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Sein oder Nicht-Sein

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»To be or not to be, that is the question: …“ Der Beginn von Hamlets Monolog wird von Schlegel übersetzt als: »Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage: …“.

Zwei Sachverhalte sind dabei interessant:

1. Die korrekte Übersetzung von Shakespeares Text müsste lauten: »Zu sein oder nicht zu sein, das ist die Frage: …“. Hamlet zeigt Seinsangst, aber er ist sich nicht sicher, dass der Tod das Nichtsein ist. Deshalb hat er auch vor dem Tod Angst:

»For in that sleep of death what dreams may come

When we have shuffled off this mortal coil

Must give us pause: …“2

Todesangst bekommt durch Hamlet einen ganz neuen Aspekt. Wir leben nur, weil wir nicht zu sterben wagen.

2. Der andere Sachverhalt ist die Aufmerksamkeit, welche dieser Satz des Monologs geweckt hat. Selbst Menschen, welche noch nie etwas von Shakespeare oder Hamlet gehört haben, sind von dieser Frage: »Sein oder Nichtsein“ berührt ins Innerste. Und wie sollte es auch anders sein: Gesund zu sein oder nicht, hier zu sein oder nicht, glücklich zu sein oder nicht, zu leben oder nicht zu leben, das sind ja wohl eindeutig wesentliche Unterschiede.

In der Literaturwissenschaft führt die Diskussion um das Verständnis von Werken in die dazugehörige Wissenschaft »Hermeneutik“: Ist es für das Verständnis wichtig, was uns der Dichter mit seinem Werk sagen wollte, oder ist es wichtig, wie das Werk auf uns wirkt?

Im Fall von Sein oder Nichtsein kommt noch eine andere Seite hinzu: Der Kontext der Produktion. August Wilhelm Schlegel lebte von 1767 bis 1845 und war damit ein Zeitgenosse von Hegel (1779-1831). Hegel war derjenige, der mit der Trennung von Sein und Nichtsein endgültig aufräumte.

Dass Schlegel und Tieck in ihrer Shakespeare-Interpretation, denn jede Übersetzung ist immer auch eine Interpretation und ein Versuch zu verstehen, so extrem am Gedanken Shakespeares vorbeigingen, kann demnach wohl ein Ausdruck dieser Diskussion sein. Dass die Leserschaft, das öffentliche Bewusstsein, diesen Satz zum ultimativen Hamlet-Satz machten, zeigt nicht nur das Interesse an der Frage sondern auch die unausgesprochene Angst gewöhnlicher Leserschaft, ja sogar die Angst Hegels selbst, vor der Konsequenz des hegelschen Denkens: der Dialektik.

An Stelle der hegelschen Dialektik und der Fähigkeit, die Ungetrenntheit von Sein und Nichtsein zu denken, damit die Bewegung erst denkbar zu machen, tritt ein gedanklicher Rückschritt zum aristotelischen gesunden Menschenverstand ein, der bis heute das öffentliche Bewusstsein prägt.

Ontologie – die Lehre vom Sein und Phänomenologie – die Lehre vom Schein, werden in der Folge führende Fächer in der Philosophie. Die Philosophie wird Hilfswissenschaft der Ökonomie und der Physik und damit wieder Metaphysik (tà metà tà physiká). Damit verschwindet aber auch das unangenehme und undenkbare Nichts aus der Diskussion und wird durch die platonisch-christliche Metastory Sein – Schein in ihren Erscheinungsformen Ideales – Reales, Phantasie – Wirklichkeit ersetzt.

Erst Heidegger bringt auf seine etwas wunderlich feige Art das Philosophieren wieder an die Bewegung heran – indem er das Sein im Gegensatz zum Seienden zum echten und einzigen Thema der Philosophie erklärt und gleichzeitig das Sein selbst als Bewegliches, verfügend über die Grundverfassung des Zeitlichen, begreift, sich aber in aller Ruhe nur der Darstellung der Wahrnehmung und der Begrifflichkeit des Scheins des Seins widmet, der Phänomenologie. (Heidegger 2005. S. 15 und 463)

Die Diskussion um Sein und Schein entspricht den direkten Verwertungsinteressen von Philosophie in der warenproduzierenden Gesellschaft. Darum wird Marx’ Beitrag zum Warenfetischismus auch immer als rätselhafte, aber gewiss gewaltige Leistung gewürdigt. Phänomenologie, Ontologie und Psychoanalyse sind damit in den letzten Jahrzehnten die Knotenpunkte gewesen, um die sich philosophisches Denken der grössten Geister rankte. Dass Philosophie zur Zeit unter dem Namen »praktische Philosophie“ auf die Begründung von moralischen Entscheidungen reduziert wird, ist nur ein weiteres Zeichen des Niedergangs geistiger Arbeit unter der Priorität des Verwertungsinteresses des Kapitals.

