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Huhn oder Ei?
ОглавлениеEs gibt eine eifrige Diskussion um die Frage, ob das Huhn oder das Ei zuerst da war. Diese Diskussion begann spätestens, als der griechische Wissenssammler Aristoteles während seiner Überlegungen zur Entstehung des Lebens in der Vorstellung von der Existenz eines ersten Menschen einen Widersinn entdeckt hatte:
»Wenn da ein erster Mensch war, so muss er ohne Vater und Mutter geboren worden sein; dies aber widerspricht der Natur. Denn es kann kein erstes Ei gegeben haben, aus dem ein Vogel geschlüpft ist, denn dann müsste es einen ersten Vogel gegeben haben, der das Ei gelegt hat.“1
Es sind regelrechte Parteien, welche sich für die eine oder andere Antwort entscheiden. Zu Zeit stehen vor allem Kreationisten auf dem Standpunkt, dass das Huhn zuerst da war, weil ein gewisser Gott die Tiere geschaffen habe, die dann ihre Jungen bzw. Eier hervorbringen konnten. Evolutionsvertreter neigen mehr zum Ei als Ursprung, weil es im Zuge der Abstammung vom letzten Saurier gelegt werden konnte, worauf daraus das erste Huhn wurde. Deshalb können Adam und Eva nach den Gnostikern auch keinen Bauchnabel gehabt haben, denn sie waren ja schliesslich geschaffen, nicht geboren worden.
Die Diskussion dieser Frage ist auch heute noch beliebt, um Leerstellen in Zeitungen, im Internet und in Gehirnen zu füllen. Dabei wird kolportiert, ohne zu recherchieren, mit dem angeblich gesunden Menschenverstand argumentiert oder einfach drauflos behauptet, dass es eine Art hat.
Diese Fragestellung ist aber auch ein immanenter Vorwurf an die Philosophie, welche sich, wie damit zu belegen ist, offensichtlich vorwiegend mit nutzlosen Fragen dieser Art beschäftigt.
Beantworten Philosophen etwa die wichtige und praktische Frage, wie Hühner am effektivsten aufzuziehen sind oder wie ein Ei zubereitet werden kann? Nein! Finden wir in den Werken der Philosophen Hinweise darauf, wie die Abstammungskette der Eier und Hühner ineinandergreift um die Evolutionstheorie zu unterstützen? Nein, auch nicht! Katalogisieren Philosophen wenigstens die grandiose Verschiedenartigkeit und Vielfalt der Eier dieser Welt und schaffen damit nützliches Wissen, das zur Erhaltung des Genpools oder wenigstens zum erhabenen Erstaunen über den Reichtum unserer Welt führen kann? Nein!
Aber wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können oder ob das Huhn oder Ei zuerst da war, das diskutiert die Philosophie! So lautet der Vorwurf.
Alles in Allem scheint die Philosophie aber selbst zur Antwort auf diese Frage wohl zu nichts nütze. Jedenfalls gibt es bisher keine eindeutige und einfache Antwort. Dabei sind die frühen Philosophen vor Sokrates bereits fleißig daran beteiligt gewesen, eine Frage zu beantworten, die sich nur unwesentlich von der Frage nach dem Huhn oder dem Ei unterscheidet.
Diese Frage ist die Frage nach einem letzten Grunde aller Dinge und damit nach der letzten Wahrheit.
Der radikale Wandel in der Art und Weise aber, wie diese Philosophen über diese Frage diskutierten, hat die Vertreter der jeweils reinen Glauben und auch den Träger des »gesunden Menschenverstandes“, den kleinen Mann auf der Straße aufgeschreckt.
