Читать книгу NO auf Bildungsreise - Bernd Franzinger - Страница 6

2. Kapitel

Оглавление

Gero stemmt die Arme in die Lenden, drückt die Hüfte nach vorne und stöhnt: »Ah, mein Rücken ist schon ganz steif von dieser langen Herumsitzerei.«

»Möchtest du dir ein wenig die Beine vertreten?«, fragt NO seinen von chronischen Ischiasbeschwerden geplagten Gesprächspartner.

»Ja, das wäre toll.«

»Na, dann steh doch einfach auf und recke deine müden Glieder.«

Gero verzieht skeptisch das Gesicht. »Geht das denn?«

»Klar, wenn ich will, geht alles. Ich könnte ja durchaus mal ein bisschen nett zu dir sein, schließlich habe ich dir bereits einige Knüppel zwischen die Beine geworfen – im übertragenen Sinne, versteht sich.«

»Danke.«

»Keine Ursache. Weißt du, Gero, ich bin zwar ein Nicht-Mensch, aber kein Un-Mensch.« NO kichert wie ein pubertierendes Schulmädchen. »Also, erhebe dich von deinen vier Buchstaben und tue, was du nicht lassen kannst. Apropos lassen: Könntest du bitte mal einen fahren lassen?«

Gero unterbricht abrupt seine Dehnübungen. »Was soll ich?«, fragt er geschockt.

»Du sollst jetzt bitte furzen, pupsen, pupen oder wie immer du den geräuschvollen Abgang deiner Darmgase auch nennen magst.«

»Wie?«

»Na, wie das geht, solltest du schon selbst wissen.«

»Was?«

»Du hast mich schon richtig verstanden. Ich würde dieses Geräusch so gerne einmal hören. Ich kann ja leider nicht furzen. Nach dem, was ich gelesen habe, seid ihr Menschen zu allen möglichen akustischen Variationen fähig.«

Gero weiß nicht, was er zu dieser ungewöhnlichen Bitte sagen soll. Nervös verlagert er sein Körpergewicht abwechselnd von einem Fuß auf den anderen. Ihm wird immer unbehaglicher zumute.

»Na, was ist mit furzen?«, drängt NO.

»Benutze doch nicht andauernd dieses ordinäre Wort.«

»Furzen ist ordinär.«

»Ja, schon. Aber man muss doch wirklich nicht so ungeschminkt die Dinge beim Namen nennen.«

»Man soll also nicht die ungeschminkte Wahrheit sagen?«

Gero stimmt mit einer Kopfbewegung zu.

»Interessant«, kommentiert NO. »Okay, von mir aus: Kannst du nicht pupsen oder willst du nicht?«

»Das geht nicht auf Kommando«, schnaubt Gero ungehalten zurück. »Dazu müsste ich rohe Zwiebeln oder Bohnensuppe essen.«

»Jedes Böhnchen macht ein Tönchen, gell? Aber das haben wir gleich«, sagt NO und zaubert ein Schälchen mit feingehackten Zwiebeln und einen randvoll mit dampfender Bohnensuppe gefüllten Teller auf die Bank. »Bitte schön.«

Gero traut seinen Augen nicht. »Wie hast du denn das gemacht?«

»Soviel ich weiß, hast du als Jugendlicher keine Folge der Serie ›Raumschiff Orion‹ verpasst.«

»Stimmt.«

»Da nannte man diesen energetischen Transformationsprozess ›beamen‹. Also lassen wir es einfach bei diesem Begriff.«

Gero rümpft die Nase. »Aber ich möchte jetzt nichts essen«, weigert er sich.

NO breitet enttäuscht die Ärmchen aus. »Gut, von mir aus. Dann gehst du eben zuerst ein bisschen spazieren. Das wird deinen Appetit sicherlich anregen. Aber wenn wir zurück sind, wird gegessen und gepupst. Ist das klar?«

Gero nickt mit verknittertem Gesicht.

»Klar wie Kloßbrühe?«

»Ja«, grummelt Gero und schlendert mit hängendem Kopf los. Er schlägt den Heimweg zu seinem Haus ein.

Ein riesiger kugelrunder Mond hat sich inzwischen über die Tannenspitzen geschoben und taucht den Wald, die Lichtung und die feuchten Wildwiesen in fahles Licht. Ein Waldkauz stößt seine tremolierenden huuuu-huhuhu-Laute aus. Gero jagen eiskalte Schauer den Rücken hinunter.

