an. „Es sind Leute, die Mädchen zur Bestrafung die Zähne ziehen und es ist der Tod. Im Neuseeland der Vergangenheit leben viele Kinder. Die Erziehung ist okay und einen Preis muss man für alles bezahlen. Die Meister der Zeit werden die Menschen dort entweder ermorden oder die Ausbildung nach ihrem System ändern. Ich weiß nicht, was schlimmer ist.“

Francis setzte zu einer scharfen Erwiderung an, doch die Stimme versagte. Schwindelgefühle versetzten ihn in Taumeln, er ließ Eydis los. Übelkeit stieg vom Magen hoch und Francis begann zu würgen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl kaum noch Luft zu bekommen, fiel auf die Knie. Francis kämpfte dagegen an. Die Behörden mussten informiert werden. Unbedingt! Die Gefahr drohte allen!

Eydis stellte sich gelassen vor ihn, zeigte den Stick. Er taumelte vor seinem Gesicht wie das Pendel einer Uhr.

„Sie werden eine weite Reise unternehmen und übergeben den Datenspeicher.“

Francis hob abwehrend den Arm, verlor dabei das Gleichgewicht und sank auf das Gras. Wie durch milchiges Glas sah er verschwommen, dass Eydis ihm die Kette um den Hals legte. Er wollte sie rasch abnehmen, doch die Hände gehorchten nicht mehr. Die Isländerin strich mit ihrem linken Arm über die Wand der Hütte. Eine versteckte Tastatur klappte heraus, auf der sie zu tippen begann. Der Boden vor Francis schien lebendig zu werden, das Laub glitt zur Seite, die Erde verschwand. Übrig blieb zum Schluss Metall, eine kreisförmige Struktur, die fast bis zur Gebäudewand reichte. Eydis trat erneut zu ihm.

„Ich verschwinde jetzt, Mr. Stevens. Im Außenbereich eines Zeitportals herrscht eine mörderische Strahlung, aber innerhalb des Kreises kann nichts passieren. Da Sie ohnehin bald bewusstlos sind, brauche ich mir keine Sorgen zu machen, dass Sie den Zirkel verlassen. Richten Sie Grüße von mir aus. Dort, wo Sie hinkommen, kennt man mich.“

Francis fühlte die Kälte des Metalls im Gesicht. Die Übelkeit nahm zu, er würgte heftig. Ein Schwall Erbrochenes ergoss sich über die Bodenfläche. Aufstehen! Um jeden Preis aufstehen und weg von dieser Verrückten! Die Polizei musste alarmiert werden!

Er wollte sich mit den Armen hochstemmen. Adrenalin! Der Gedanke daran kam ihm vor wie eine Erlösung. Adrenalin konnte die Wirkung von Drogen abschwächen! Er musste nur weiter versuchen ...

Die Muskeln versagten, Francis prallte auf den Boden. Dann wurde es dunkel, er fiel in eine schier bodenlose Finsternis.

Gestrandet in der Zeit

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