Viele Religionen dieser Welt, insbesondere die, welche sich von der jüdischen Religion ableiten, haben die Antwort gegeben, dieser letzte Grund aller Dinge und damit die letzte Wahrheit sei etwas, das sie mit dem in jeder Sprache verschiedenen Namen »Gott“ bezeichnen. Um die Dichotomie vollständig werden zu lassen, wurden Gegenfiguren zu diesen Göttern erfunden: Dämonen und ihre moderneren Formen, die Teufel. Das ist für Philosophen allerdings nur ein weiterer Name für die Frage und keine wirkliche Antwort, weil ihnen die Antwort auf die Frage, wer oder was diese Götter oder Teufel eigentlich seien, schuldig geblieben wird. Aber es ist einfach, und glaubhaft. Mehr noch, es muss geglaubt werden, so wir mir jemand meinen Namen glauben muss. Wer Einfachheit mag, schnelle Antworten und wer nicht weiter nachdenken möchte, mag mit dieser Antwort zufrieden sein. Philosophen waren nicht zufrieden.
Im hinduistischen Verständnis, einer sehr alten philosophisch-religiösen Denkweise, ist die Welt, sind auch die Götter, aus einem Urlaut entstanden, dem »Aum“. Selbst im Christentum klingt diese Idee noch im Text des Evangeliums des Johannes nach, des ältesten Evangeliums: »Am Anfang war das Wort.“ Götter und Dämonen hatten gute und schlechte Eigenschaften, je nach Situation.
Die ersten Philosophen suchten, möglicherweise in dieser Tradition stehend, nicht nach Göttern, sie suchten nach einem Urstoff, dem Arché:
Thales suchte den Grund aller Dinge im Wasser,
Anaximander im Apeiron, dem Unendlichen,
Heraklit im Feuer,
Anaximenes in der Luft.
Parmenides sah hinter dem Schein dieser Welt Aletheia (das wahre Sein) ein unveränderliches unzerstörbares Ganzes, in idealer Kugelform.
Pythagoras suchte in den Zahlen nach dem Ursprung.
Empedokles fügt die Erde hinzu.
Die Atomisten Leukipp und Demokrit stellten sich kleinste unteilbare Teilchen vor.
Wasser im Sinne Thales’ ist jedoch kein Wasser, Feuer im Sinne Heraklits kein Feuer, Atome im Sinne Demokrits, Leukipps und Epikurs keine Teilchen im stofflichen Sinne, sondern sprachliche Symbole für lebendige Substanz.
Der das zum ersten Mal wieder deutlich in der Neuzeit ausgesprochen hat, Spinoza, ist schon für das Denken dieses Gedankens mit Ausschluss aus der Gemeinschaft bestraft worden. Spinoza beginnt mit der Frage: »Über Gott“ und nach sechs Denkschritten stellt er fest:
»6. Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Wesen, d. h. die Substanz, welche aus unendlichen Attributen besteht, von denen jedes ewiges und unendliches Sein ausdrückt.“ (Spinoza 1975: 23)
Damit ist Gott eigentlich erledigt, weil Spinoza dieses Wort als das benutzt hat was es schon immer war: Ein anderer Name für Alles. Gott ist kein Wesen, keine Metapher, keine Analogie, kein Metonym, »Gott“ ist ein Synonym.
Die Sprache philosophischer Denker und Denkerinnen ist genau und ernst. Die Worte, welche philosophische Erzähler verwenden, sind gewählt und werden immer wieder rückgefragt: Was meinst du damit? Was genau bezeichnet das Wort?
So bezeichnet das von den Atomisten Demokrit, Leukipp und Epikur eingeführte Wort Atom »Ungeschnittenes“. Der Unterschied zwischen Ungeschnittenem und Unteilbarem ist im Laufe des philosophischen Denkens vergessen worden und erst durch Hegel wieder ins Bewusstsein gekommen. Deshalb spricht Hegel immer von »das Atome“, nicht von »dem Atom“. Und von ihm stammt auch das geniale Wort vom »Ungeteilten“(Hegel 2000: 431) im Gegensatz zum Getrenntsein von Begriffen. In der schulischen Umgangssprache kann gelegentlich die Formulierung gehört werden: »Die Familie der Rüsseltiere zerfällt in Waldelefanten, asiatische und afrikanische Elefanten!“ Natürlich zerfällt hier gar nichts, es wird bewusst unterschieden, was in der Natur gemeinsam existiert.