NO schwebt wie eine kleine Wolke neben ihm her. Nach hundert Metern bleibt Gero stehen und wendet sich seinem außerirdischen Begleiter zu.

»Unser Gespräch war wirklich sehr interessant, NO, aber jetzt bin ich hundemüde und möchte nach Hause in mein Bett. Es war wirklich toll, dich kennenzulernen«, flötet er. »Also, tschüss, mach’s gut.« Gero erteilt seinen Beinen den Befehl, weiterzugehen, doch sie gehorchen ihm nicht.

»Danke für die Blumen, werter Erdenbürger«, entgegnet NO, der Gero nun wie ein Mond umkreist. »Aber du brauchst dich gar nicht so widerlich bei mir einzuschleimen, denn dein Bett kannst du dir getrost abschminken. Das wirst du in dieser Nacht nämlich nicht mehr sehen, schließlich habe ich noch einiges mit dir vor.«

»Und was?«, fragt Gero, dem vor Entsetzen die Kinnlade heruntergefallen ist.

»Wart’s ab. Übrigens enttäuschst du mich gerade gewaltig.«

»Wieso denn?«

»Ich habe dir doch vorhin eröffnet, dass ich die vollständige Energiekontrolle über deinen Körper besitze. Hast du das etwa schon vergessen?«

»Nein, nein«, stammelt Gero.

»Na, dann ist ja nun hoffentlich alles geklärt zwischen uns beiden.« NO saust in einem Höllentempo noch ein paarmal um Gero herum. Dann bremst er scharf ab. »Huch, war das flott.« Er summt genießerisch. »Ich lieeebe diesen Geschwindigkeitsrausch. Du auch?«

Gero bläst die Backen auf und knattert wie ein tuckernder Rasenmähermotor.

»Quatsch. Du fährst ja auch einen dieser lahmen Koreaner – das Standardauto der Gesamtschullehrer, mit dessen Kauf ihr die Arbeitnehmer der deutschen Automobilindustrie unterstützt.«

NO lässt seine Antennen tanzen. »Dafür hab ich ja auch durchaus Verständnis, denn wenn’s um den eigenen Geldbeutel geht, ist sich eben jeder zunächst einmal selbst der Nächste, gell?«

Geros Sprechwerkzeuge sind eingefroren. Hilflos muss er mit ansehen, wie er mit stocksteifen Beinen wie auf Schienen zurück zur Sitzbank gefahren wird und dort unfreiwillig Platz nimmt.

»Halb zog es ihn, halb sank er nieder«, kommentiert NO. Er wartet, bis Gero ihn anschaut, dann fragt er: »Hast du nun endlich Hunger?«

Trotzig schüttelt Gero den Kopf.

»Gut, dann unterhalten wir uns eben weiter. Ich möchte gerne noch einmal auf deine eigene Schulzeit zu sprechen kommen. Bist du damit einverstanden?«

Sein Gegenüber zuckt resigniert mit den Schultern. »Ich hab wohl keine andere Wahl.«

»So ist es«, bestätigt das gnomenhafte außerirdische Wesen, das nun plötzlich eine grellgelbe Farbe annimmt.

Gero erschrickt und verschränkt die Arme vor dem Gesicht.

»Bist wohl ein kleines Sensibelchen, was?«, spottet NO und verwandelt sein Outfit in ein sattes Orange, das er sogleich mit der entsprechenden Duftnote untermalt. »Was hältst du von diesem Geruch? Aromatisch, gell?«

Gero nickt, woraufhin NO vor Freude wie ein Ferkelchen quiekt. Gero starrt ihn irritiert an.

»Ich wundere mich ab und an selbst über die mir einprogrammierten akustischen Signale«, bemerkt der kleine Kerl lapidar. »Angeblich sind die menschlichen Geräusche ja auch nicht von schlechten Eltern. Iss jetzt endlich etwas, damit du pupsen kannst!«

»Ich hab aber doch keinen Hunger«, zeigt sich Gero weiterhin stur wie ein störrischer Esel. Er verschränkt die Arme vor dem Körper und richtet seine zu schmalen Schlitzen verengten Augen auf die nächtliche Stadt.

»Apropos Eltern, beziehungsweise Elternteil. Im konkreten Fall deine Mutter«, sagt NO.

