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Bernd Deininger

Das rechte Maß • Matthäus 13,24–30

Das Nachdenken über die Begrenztheit unseres Daseins hat die Menschen schon seit Urzeiten beschäftigt. Dieses Nachdenken ist unmittelbar mit der Frage nach dem Ursprung des Lebens verknüpft. Für viele steht am Ende dieser Frage die Erkenntnis, dass es etwas dem menschlichen Leben Übergeordnetes gibt, das ganz zu Beginn steht. Ob dieser allumfassende Ursprung nun als das Absolute bezeichnet wird oder ob wir dafür den Begriff »Schöpferische Kraft« oder im christlichen Sinn den Namen »Gott« einsetzen, erscheint nicht entscheidend. Wenn über Gott gesprochen wurde, war dies meist nur in Reflexionen möglich, die sich auf Gott bezogen entwickelt haben.

Diese Vorstellungen konnten durchaus logisch und klar durchdacht sein, aber das Numinose, das alles Umfassende, eben das, was wir Gott nennen, nicht verstandesmäßig begreifen. Auch der historische Jesus hat über Gott, den er seinen Vater nannte, gesprochen. Und wie wir aus den Evangelien herauslesen können, tat er dies nicht in Form einer theologischen Reflexion, sondern häufig in Gleichnissen. In gleichnishafter Weise zu reden bedeutete in der Erklärung, was Gott sein könnte und was dessen Wille ist, einen radikalen Verzicht gegenüber jedweder Art von theologischen Meinungen. Jesus hat, wie wir dem Neuen Testament entnehmen können, eben auch deshalb in gleichnishafter Weise geredet, weil es für ihn erst einmal keine rationalen und sachlogischen Erklärungen gab, um Gott in seiner Ganzheit zu verstehen. Das für uns als heutige Menschen Beeindruckende an der Rede Jesu in Gleichnissen ist, dass er einen Versuch macht, den seelischen Strömungen des Menschen nachzugehen und die Fragen seines Gegenübers so aufzugreifen, dass sie sich in dessen eigenem Leben widerspiegeln und verdichten.

Hinter dem Gleichnis vom Unkraut im Weizen steht eine uralte Menschheitsfrage, die sich weder individuell noch allgemein einfach lösen lässt: Wie kann man Gut und Böse voneinander unterscheiden? Was ist falsch und was ist richtig? Wie steht es mit dem offensichtlich Leidvollen in der Welt und warum lässt der allumfassende Schöpfergott dies alles geschehen? Wir Menschen wünschen uns auf diese Fragen eine Antwort, obwohl wir beim Nachdenken spüren, dass es keine allumfassende Antwort geben kann. Dies war zu Zeiten Jesu nicht anders. Auch er, den seine Jünger »Meister« nannten, wurde immer wieder aufgefordert, sich gegen das vermeintlich Böse aufzulehnen, gleiches Recht für alle zu schaffen und gegen die Besatzungsmacht der Römer mit Waffengewalt vorzugehen. Dahinter stand der Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit, so wie wir es auch heute am Beginn des 21. Jahrhunderts an vielen Orten in der Welt beobachten. Bei genauerer Betrachtung und mit Blick auf die menschliche Geschichte wird deutlich, dass jedoch Unfreiheit und Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Leid das menschliche Dasein dominiert haben. Und wie damals die Jünger Jesus bedrängten, so können wir auch heute als Glaubende fragen: Warum greift Gott nicht ein, warum lässt er all das zu? Warum gibt es keinen Sieg des Guten über das Böse?

Das Gleichnis von dem Mann, der Korn aussät und nicht damit gerechnet hat, dass sein Gegner kommt, um mitten in die Saat Unkraut zu streuen, wäre nun zu einfach und der jesuanischen Rede nicht gemäß gedeutet, wenn der Sämann der Menschensohn selbst wäre, sein Gegner das Böse, das Teuflische, der Satan, das Korn die Guten, das Unkraut die Bösen; die Arbeiter, die die Ernte einfahren, wären die Boten Gottes oder die Engel, die das Gute einsammeln, Gott dafür danken und das Böse, das Unkraut, verbrennen und dem Teuflischen überlassen.