Aber diese Sprechweise korrespondiert mit dem gesunden Menschenverstand, der überall zwei Wesen wittert: Ich und Andere, Gute und Böse, Große und Kleine, Gewinner und Verlierer, Besitzende und Besitzlose und so weiter. Deshalb hält sich dieses trennende, im Gegensatz zum unterscheidenden, Sprechen trotz der offensichtlichen Falschheit im öffentlichen Bewusstsein, ja wirkt bis in das Philosophieren selbst zurück.
Auch Begriffe sind voneinander nicht zu trennen, nur zu unterscheiden. Es sollte überhaupt vorsichtig mit dem Terminus »trennen“ umgegangen werden, der hat zu zweitausend Jahren sinnloser philosophischer Diskussion geführt, wie zum Beispiel an der Diskussion um Sein und Bewusstsein nachvollzogen werden kann. Was du getrennt hast, kannst du wieder zusammenfügen. Aber es wird dir geschehen, wie dem Anatomen, den Hegel beschrieben hat als Einen, der versucht die Teile eines Menschen wieder fein säuberlich zusammenzufügen, nachdem er ihn auseinandergenommen hat und doch kein Leben mehr hineinbringt.
Im Übergang vom griechischen zum römisch-lateinischen Philosophieren ist dieses Wissen verloren gegangen. Die Römer benutzen das Wort Individuum: In–divi–duum → nicht–teilbar in–zwei-Teile. Dass bis in den heutigen Sprachgebrauch mit diesem Wort einzelne Menschen bezeichnet werden, ist aus dem griechischen Erbe erhalten geblieben, dass es sich aber um etwas Ungetrenntes handelt, etwas, was nur im Zusammenhang mit dem lebendigen Umfeld, dem οίκος (oikos ’Haus’) verstanden werden kann, ist vergessen worden. Teil und Ganzes blieben seit dieser Zeit Rätsel, welche Zenon mit seinen Aporien auf die Spitze getrieben hat, denn, so die Voraussetzung, dieses Verschiedene kann nicht dasselbe sein. Das wäre widersinnig.
Das Argument der Widersinnigkeit, das sehr oft bei Aristoteles vorkommt, ist sehr eigenartig. Widersinnig heißt »wider unseren Sinneseindruck“. Aristoteles aber benutzt den Ausdruck als »ist gegen den Bewegungssinn der Logik gerichtet“.
Auch daran hat Aristoteles seinen Anteil. Seine Bevorzugung der πολιτικὴ κοινωνία (politiké koinonia ’Zivilgesellschaft’) gegenüber dem οίκος λόγος (oiko logos ’Haushalt’) begünstigte eine trennende gegen eine unterscheidende Denkweise. Für Aristoteles war die Sicherung der Grundbedürfnisse im Haushalt des privaten Interesses (ἰδιότης idiótes) nicht so notwendig und wichtig wie das tugendhafte Handeln in der Stadt (πολις). Für ihn war der Mensch vorrangig ein ζῷον πολιτικόν (zoon politikon), ein Lebewesen in der Polisgemeinschaft. Dieser Gedanke klingt sogar noch bei einem seiner schärfsten Kritiker, Karl Marx, nach, wo dieser in seiner 6. Feuerbachthese behauptet:
»Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (Marx 1969: 5 ff)
Utopische Ideen neigen dazu, von freien Individuen, basierend auf gesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln zu träumen. Karl Marx machte da keine Ausnahme: Er fand mindestens drei typische Gesellschaftsformationen: erst, ganz naturwüchsig auf persönlicher Abhängigkeit beruhend – Sklaverei und Feudalismus, dann auf persönlicher Unabhängigkeit aber gegründet auf sachlicher Abhängigkeit – Kapitalismus und schließlich:
»Freie Individualität, gegründet auf die universelle Entwicklung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Produktivität, als ihres gesellschaftlichen Vermögens, ist die dritte Stufe.“ (Marx 1983: 91)
Lange Jahre haben die Menschen in den »sozialistischen“ Ländern gehofft oder geglaubt, in einer solchen Gesellschaft zu leben oder irgendwann leben zu können. Dafür haben viele von ihnen auf ihre freie Individualität verzichtet und sich dem Willen einer Partei untergeordnet. Aber Pustekuchen! Das Privatinteresse, die Idiotie der kleinen Leute an ihrem Haushalt, an kleinen Reisen und einem einigermaßen guten Leben hat all die großen Hoffnungen auf Sozialismus und Kommunismus, vom Leben in einer glücklichen Gemeinschaft politischer, bewusster, allseitig entwickelter Persönlichkeiten innerhalb weniger Monate des Jahres 1989 wie ein Kartenhaus zusammenfallen lassen. Unterordnung der gemeinschaftlichen Produktivität ist ohne freie Individualität, so hat sich erwiesen, nur eine andere Form feudaler, persönlicher Abhängigkeit – daher die Bedeutung persönlicher Beziehungen im internen Markt der sozialistischen Staaten wie in den sozialen Marktwirtschaften auch und daher der Trend zur Familiendynastie, wie sie noch heute im so genannten kommunistischen Nordkorea oder auch in China, aber auch gelegentlich in der Abfolge amerikanischer Präsidenten beobachtet werden kann.
In diese Denkungsart fällt auch die Verwechslung von Konkurrenz – eigentlich das gemeinsame Auftreten auf dem Markt – mit dem von Plautus, einem römischen Komödiendichter (!) beklagten Wolfsgesetz: »Der Mensch ist des Menschen Wolf“. Selbst Wölfe können nicht in angeblich unversöhnlicher Feindschaft allein existieren. Dieser Gedanke wird oft Hobbes zugeschrieben. Doch er wird von diesem komplexer betrachtet, indem er schreibt, es seien
»… beide Sätze wahr: Der Mensch ist ein Gott für den Menschen, und: Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen; jener, wenn man die Bürger untereinander, dieser, wenn man die Staaten untereinander vergleicht.“ (Hobbes 1966: 59)
Was geschieht hier? Wer hat ein so großes Interesse, der Philosophie etwas zu unterstellen, was in ihr nicht geschieht, wer hat ein Interesse Philosophen Sätze in den Mund zu legen, die sie nicht gesagt haben, wer ist daran so brennend interessiert, statt wissenschaftlicher Diskussion nur unsinniges Geschwätz zu kolportieren?
Wer reduziert die Geschichte der Philosophie auf den immerwährenden Streit zwischen zwei Meinungen?
Weder die Frage nach den Engeln auf der Nadelspitze lässt sich historisch belegen, noch die Diskussion über Huhn oder Ei. Diese Anschuldigungen gegen die Philosophie erweisen sich bei einiger Nachprüfung als üble Nachrede.
Das Geheimnis löst sich auf, in dem die Erzählweise des öffentlichen Bewusstseins, vertreten durch den gesunden Menschenverstand, genauer betrachtet wird: Es gibt offenbar ein öffentliches Bedürfnis nach einer einfachen Erzählung (Narrativierung) komplexer Strukturen. Diese einfache Erzählung sollte so weit als möglich den Augenschein abbilden. Sie sollte auch den gesunden Menschenverstand auf keine allzu harte Probe stellen.
Was sind die Elemente dieser Narrativierung? Es sind:
Dualisierung
Antagonisierung
Symbolisierung
Dramatisierung und
offene Finalisierung.