Gero reißt den Kopf herum. Ein höllischer Schmerz fährt ihm ins Genick. Er knetet die Nackenmuskulatur und stöhnt: »Was ist mit ihr? Lass doch die arme Frau in Ruhe, die ist schon lange tot.«

»Aber damals, als du geboren wurdest, hat sie noch gelebt, nicht wahr?«

»Ja, sicher. Sie ist vor 20 Jahren gestorben, und da war ich bereits 40 Jahre alt.«

»Du warst also mal ein Kind.«

»Ja, sicher war auch ich ein Kind, als ich klein war. Was soll diese blöde Frage? Das Thema hatten wir doch vorhin schon mal«, beschwert sich Gero, dem NOs merkwürdiges Nachbohren immer mehr auf den Wecker geht.

NO ignoriert das Gezeter. »Sind eigentlich alle Menschenkinder gleich schlau?«, will er wissen.

»Wie meinst du das?«

»Verfügen alle Kinder über den gleichen Intelligenzquotienten?«

Gero schürzt genervt die Lippen. »Nein, natürlich nicht. Jeder Mensch«, er rollt die Augen, »und damit also auch jedes Kind, ist einzigartig auf der Welt.«

»Die Menschen sind also nicht gleich, wenn sie auf die Welt kommen?«

»Nein«, erwidert Gero, wobei er das Wort wie einen Kaugummi in die Länge zieht. »Jeder Mensch ist von Natur aus hinsichtlich seines Aussehens, seiner Persönlichkeit und seiner Intelligenz anders ausgestattet.«

Plötzlich reißt er beide Hände empor, so als habe er gerade eine heiße Herdplatte berührt. »Wobei die Anlagen, also die genetische Grunddisposition eines Menschen, gegenüber den Umweltbedingungen, in denen er aufwächst, eine sehr untergeordnete Rolle spielen.«

»Das heißt?«

»Das heißt, ein Mensch ist bei seiner Geburt nicht sofort das, was er später ist, sondern er wird erst zu dem gemacht, was er später ist.«

»Hm«, brummt NO. »Komplizierter geht’s nicht, oder? Wer macht was aus wem?«

Gero öffnet die Arme zu einer beschwörenden Geste. »Ganz einfach: Das Kind kommt als tabula rasa …«

»Als abgeschabte Tafel – wörtlich übersetzt«, fällt ihm NO ins Wort. »Man hat mir ein lateinisches Wörterbuch einprogrammiert.«

»Oder umgangssprachlich ausgedrückt, als unbeschriebenes Blatt zur Welt. Die Einflüsse seiner jeweiligen Umgebung – man nennt diese auch Sozialisationsbedingungen, also Eltern, Geschwister, Verwandte, Freunde, Kindergarten, Schule und so weiter formen ihn zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit.«

»Umgangssprachlich ausgedrückt: Ist die Umgebung dumm, wird auch das Kind dumm.«

»Wie dumm?«, fragt Gero verdutzt.

»Na ja, eben nicht intelligent.«

»Du redest vielleicht ein Blech zusammen.«

»Da fliegt mir gleich mein Blech weg«, feixt NO.

Gero macht ein mürrisches Gesicht. »Du immer mit deinen blöden Sprichwörtern und Redensarten.«

»Na ja, wer hat, der hat. Außerdem sind die nicht von mir, sondern von euch Menschen«, kontert NO. »Zurück zu dir: Deine Umgebung hat dich also zu dem gemacht, was du jetzt bist – ist das richtig?«

»Das kann man so sagen.«

»Du hast es ja durchaus zu etwas gebracht. Lehrer ist schließlich ein Beruf, auf den man stolz sein kann. Und nun bist du auch noch Mitarbeiter am innovationspädagogischen Indoktrinationszentrum. Noch ein Grund mehr, stolz zu sein.«

Lächelnd reckt Gero den Hals.

»Vor allem, wenn man aus einem bildungsfernen Elternhaus stammt und Vater und Mutter nur einen Volksschulabschluss vorweisen können.«

Gero hebt die Brauen. »Ich war der erste Abiturient in unserer Familie.« Er streckt den Zeigefinger in die Höhe. »Und der erste, der ein Studium abgeschlossen hat.«

»Im Gegensatz zu deinem Bruder, der nur einen Hauptschulabschluss erreicht hat und seitdem von einem Aushilfsjob in den anderen taumelt.«