Nehmen wir einmal an, dass alles, was uns im Leben begegnet, so einfach aufzuschlüsseln wäre, dass wir wüssten, was gut und was böse ist, was von Gott kommt und was nicht. Nehmen wir weiter an, die ganze menschliche Geschichte würde uns vor Augen gehalten und wir hätten die Fähigkeit zu unterscheiden, was für Menschen gut und was schlecht ist. Was würde daraus folgen? Es wäre möglich – um im Gleichnis zu bleiben –, in das Kornfeld zu gehen, das Unkraut herauszureißen und das Korn stehen zu lassen. Jesus weist in seinem Gleichnis darauf hin, dass genau dies der falsche Weg wäre. Denn mit dem Ausreißen des Unkrauts würde vieles andere ebenfalls zerstört werden. Jesus macht deutlich, dass die menschliche Geschichte sich eben nicht so einfach aufschlüsseln lässt, dass wir irgendetwas abtrennen können und schon ist alles gut. Vielmehr wäre es so, dass das Trennen am Ende nicht Leben bewirkt, sondern eher Zerstörung und Vernichtung.

Es geht also darum, erst einmal beides wachsen zu lassen: das, was man als gut, und das, was man als schlecht empfindet, und somit auszuhalten, dass Entwicklungen längere Zeiträume beanspruchen. Wichtig ist, Geduld zu entwickeln und abzuwarten, was sich gerade in der individuellen Lebensgeschichte tut. Geduld und Abwarten kann vertrauensvolles Hoffen bedeuten, um den Dingen, die wir von Gott kommend bezeichnen, zu überlassen, wie sie sich ausgestalten. Wir sollten uns also davor hüten, uns zum Richter über Leben zu machen. Die klare Entscheidung des Richtens ist bestenfalls unter den Kriterien eines Strafgesetzbuches, das sich in Paragrafen aufschlüsselt, möglich, nicht aber, wenn es um das individuelle Leben eines Menschen geht und um das, was ihm in seinem Leben begegnet. Wenn Menschen beurteilen und richten und den Anspruch erheben, zu wissen, was gut und böse ist, dann verwüsten sie eher alles, als dass etwas wachsen kann.

Wenn wir uns mit dieser Perspektive unserem eigenen Leben zuwenden, wie vieles erscheint uns da als gefährlich oder zu Vernichtendes, nur weil es uns möglicherweise unbekannt ist oder weil wir mit Gefühlen konfrontiert werden, die wir nicht kennen. Im Erleben solcher Situationen können wir gar nicht wissen, was richtig und falsch ist. Und wir können keinen Maßstab dafür entwickeln, was oder wie wir weiterleben sollen, was also »gutes Korn« oder »Unkraut« ist. Wir wissen in der Regel in den Momenten, in denen wir mit der Entscheidung, welchen Weg wir weitergehen sollen, konfrontiert sind, nicht, was das rechte Maß ist. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die ständig an sich herummäkeln, die sich kritisieren, die selten mit dem, was sie leisten, zufrieden sind, und häufig nichts an sich finden, worauf sie stolz sein können. Je deutlicher jedoch Menschen bei sich selbst zu trennen versuchen, was gut und schlecht ist, desto eintöniger und künstlicher wird ihr Leben. Häufig geht dann jede Kreativität, jede Neugier verloren.

Eine knapp 50-jährige Frau erzählte mir einmal, dass sie bei einem Wohnungsumzug ohnmächtig geworden sei. Während sie nach dieser kurzen Ohnmacht über die Gründe dafür nachdachte, war sie plötzlich über sich selbst entsetzt und bekam vor sich selbst Angst. Ihr wurde nämlich klar, dass einer der Angestellten der Umzugsfirma sie durch sein Arbeiten mit freiem Oberkörper so in eine erotische Erregung versetzt hatte, dass sie für einen kurzen Moment den Wunsch hatte, ihn zu verführen. Als sie mir dies erzählte, war spürbar, wie sehr sie sich wegen dieses Wunsches geschämt hatte und sich vor ihren eigenen Trieben und Wünschen fürchtete. Gleichzeitig verurteilte sie sich und hielt sich für eine unmögliche und unmoralische Frau. In dieser Situation brachen wohl unbewusst so viele Schuldgefühle und Ängste in ihr auf, dass sich ihr Bewusstsein für einige Sekunden weigerte, bei ihr zu bleiben.