Das erste Element ist der Trend zum Dualismus. Zusammen gehörende ungeteilte Gegensätze werden als selbständige Individuen unterschieden und als getrennte Wesenheiten betrachtet. Aus den miteinander auf Tod und Leben verbundenen Agenten des Kapitals »Kapitalist“ und »Arbeiter“ werden so zum Beispiel Todfeinde, die einander vernichten wollen, um nach Vernichtung des Feindes autonom existieren zu können. Die einen sind die Guten und die Anderen sind die Bösen. Und die Bösen sind nur böse und die Guten, nun ja, sind weitestgehend gut und manchmal ein klein wenig böse wegen der Individualität, verstehen Sie? Dritte Figurengruppen, wie die Intelligenz, wechseln gelegentlich die Seite oder bewegen sich in und aus einer Metaebene wie ein Deus ex machina. Diese Figuren, welche sich noch einen Rest der Einheit der Gegensätze gesichert haben, beschreiben sich oft selbst als die eigentlich interessanten und aufregenden Figuren des Dramas.
Der nächste Schritt ist die Parteinahme. Nur durch die Trennung der Gegensätze in antagonistische, unversöhnliche, kann Parteinahme möglich werden. Die Frage lautet nun: »Bist du dagegen oder dafür? Und wenn du nicht für uns bist, bist du gegen uns!“ Die andere Seite ist der Feind. Jede gute Narration hat einen guten Feind. Nur ein guter Feind macht einen Kampf attraktiv und lohnend. Es gibt Bücher vom Standpunkt der Hobbits und es gibt Bücher vom Standpunkt der Orks. Moderne Computerspiele lassen die Spieler selbst die Seite wählen. In den erfolgreichsten Spielen, dem Mensch ärgere dich nicht, dem Skat, dem Schachspiel, sind die Seiten von vornherein gleichwertig und Personen werden durch freie Wahl der Seiten zu Gegnern.
Darauf erfolgt die Symbolisierung der Trennung. Sprache, Farben und Logos werden gewählt, um sich nicht nur in Gedanken, sondern auch in der symbolischen Welt erkennen zu können. Innerhalb der Partei gibt man sich uniform, wird mehr oder weniger öffentlich identifizierbar wie die verschieden farbigen Figuren auf einem Spielbrett. »Du und ich, wir sind vom selben Blute!“ Bei Tolkien sind die Guten weiß und die Bösen dunkel.Das Böse lauert um Osten und die Hoffnung kommt aus dem Westen. Eingeborene unterstützen die Retter aus dem Westen, sind aber selbst schwach. Auch bei Disney sind die guten Mädchen blond und die bösen Hexen schwarzhaarig. Natürlich ist das rassistisch. Diese Modelle ziehen sich durch viele Fantasy-Romane, nicht nur durch den »Hobbit“ und den »Herrn der Ringe“.
Schließlich wird das Drama entwickelt: Der Kampf der verfeindeten Lager, in dem mal die eine, mal die andere Seite Massaker und Unrecht, heroische Taten und verdienstvolle Werke begeht. Gulag und Gagarin, Konzentrationslager und Autobahnen treten gegeneinander an und wie immer in der Geschichte, wenn jeder macht was er oder sie will, kommt etwas heraus, was keiner gewollt hat.
Der Schluss aber ist nicht das Ende. Ein guter Schluss ist ein Cliffhanger, die Chance für einen neuen Anfang. Das Gute ist weniger doll als erwartet, das Schreckliche noch schrecklicher als vorstellbar. Die Katastrophe geschieht, irgendwie werden alle zu Opfern nichtmenschlicher Mächte, nicht nur tausende Menschen leiden und sterben, auch die Helden opfern sich oder gehen wenigstens bis an den Rand des Möglichen und am Ende hat sich eigentlich nichts geändert, nur die Gesellschaftsordnung und irgendwo lauert noch das Böse.
Das ist ein Rezept einer erfolgreichen Narrativierung. Und das ist der letzte Grund, die tiefe Ursache für das Bedürfnis nach Dichotomien in der Philosophie. Es wäre sonst zu langweilig. Und um Langeweile zu verhindern, brauchen wir zu der richtigen Dramatisierung dieser Tragödie die Komödie, den Humor. Und außerdem rechtfertigen neue Kategorien Lehrstühle. Viele moderne Philosophietreibende sind Humoristen, manche sogar Clowns. Und einige Clowns sind wahre Philosophen.