Gero seufzt. »Tja, was soll man da machen? Er ist eben der geborene Versager.«

NO presst die Fäustchen fest aneinander. »Das verstehe ich nun aber nicht.«

»Was?«

»Wie kann er ein geborener Versager sein, wenn die Einflüsse der Umgebung eines Kindes so entscheidend sind für dessen Entwicklung? Ihr beide seid doch in derselben Wohnung bei denselben Eltern und so weiter aufgewachsen – und hattet damit die gleichen Sozialisationsbedingungen.«

Gero zieht grunzend die Nase hoch. »Ganz so …«

»Kannst du das bitte noch mal machen.«

»Was?«

»Na, das Geräusch wie ein Wildschwein. Das hat sich so affengeil angehört.«

»Nein«, knurrt Gero und vollendet seinen Satz: »Ganz so einfach ist das nicht, denn die Sozialisationsbedingungen sind bei Geschwistern nie ganz gleich.«

»Aber doch sehr ähnlich.«

»Ja, schon«, muss Gero mit zerknirschter Miene eingestehen.

»Und wieso hat dein Bruder es dann nicht geschafft, einen höheren Bildungsabschluss als seine Eltern zu erreichen, während du sogar studiert und den klassischen Sozialaufsteiger-Beruf ›Lehrer‹ gewählt hast?«

Da sein Nebenmann schweigt, fährt NO fort: »Übrigens belegen empirische Studien, dass gerade Lehrer, die wie du aus einem bildungsfernen Elternhaus stammen und den sozialen Aufstieg geschafft haben, stark dazu neigen, ihr eigenes Herkunftsmilieu zu verleugnen und zu stigmatisieren.«

»Was du so alles behauptest.«

»Mit fatalen Folgen, denn ausgerechnet diese Lehrer verhindern den sozialen Aufstieg derjenigen Schüler ihrer Klasse, die aus der Arbeiterschicht stammen – und die sie doch eigentlich besonders fördern sollten«, legt der kleine Knirps nach.

»Quatsch.«

»Am liebsten möchten sie diese Schüler überhaupt nicht unterrichten, weil sie mit deren gesellschaftlichem Background nichts mehr am Hut haben wollen. Ja, nicht selten verachten sie diese Schüler sogar wegen ihrer sozialen Herkunft.«

»Jetzt redest du aber total wirres, unverständliches Zeug.«

»Finde ich zwar nicht, aber gut: Zurück zu deinem Bruder. Wieso hast du es geschafft und er nicht?«

»NO, du gehst mir gewaltig auf den Keks mit deiner ewigen Bohrerei.«

»Bei dir muss man leider dicke Bretter bohren. Also, weich nicht aus, sondern beantworte lieber meine Frage! Wieso?«

»Ach Gott, bist du eine Nervensäge«, schimpft Gero. »Gut, dann sage ich es eben in aller Deutlichkeit: Weil ich willensstärker und intelligenter bin als diese Pfeife.«

»Und das hast du deiner Umwelt zu verdanken?«

Sichtlich genervt schleudert Gero eine Hand in NOs Richtung. »Ach, lass mich doch in Ruhe.«

»In der Ruhe liegt die Kraft«, meint NO trocken. »Komm, erzähl mir noch ein bisschen was über deine Kindheit und über deine Schulzeit. Vielleicht wirst du dann ja wieder etwas lockerer. Also los! Beginnen wir mit deinem ersten Schultag.«

Gero wirft NO einen bösen Blick zu und schweigt demonstrativ. Doch nach einer Weile entspannen sich seine verkrampften Gesichtszüge, und ein Lächeln umspielt seinen Mund. »Mein erster Schultag war das totale Fiasko.«

»Wieso?«

»Wir wurden damals nach den Osterferien, also im April, eingeschult. Heutzutage beginnt das neue Schuljahr im späten August oder im September«, fügte er erläuternd hinzu.

Gero lacht: »Nebenbei bemerkt: Wegen zweier Kurzschuljahre habe ich im Mai, also nach nur acht Jahren Gymnasium mein Abitur gemacht. Eine unfreiwillige G8-Turbo-Schulzeit, wenn man so will.«

NO verzieht keine Miene, denn er weiß mit dieser Information nichts anzufangen. Deshalb paraphrasiert er: »Also nach den Osterferien war dein erster Schultag.«

»Ja, und der ging wirklich total in die Hose. Für das Klassenfoto mussten wir uns mit unseren schweren Schultüten im Hof aufstellen – direkt unter einer blühenden Birke!« Gero blickt NO erwartungsvoll an. Doch der kleine Kerl versteht nicht, worauf er hinauswill.