Was aber war nun die Erkenntnis für sie aus dieser für sie schamhaften Situation? Sollte sie nach ihren moralischen Vorstellungen, die ihr als heranwachsendes Mädchen beigebracht wurden und die sie internalisiert hatte, strenger gegen sich vorgehen und sich alle Triebregungen verweigern? Sollte sie bildhaft mit einem Unkrautbekämpfungsmittel den Garten ihrer Seele betreten und alles, was aus ihrer Sicht triebhaft und unmoralisch ist, ausreißen und vernichten? Sinnvoller wäre es, wenn sie aus dieser Erfahrung lernen könnte, dass sie mehr Geduld mit sich selbst haben sollte und es einfach genießen könnte, dass sie einen attraktiven männlichen Körper begehrenswert findet. Sie könnte vielleicht auch erkennen, dass das Verführerische, das sie in sich trägt, durchaus lebenswert sein kann, dass die eigenen inneren Triebimpulse nicht zu verleumden und zu verleugnen sind, sondern dass sie gerade mit diesen Dingen den nötigen Spielraum zum Leben hat, um es kreativ und interessant zu gestalten. Für sie wäre es wichtig und sinnvoll, diese Lebendigkeit, die sie verspürte, zuzulassen und sich gegen die innere Leere, die das Ergebnis vieler Verdrängungen war, zu wehren. In vielen Fällen ist es nämlich eher so, dass sexuelle oder aggressive Triebimpulse, die zurückgedrängt werden und sich aufstauen, irgendwann ausbrechen und dann großen Schaden anrichten. Je mehr wir zu unterdrücken versuchen, desto mehr werden sich in uns Widerstände regen und desto ohnmächtiger werden wir uns selbst gegenüber sein.

Das, was wir heute Psychotherapie in tiefenpsychologischer Hinsicht nennen, besteht in nichts anderem, als das wachsen zu lassen, zu betrachten, zur Kenntnis zu nehmen und zu verstehen, was in unserem Inneren lebt und sich regt, und zwar mit einem unbedingten Vertrauen, dass das Gute in uns siegen wird. Nur: Woher bekommen wir dieses Vertrauen? Wir Christen erhalten über das Gleichnis eine Antwort: Wir sollten Gott im Ganzen zuversichtlich zumuten, dass er die Welt und uns selbst als einen Teil davon richtig und nicht falsch geschaffen hat. Alles, was in unserer Seele vorhanden ist und sich meldet, hat auch das Recht, gelebt zu werden. Es gibt keine Wunschregung, keine Fantasie, keine Neigung in unserem Inneren, die nicht berechtigt wäre, zur Kenntnis genommen zu werden. Zu fragen ist lediglich, was in der Realität umzusetzen ist und was schöne Fantasie und Wunsch bleiben sollte. Um zu einer reifen Entscheidung zu kommen, ist die Unterscheidung wichtig, ob es sich um eine unreife narzisstische Fantasie handelt oder um eine Fantasie, die aus Angst nicht umgesetzt werden kann. Es ist eine entscheidende Erkenntnis und Lebenskunst, Dinge, die sich in unserem Inneren entfalten, nicht auszurotten und zu bekämpfen, sondern wachsen zu lassen. Auch Fantasien, Regungen und Wünsche, die sehr belastend sein können, zum Beispiel wenn es sich um Mordfantasien oder sexuelle Fantasien handelt, sollten an die Oberfläche gehoben und angeschaut werden. Wenn es sich dann um destruktive Fantasien handelt, die auf den Menschen selbst oder auch auf die Außenwelt gerichtet sind, so ist es wichtig, sich Hilfe zu holen und verstehen zu wollen, wo die Motive liegen.

Die Frage, was dann sinnvoll ist, können wir als Individuen nur für uns selbst beurteilen. Immer dann, wenn sich Menschen gegenseitig vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben, wenn einer dem anderen sagt, was richtig oder falsch ist, wird er damit nichts Gutes bewirken, sondern vielmehr Widerstände hervorrufen und Unkraut säen.