Erst in der Diskussion der Freiheit werden das Sein und das Nichts über die Verarbeitung Husserls und Heideggers im Werk JeanPaul Sartres wieder titelgebend. Das Nichts wird von ihm auf die Negation reduziert und in das Sein integriert, aber das rettet Sartre nicht vor der Angst vor dem Nichts und er landet bei Kierkegaard. Die Angst vor dem Tode wird über die Linie von Kierkegaard weiterverfolgt und lässt schwarze Rosen überall in der Literatur erblühen. Aus dem Nichts wird die Angst vor dem Anderen, welches in der Veränderung sich offenbaren könnte und, so stellt Garcin in »Geschlossene Gesellschaft“ schliesslich fest: » …die Hölle, das sind die Anderen.“(Sartre 1991)

Die Anderen haben den Blick, den sie auf mich werfen, sie sind mein Nicht-Ich, mein Nicht-Sein, aus dem mich ein Spiegelbild anschaut, welches ich mit mir nicht identifizieren mag, welches aber das Verhalten Anderer zu mir bestimmt. Was ich für Andere bin, bin ich nicht durch mich, oder wenigstens nicht ausschliesslich durch mich. Dieses Ausgesetzt–sein, dieses Bewertet–werden, das ist meine Hölle.

Die Entdeckung der Bedeutung von Sprache durch Freud und Wittgenstein und später, erweitert, überhaupt von Symbolumgebungen für Denken und Kommunizieren durch Levi-Strauss und Derrida lässt Lacan in Aufhebung der Sprachphilosophie die symbolische Ebene in diesen Dualismus einziehen, aus der sich das Dreieck Imaginäres – Symbolisches – Reales ergibt.

Wie kann nun diese Einheit der Gegensätze von Sein und Nicht-Sein gedacht werden? Was wird denkbar, wenn ich Sein und Nicht-Sein als Eins, Ungetrenntes denke?

Die Lösung gab, das mag für einige überraschend sein, Zenon von Elea. Zenon ist als eifriger Verteidiger der Ideen von Parmenides bekannt. Parmenides hat die Welt als unveränderliches kugelförmiges Sein beschrieben. Zenon hat in paradoxer Form eine Reihe von »Aporien“ aufgestellt. Er nahm als Ausgangsbasis seiner Argumentation an, dass die Auffassungen seiner Gegner richtig seien und bewies in einigen Schritten, das diese Aussagen zu unannehmbaren Ergebnissen führen. Damit war jeweils nachgewiesen, dass die Grundannahmen der Gegner eines unveränderlichen Seins falsch sein müssen.

So sagt Zenon nach Aristoteles’ Bericht: »Die Bewegung habe keine Wahrheit, weil das Bewegte vorher bei der Hälfte des Raumes ankommen müsste als am Ziele.“ Wenn die Welt nicht ein Ganzes, sondern unendlich teilbar sein soll, muss ein Pfeil, bevor er sein Ziel erreicht, erst die Hälfte seiner Strecke von der Bogensehne bis zum Ziel zurückgelegt haben. Bevor er aber die Hälfte diese Strecke zurückgelegt hat, muss er die Hälfte der Hälfte und so fort zurücklegen. Diese Folge geht bis ins Unendliche. Daraus folgt, dass ein Pfeil, entgegen dem Augenschein, gar nicht erst die Bogensehne verlassen kann. »Der fliegende Pfeil ruht!“ Als Diogenes von Sinope während eines Disputes zu dieser Aporie auf und ab ging, nahm ein Schüler an, dass er mit dieser Bewegung die These Zenons ad absurdum führen wolle und applaudierte. Diogenes nahm seinen Stock und verprügelte den Schüler. Diogenes war nämlich klar, was Generationen von Kolporteuren dieser Geschichte später nicht mehr klar wurde. Es ging nie um die Realität oder die Wirklichkeit von Bewegung. Daran hatte weder Zenon noch Parmenides je einen Zweifel gelassen. Es ging um die Denkbarkeit von Bewegung. Und mit diskreten Begriffen von Sein und Nichtsein, selbst bei Annahme einer unendlichen Teilbarkeit, lässt sich Bewegung nicht denken. Das hat Zenon immer wieder bewiesen. Um so interessanter ist, dass diese Variante der Geschichte erst von Hegel wieder kolportiert wurde. Andere Darstellungen der Geschichte der Philosophie beliessen es beim Spott des Diogenes.