Deshalb schiebt Gero erläuternd nach: »An diesem Tag wurde mir zum ersten Mal schmerzlich bewusst, dass ich Allergiker bin und unter starkem Heuschnupfen leide. Die blöden Birkenpollen haben mir derart zugesetzt, dass ich einen schweren Asthmaanfall bekam und sogar ins Krankenhaus musste.« Er lächelt und schüttelt den Kopf. »Das war mein erster Schultag.«

»Aber du warst doch nicht ewig krank.«

»Nein, natürlich nicht. Gleich am nächsten Tag bin ich dann wieder in der Grundschule angetreten, diesmal allerdings ohne Schultüte.« Gedankenversunken reibt sich Gero den Handrücken.

»Erzähl doch einfach mal munter drauflos, was dir gerade so einfällt«, fordert NO.

Gero schaut ihn fragend an: »Wo soll ich denn da anfangen?«

»Schließ die Augen und warte, bis ein Bild in deinem Kopfkino erscheint.«

Gero tut, wie ihm geheißen. »Das gibt’s doch gar nicht, meine alte Fibel«, stößt er kurz darauf begeistert aus. »Die hatte ich ja ganz vergessen.«

»Was ist eine Fibel?«

»Ein Buch, mit dem man in der Schule lesen lernt.«

»Beschreib mal ihr Aussehen.«

»Die Fibel ist bunt, sehr bunt. Kein Wunder, denn sie heißt ›Meine bunte Welt‹. Der Buchdeckel erinnert an ein Gemälde der naiven Malerei. Drei Kinder sitzen auf einer Holzbank. Das sind Hans, Heiner und Elsa.«

»Woher weißt du, wie die Kinder heißen?«

»Weil sie mir das Lesen beigebracht haben. Die drei haben uns damals durch das gesamte erste Schuljahr begleitet«, erläutert Gero. »Jeder Satz, jede kleine Geschichte hat sich um diese drei Geschwister gedreht.« Er lacht. »Einer meiner Lehrerkollegen hat seine eigenen Kinder tatsächlich Hans, Heiner und Elsa getauft.«

»Und sie selbstverständlich auch nicht an einer Gesamtschule, sondern an einem Gymnasium angemeldet«, kann sich NO nicht verkneifen. »Was ist noch auf dem Buchdeckel?«

Man sieht Gero an, dass es in ihm brodelt. Doch er beherrscht sich und antwortet: »Hinter den Kindern stehen Bäume mit dunkelgrünen Blättern, auf denen Vögel und ein Eichhörnchen sitzen. Zwischen den Ästen lächelt eine orangegelbe Sonne auf die Kinder herab.«

Gero räuspert sich und fährt anschließend fort: »Außerdem sehe ich eine Katze, einen Hasen, einen Igel und einen Hahn. Der buntgefiederte Gockel sitzt wie ein Wachtposten auf einem Gartentürchen. Auf der hellgrünen Wiese liegen eine Puppe, ein Schubkarren und eine Schiefertafel herum, auf der ›ABC‹ in Schreibschrift steht.« Er seufzt ergriffen. »Lustig, dieses Relikt aus glücklichen, unbeschwerten Kindertagen.«

»Du würdest also deine Kindheit als glücklich bezeichnen?«

»Ja, das kann ich guten Gewissens behaupten.« Er schnippt mit den Fingern. »Zum Thema ›ABC‹ fällt mir gerade noch etwas Lustiges ein: Kurz nach der Einschulung bin ich an Keuchhusten erkrankt und musste sechs oder acht Wochen zu Hause bleiben. Meine Mutter hat die Zeit genutzt und mit mir die Buchstaben des Alphabets gelernt. Ich war total happy, als ich wieder in die Schule durfte. Voller Stolz habe ich das ABC aufgesagt.«

Gero klatscht sich auf die Oberschenkel. »Und dann eröffnet mir diese blöde Lehrerin doch tatsächlich, dass ich alles total falsch gelernt hätte. Die einzelnen Buchstaben würde man ganz anders aussprechen. Was glaubst du wohl, wie geschockt ich damals war.«

»Diesen Schock scheinst du ja inzwischen gut verkraftet zu haben«, bemerkt NO unbeeindruckt. »So, und nun schließt du wieder deine Äuglein und konzentrierst dich intensiv auf deine Grundschulzeit.«

Gero gehorcht.