Deshalb hat Brecht, während Andere noch über die schwierige Sprache des dunklen Philosophen stöhnten, auch erkennen können, dass Hegel, der Philosoph, ein wahrer Humorist war:
»Er hat einen solchen Humor gehabt, daß er sich so was wie Ordnung z.B. gar nicht hat denken können ohne Unordnung. Er war sich klar, daß sich unmittelbar in der Nähe der größten Ordnung die größte Unordnung aufhält, er ist soweit gegangen, daß er sogar gesagt hat: an ein und demselben Platz! (…) Die Feigheit der Tapferen und die Tapferkeit der Feigen hat ihn beschäftigt, überhaupt das, daß alles sich widerspricht und besonders das Sprunghafte, Sie verstehen, daß alles ganz ruhig und pomadig vorgeht, und plötzlich kommt der Krach. Die Begriffe haben sich bei ihm immerfort aufm Stuhl geschaukelt, was zunächst einen besonders gemütlichen Eindruck macht, bis er hintenüberfällt. Sein Buch »Die große Logik“ habe ich einmal gelesen, (…) Es ist eines der größten humoristischen Werke der Weltliteratur. Es behandelte die Lebensweise der Begriffe, dieser schlüpfrigen, unstabilen, verantwortungslosen Existenzen; wie sie einander beschimpfen und mit dem Messer bekämpfen und sich dann zusammen zum Abendbrot setzen, als sei nichts gewesen. Sie treten sozusagen paarweise auf, jeder ist mit seinem Gegensatz verheiratet, und ihre Geschäfte erledigen sie als Paar, führen Prozesse als Paar, veranstalten Überfälle und Einbrüche als Paar, schreiben Bücher und machen eidliche Aussagen als Paar, und zwar als völlig unter sich zerstrittenes, in jeder Sache uneiniges Paar! (…) Sie können weder ohne einander leben noch miteinander. (…) Den Witz einer Sache hat er die Dialektik genannt. Wie alle Humoristen hat er alles mit todernstem Gesicht vorgebracht.“(Brecht: 77/78)
Einer der schwerwiegendsten Vorwürfe gegen die Philosophie, sich nie einigen zu können, sich immer auseinanderzusetzen, sich immer auf schwankendem Boden zu befinden, entpuppt sich hier als der Glanz des Denkens, die Quelle der Bewegung und vielleicht sogar der Entwicklung. Die Quelle aber ist nicht der Ort wo das Wasser entsteht, sondern wo es an den Tag kommt. Das Wasser selbst bewegt sich in einem ewigen Kreislauf und so hat Heraklit gleichzeitig recht und unrecht, wenn er sagt:
»Wer in dieselben Flüsse hinabsteigt, dem strömt stets anderes Wasser zu.“
Recht hat er, denn es ist immer anderes Wasser, und Unrecht hat er, weil das Wasser irgendwann wieder aus dem Kreislauf der Natur kommt.
Die Beschäftigung mit dem Problem »Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?“ ist nicht durch die eventuelle Lösung oder Entscheidung interessant, sondern durch den Prozess der Lösungsfindung und die Auseinandersetzung, den Tanz von Annäherung und Entfernung, Attraktion und Repulsion, aller dieser Dichotomien, deren Diskussion, deren Leben das Denken möglich, aufregend und damit überhaupt erst möglich macht.
1 Diese Aussage wird üblicherweise nach Helena Petrovna Blavatsky (Blavatsky 1877: 428) oder François Fénelon (Fénelon; Cormack 1842: 314) zitiert. Einen direkten Verweis auf die Stelle bei Aristoteles habe ich nicht gefunden. Es kann sich also durchaus um Kolportage handeln.