Die Narrativierung der Geschichte der Philosophie bewegt sich immer nur im Rahmen der Denkfähigkeiten der Narratoren. Oftmals erfahren wir aus der Darstellung der Geschichte der Philosophie mehr über die Begrenztheit des Narrators als über die Größe der beschriebenen Philosophen. Diogenes Laertius ist dafür ein oft unrühmliches Beispiel.

Selbst noch Leibniz hat in seiner Monadologie kleinste Teilchen angenommen. Aus dieser Annahme hat er immerhin die Grundlagen der Infinitesimalrechnung abgeleitet und die Basis für die Rechenmethoden der Moderne gelegt. Auch unsere moderne Atomistik nimmt kleinste Teilchen an, wobei jedes Mal, wenn ein kleinstes Teilchen gefunden wurde, die Existenz eines noch kleineren Teilchens bewiesen wurde. In der Vorstellungswelt der Quantentheorie schliesslich verliert sich die Diskontinuität der Materie, die Theorie kleinster Teilchen vollends in der Spekulation und in der Ungenauigkeit, der Unschärfe. Das führt leider dazu, dass sich Esoteriker der Wortwelt der Quantentheorie bemächtigen und damit ihre eigenen Ungenauigkeiten und Unschärfen rechtfertigen.

Der philosophische Fehler besteht darin, Sein, Materie und Stoff miteinander zu verwechseln. Anti-Materie ist keine Nicht-Materie, sondern nur die Bezeichnung von einer Welt entgegengesetzt geladener Teilchen. Die Umwandlung von Materie in Energie vernichtet kein Sein, denn Energie ist ebenso Sein wie Materie. Stoffe sind ebenso wie Ideen Seiendes.

Es ist das Sein in der Zeit, was das Problem des Nicht-Seins aufdeckt, das zeigt, wo die Quelle des Problems ist. Eben noch war ich gesund, jetzt bin ich es nicht mehr, sondern krank. Eben war ich noch glücklich, jetzt bin ich es nicht mehr, sondern traurig. Eben hatte ich noch eine Idee, jetzt ist sie weg. Eben hat mein Vater noch gelebt, jetzt lebt er nicht mehr, ist tot.

Die verschiedenen Seinszustände, welche wir wahrnehmen, unterscheiden sich in der Zeit und im Raum. Unterscheiden sie sich im Raum, so haben wir eine Struktur. Unterscheiden sie sich in der Zeit, so haben wir eine Geschichte. Die Geschichte, die Schichten, sind aber auch nur strukturell erfahrbare Ablagerungen im Jetzt oder im Dasein welche als die Bewegung des Seins in der Zeit interpretiert werden.

Eine Bewegung von Schicht zu Schicht, von Residuum zu Residuum, von Artefakt zu Artefakt, vom Faustkeil zu Weltraumstation kann nur als Ungetrenntheit von Sein und Nicht-Sein, von Ich und den Anderen, gedacht werden. Heidegger spricht von »Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart als den drei Ekstasen der Zeitlichkeit, die in sich gleich­ursprünglich zusammengehören“ (Heidegger 2005: 377) Das Wort ekstatisch meint, dass »Die ursprüngliche Zeit ... in sich selbst ... außer sich“ ist. (ebd.378).

Was es ist, ist hier weniger von Belang, als wie es gedacht werden kann. Ist die Bewegung erst mal denkbar, kann über die Denkbarkeit einer gerichteten Bewegung nachgedacht werden. Ob und wie daraus Entwicklung, insbesondere Höherentwicklung gedacht werden kann, das ist nun eine andere Geschichte.

2 Was in diesem Schlaf des Todes für Träume kommen mögen/ Wenn wir diese sterbliche Hülle abgeschüttelt/ Zwingt uns zu zögern.

Huhn oder Ei?

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