»Welches Bild siehst du auf deiner inneren Leinwand?«

»Mein altes Schreibheft. Ich glaub es einfach nicht«, freut sich Gero. »Stundenlang mussten wir Buchstaben da reinmalen. Immer und immer wieder diese Dächer.«

»Dächer?«

»Pass mal auf«, sagt Gero. Mit der Schuhspitze zeichnet er mehrere Reihen des Buchstabens ›U‹ direkt untereinander in den weichen Sand. »Sieht das nicht aus wie ein Hausdach?«

»Na ja, mit viel Fantasie«, erwidert NO und kichert blechern. »So habt ihr also schreiben gelernt.«

»Und lesen und rechnen. Damals gab es ja nichts anderes als diese völlig bescheuerte Nürnberger-Trichter-Didaktik, die aus Frontalunterricht und stumpfsinnigem Üben und Auswendiglernen bestand. Heute dagegen betrachtet die moderne, schülerzentrierte und handlungsorientierte Unterrichtsdidaktik den lehrerzentrierten Frontalunterricht als ein antiquiertes Auslaufmodell, das …«

»Wenn alles pennt und einer spricht, dann nennt man das Frontalunterricht«, wirft NO ein.

»Du hast es erfasst«, lobt Gero. »Nein, nein, heute finden wir gottlob in den Gesamtschulen kaum mehr Frontalunterricht vor, sondern Team-Teaching-Modelle und fächerübergreifenden Gruppenunterricht, der immer stärker vom Einsatz moderner Medien geprägt wird. Die Integrierten Gesamtschulen sind die Speerspitzen dieser revolutionären Entwicklung.«

»Aber bei dir scheint diese altmodische Nürnberger-Trichter-Didaktik doch ganz gut funktioniert zu haben, sonst hättest du es wegen deines bildungsfernen Elternhauses wohl nicht so weit gebracht, oder?«

»Das kann man schwer vergleichen. In meiner Schulzeit kannte man ja nichts anderes als diesen lehrerzentrierten Unterricht. Deshalb mussten wir alle damit zurechtkommen, ob wir das nun wollten oder nicht.«

Gero hebt die Schultern. »Na ja, wir haben uns wohl oder übel mit der Kathederpädagogik und dieser schwachsinnigen Paukerei arrangiert.«

»Die einen mehr, die anderen weniger.«

»So ist es.«

»Du mehr, dein Bruder weniger.«

»Leider. Bei dem war«, Gero tippt mit einem Finger an seine Stirn, »da oben eben geistige Ebbe.«

»Tja, wenn Ebbe ist, macht es keinen Sinn, Wasser ins Meer zu pumpen«, bemerkt NO altklug. »Bitte erzähl noch mehr aus deiner Schulzeit«, bettelt er und zwinkert herzerweichend mit seinen großen Kulleraugen.

Gero presst nachdenklich seinen Atem durch die Nase. »Wir saßen damals alle paarweise hintereinander in fest zusammengeschraubten Bänken. Das musst du dir einmal vorstellen, NO. Die haben uns kleine Kinder in diese hölzernen Folterinstrumente hineingepfercht. So etwas ist heutzutage Gott sei Dank undenkbar.«

»Apropos denken. Ich denke, du bist schon vor ewigen Zeiten aus der Kirche ausgetreten, wieso bedankst du dich dann andauernd bei Gott?«

Gero macht eine abwiegelnde Handbewegung. »Ach, das ist doch nur so eine Floskel.« Mit einem schalkhaften Lächeln dreht er den verbalen Spieß um: »Apropos Gott. Gibt es ihn nun, oder gibt es ihn nicht? Wenn du wirklich einen IQ von 500 hast und aus dem tiefen Weltall kommst, müsstest du mir diese Frage doch eigentlich beantworten können.«

»Können schon, aber nicht wollen.«

Gero legt die Handflächen aneinander und fleht den kleinen Außerirdischen an. »Bitte sag es mir.«

»Deus est sphaera infinita, cuius centrum est ubique, circumferentia nusquam.«

»He?«, ist alles, wozu Gero fähig ist.

»Ja, hast du denn in der Schule nicht Latein gelernt?«, fragt NO verwundert.

»Keine zehn Pferde hätten mich dazu gebracht, mir das Herrschaftswissen des reaktionären Bürgertums anzueignen.« Angewidert spuckt Gero auf die Erde.