Wie man nun die Geduld findet, innerlich alles wachsen zu lassen, was vorhanden ist, wie man das rechte Maß findet, das ist die Sehnsucht, deren Erfüllung wir häufig unser ganzes Leben nachjagen. Aber es gibt kaum ein anderes Gleichnis im Neuen Testament, das so viel Vertrauen in das individuelle menschliche Leben setzt, wie dieses, das so therapeutisch mit unserer Angst, mit unserer Unruhe, mit unserem Willen zur Perfektion und mit unseren moralischen Ansprüchen umgeht. Mit Recht wird also in diesem Gleichnis darauf hingewiesen, dass es nicht darum gehen kann, das scheinbare Unkraut auszureißen, sondern dass alles, was sich in unserer menschlichen Seele befindet, wichtig ist, betrachtet zu werden. Das im Menschen Vorhandene verträgt keine Einschränkungen, keine Begrenzung. Es geht vielmehr darum, auch das, was uns bedrohlich erscheint, verstehen zu wollen und ins Bewusstsein zu heben. Es muss nicht mehr entschieden werden, ob etwas gut oder böse ist, sondern es geht darum zu verstehen, ob auch Negatives und vordergründig Belastendes zum eigenen Reifungsprozess einen wichtigen Beitrag leisten kann.

Wenn wir uns als Geschöpfe Gottes verstehen, wäre es einfach, daraus zu schließen, dass Gott offenbar einen lebendigen Austausch von allem wünscht, dass er keine klare Welt, keine reine Ordnung, die nach äußeren Gesetzen funktioniert, geschaffen hat. Es ist wichtig zu sehen, dass wir Menschen Wesen sind, die ständig unterwegs sind: Suchende. Nicht-Wissende. Sich Mühende. Unvollkommene, ständig umhertastend, um herauszufinden, was Irrtum und Wahrheit ist. Das ist jedoch auch das Spannende an unserem Leben. Und gerade heute sehen wir, dass der fanatische Wille der Guten, die menschliche Geschichte und nach Möglichkeit die ganze Natur von allem Negativen, von jedem Schatten, von jedem Unheil zu reinigen, genau das Gegenteil bewirkt. Fundamentalistische religiöse Strömungen in jeder Religion, die von sich behaupten, genau zu wissen, was Gott will, haben am furchtbarsten und grausamsten gewütet. Diesem Willen zum absolut Guten verdanken wir Heilige Kriege, die sogenannte Hexenverbrennung im Mittelalter, die Zerstörungen von Tempeln und religiösen Symbolen überall auf der Welt und durch alle Menschheitszeitalter. Im Namen der Reinheit werden die schlimmsten Säuberungsaktionen vorgenommen, die schlimmsten Verbrechen begangen, nimmt die Unbarmherzigkeit in der Welt zu. Das Schlimmste daran ist jedoch, dass Menschen dies häufig mit bestem Gewissen und aus guten Absichten taten und tun, weil sie glauben, auf der Seite der Wahrheit zu stehen.

Das gilt nicht nur für gesellschaftliche Gruppierungen, sondern findet sich auch im seelischen Erleben einzelner Menschen wieder. Von klein auf hören viele Menschen auch heute noch: Wir müssen das Böse unterdrücken und beherrschen, jeden Tag moralisch einwandfrei leben, alles, was störend ist, niederhalten und verdrängen. Daraus entstehen »Unkraut« und Missgunst. Gott will, dass wir nichts auseinanderreißen, sondern gerade aus der Spannung, aus den Gegensätzen, aus den Widersprüchen reifen, am Leben teilnehmen und daraus das rechte Maß entwickeln.

Das rechte Maß zu finden heißt daher nach diesem Gleichnis: nichts ausreißen und nichts zerstören, was in uns vorgeht. Wir lernen, dass kein menschliches Problem dadurch gelöst wird, sich mit schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch zufriedenzugeben, sondern dass neben dem Positiven auch Negatives da sein darf, dass neben dem Korn auch Unkraut wachsen muss, damit sich das gesellschaftliche, aber auch das individuelle Leben sinnvoll entwickeln kann. Insofern ist es eine Grundaussage: Bei Gott darf alles wachsen. Wenn wir dieses Vertrauen in Gott haben, warum nicht auch in den Menschen, der eine in den anderen? Das Anerkennen, dass in uns und auch im anderen alles wachsen darf, schafft Beziehungen in Ehrlichkeit und Wahrheit, die ein kreatives und lebendiges Leben möglich machen.

Verstehen statt verurteilen

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