»Übersetzung gefällig?« Als Gero nicht reagiert, fährt NO fort: »Gott, das ist die unendliche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist.«

NO macht eine entschuldigende Geste. »Leider ist dieser superschlaue Spruch nicht von mir. Er findet sich im Buch der 24 Philosophen. Aber wie ich dich kenne, hast du noch nie etwas von diesem Buch gehört. Stimmt doch, oder?«

»Ja, und?«, giftet Gero zurück.

»Du solltest dich dringend mit der Philosophie beschäftigen. Zumal einige deiner Zeitgenossen behaupten, dass die Erkenntnisse der antiken Philosophen im Hinblick auf Schulpädagogik und Kindererziehung nach wie vor gültig seien.«

»Alles Unsinn! Philosophie ist nichts als Dummschwätzerei. Ich dagegen bin mit Haut und Haaren Pragmatiker!« Gero reckt eine Faust zum schwarzgrauen Himmelsgewölbe empor. »Es lebe der Pragmatismus. Ich …«

»Stopp! Mir wird gerade ein Zitat eingespielt. Es stammt von Platon und ist somit über 2000 Jahre alt:

Wenn Väter

ihre Kinder gewähren lassen und

sich vor ihnen geradezu fürchten,

wenn Söhne

ohne Erfahrung handeln wollen wie die Väter,

sich nichts sagen lassen, um selbständig zu erscheinen,

wenn Lehrer,

statt ihre Schüler mit sicherer Hand auf den sicheren Weg

zu führen, sich vor ihnen fürchten und staunen,

dass ihre Schüler sie verachten,

wenn die Alten

sich aber unter die Jungen setzen und versuchen

sich ihnen gefällig zu machen, indem sie Ungehörigkeiten

übersehen oder gar an ihnen teilnehmen,

damit sie nicht als vergreist oder autoritätsgierig erscheinen,

wenn die auf diese Weise verführte Jugend

aufsässig wird, sofern man ihr

nur den mindesten Zwang auferlegen will,

weil niemand sie lehrte, die Gesetze zu achten,

ohne die keine Gemeinschaft leben kann,

dann ist Vorsicht geboten.«

Gero schürzt die Lippen. »Verstehe den Zusammenhang nicht.«

»Ich auch nicht«, stimmt NO zu. »Mir ist manchmal schleierhaft, warum ich bestimmte Sätze und Zitate eingespielt bekomme«, ergänzt er.

»Dann bist du also ferngesteuert?«

»Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß«, sagt NO mit wippenden Antennen.

Gero fixiert die körperfarbenen Fühler, die inzwischen wieder zum Stillstand gekommen sind. »Über diese Dinger hältst du also Kontakt zu deinem Planeten.«

»Vergiss es einfach, Erdenmensch. Du wirst unsere Kommunikationslogistik nicht verstehen. Kehren wir lieber zu deiner Grundschulzeit zurück. Du hast vorhin erzählt, dass damals, als du krank warst, deine Mutter mit dir das Alphabet gelernt hat. Hat sie auch sonst mit dir gelernt?«

Gero stöhnt. »Na klar. Jeden Tag hat sie mit meinem Bruder und mir gepaukt. Jeden Tag hat sie zuerst die Hausaufgaben kontrolliert und uns dann Gedichte, Liedstrophen und Psalmen abgehört. Oder sie hat uns Texte diktiert, die wir dann solange schreiben mussten, bis sie fehlerfrei waren.«

Er grinst spöttisch. »Und später hat sie uns sogar englische Vokabeln abgehört, obwohl sie ja nur die Volksschule besucht hat und nie Englisch lernte. Sie hatte so eine grottenschlechte Aussprache. Ich hab sie deswegen andauernd ausgelacht, aber sie hat mir trotzdem keine Ruhe gelassen.«

Gero presst die Zähne so fest aufeinander, dass sich unter seiner Wangenhaut die Kaumuskeln wie kleine Hügel abzeichnen. »Immer dieses bescheuerte, stumpfsinnige Auswendiglernen. Ach Gott, hat mich das damals angeödet!«

»Lernen sollte eben Spaß machen.«

»Du hast es kapiert, NO. Nur in den modernen Spiel-und Spaß-Grundschulen erwerben die Kinder Lerninhalte, die sie auch dauerhaft präsent haben werden. Und nicht wie wir nur dieses eingetrichterte Pseudowissen, das man sofort nach der nächsten Klassenarbeit wieder vergessen hat.«

»Ihr habt doch bestimmt auch unnötiges Zeug in Erdkunde pauken müssen, nicht wahr?«

»Ja, sicher mussten wir uns allen möglichen geographischen Unsinn in die Birne hineindrücken.«

»Hauptstadt von Argentinien?«

Gero verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Machen wir jetzt ein Wissensquiz, oder wie?«

»Frage nicht, beantworte meine Fragen.«

»Okay. Buenos Aires.«

»Von Georgien?«

»Tiflis.«

»Indonesien?«

»Jakarta.«

»Höchster Berg der Erde?«

»Mount Everest.«

»Höhe?«

»8800 Meter und ein paar Zerquetschte.«

»8848«, korrigiert NO. »Höchster Berg Europas mit Höhenangabe.«

»Mont Blanc, circa 4600 Meter.«

»Du schwächelst: 4808.«

»Nenne mir drei afrikanische Flüsse.«

Gero kratzt sich an der Stirn. »Sambesi, Nil, Kongo, Niger.«

»Sehr gut, sogar einer mehr«, lobt NO. »Wann habt ihr diesen Lernstoff in der Schule durchgenommen?«

Grübelnd schiebt Gero die Unterlippe vor und kratzt sich am Hals »Na ja, irgendwann in der Mittelstufe wird das wohl gewesen sein. Ich schätze mal in der 6. oder 7. Klasse.«

»Wie alt warst du damals?«

Gero kippt den Kopf ein wenig schräg. »12 oder 13 Jahre.«

»Also vor 50 Jahren.«

»Ja, so ungefähr.«

»Und dann weißt du das alles heute noch so genau? Vorhin hast du doch behauptet, du hättest immer nur stumpfsinnig für die nächste Klassenarbeit gepaukt und gleich danach alles wieder vergessen.«

»War ja auch so«, beharrt Gero. »Ich verfüge eben über ein sehr gutes Allgemeinwissen.« Er grinst breit. »Und das habe ich mir nicht in der Schule, sondern im Laufe meines späteren Lebens angeeignet.«

NO reagiert nicht auf diese Behauptung. »Nun die Masterfrage: Übersetze das deutsche Verb ›verstehen‹ ins Französische und konjugiere es.«

»Auch das ist nicht schwer«, tönt Gero selbstbewusst: »Das Verb heißt ›comprende‹ und wird folgendermaßen konjugiert: je comprends, tu comprends, il comprend, nous comprenons, vouz comprenez, ils comprennent.«

»Wow – 100 Punkte«, ruft NO und klopft die Fäustchen aneinander. »Lehrstoff welcher Klassenstufe?«

»Etwa 7. Klasse«, spekuliert Gero.

»Ist also auch schon circa 50 Jahre her.«

»Na ja, ich hab eben seitdem ein paarmal in Frankreich Urlaub gemacht.«

»Und in Afrika auch?«

»Nee, da war ich noch nie. Wieso?«

»Weil du die Flüsse gewusst hast.«

»Ich hab eben eine breite Allgemeinbildung.«

»Ach so«, sagt NO und springt wie ein Hüpfball auf der Bank herum.

»Was’n los mit dir?«

»Nichts Besonderes, ich freue mich nur«, juchzt NO. »Du solltest dich auch öfter freuen. Freude ist nämlich etwas ganz, ganz Tolles! ›Ein Leben ohne Freude ist wie eine weite Reise ohne Gasthaus‹. – Zitat von Demokrit, geboren vor 2500 Jahren.«

Gero grunzt amüsiert. »Du bist schon ein wundersamer kleiner Kerl.«

»Wunder gibt es immer wieder, heute oder morgen können sie geschehn. Wunder gibt es immer wieder, wenn sie dir begegnen, musst du sie auch sehn«, singt NO und dreht sich dabei im Kreis.

»Ich wundere mich auch gerade – und zwar über dich«, sagt der kleine Außerirdische, nachdem er seine Körperrotation wieder zum Stillstand gebracht hat.

»Wieso?«

»Na ja, weil du ›comprendre‹ richtig konjugieren kannst, aber trotzdem nichts verstehst.«

»Ich weiß nicht …«

NO fällt ihm ins Wort: »Ich weiß, dass ich nichts weiß – hat der griechische Philosoph Sokrates behauptet. Und ich weiß, dass du nichts weißt.«

Anschließend verschwindet NO-120856 genauso plötzlich, wie er aufgetaucht ist.

NO auf Bildungsreise

Подняться наверх