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EIN AMERIKANISCHER WEIHNACHTSMANN

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Eine Weihnachtsgeschichte

Von Zeit zu Zeit besuche ich die Erde gerne. Nicht allzu oft, dazu ist es mir da unten zu hektisch geworden, aber hin und wieder. Zum Beispiel so um die Weihnachtszeit herum. Nicht an den Feiertagen selbst, da bin ich immer noch beschäftigt. Natürlich nicht mehr aktiv, aber in beratender Funktion. Und damit bin ich voll ausgelastet. Sie glauben gar nicht, was für dumme Fragen einem die jüngeren Kollegen stellen. Obwohl ich zugeben muss, dass der Job erheblich komplizierter geworden ist, seit damals. Die Zeiten haben sich geändert und es ist keinesfalls alles besser geworden. Ich will jetzt nicht behaupten ‚im Gegenteil‘, und vieles ist ja auch besser geworden, aber gerade so um die Weihnachtsfeiertage … ich weiß nicht.

Es war Mitte Dezember und alle Welt war mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt oder dem, was ihre Bewohner dafür hielten. Weil ich Lust verspürte, ein wenig umherzureisen, begab ich mich in einen Zug, der irgendwo durch die verschneite Landschaft im Nordosten Amerikas umherirrte, und genoss die Aussicht. Es war einer dieser kleinen anachronistischen Bummelzüge, der in fast jedem Städtchen hielt und nicht für eilige Reisende geeignet war. Der Zug war alles andere als voll, offenbar gab es nur noch wenig nichteilige Reisende.

So lernte ich Henry Miller an einem trüben Dezemberabend in einem ebenso trübe beleuchteten Eisenbahnabteil kennen, wo er, seine erkaltete Pfeife schmauchend, kopfschüttelnd versuchte, einige Akten zu studieren. Seine Eltern stammten aus Deutschland und waren nach dem Zweiten Weltkrieg ausgewandert. Er hieß eigentlich Heinrich Müller. Der abgeänderte Name, so hoffte er, würde mehr angelsächsischunternehmerisch klingen. Gebracht hatte es eigentlich nichts und seine Eltern, die schon vor langer Zeit gestorben waren, hatten ihn nie verstanden.

Er war ungeduldig und nicht gerade in einer friedlichen Vorweihnachtsstimmung. Er projizierte seinen ganzen Unmut in eine Welt, die er immer öfter nicht mehr verstehen konnte. „Ich möchte mal wissen, was schon wieder mit der Beleuchtung los ist“, schimpfte er und blickte über seine Brillengläser zu mir herüber. Wir waren allein im Abteil, daher war diese Bemerkung unmissverständlich an mich gerichtet, und ich wusste wohl, dass hier einer auf ein Gespräch aus war.

Daher antwortete ich: „Nehmen Sie es von der leichten Seite, das Dämmerlicht passt doch gut zu dieser Jahreszeit, man kann so schön die Landschaft an sich vorüberziehen lassen. Schauen Sie nur.“

Wir fuhren gerade langsam durch einen hell erleuchteten Kleinstadtbahnhof. Das Bahnhofsgebäude wurde links und rechts von zwei hohen Tannen eingerahmt, die durch zahlreiche bunte Lichterketten beleuchtet wurden.

„Was soll denn daran schön sein, können Sie mir das mal sagen?“, war die prompte Antwort. „Alles ist doch nur noch Geschäftemacherei, das kennt man doch. Weihnachten, du lieber Himmel, da ist vom ursprünglichen Sinn des Festes doch nichts mehr übriggeblieben.“

„Na ja“, erwiderte ich, „das liegt doch wohl bei Ihnen. Ich kann diese Phrasen nicht mehr hören. Ich weiß auch nicht, was Sie unter dem ursprünglichen Sinn des Festes verstehen. Sehen Sie, viele tragen das, was sie als Sinn eines solchen Festes der Nächstenliebe erkennen, sehr wohl in sich, aber sie verstecken es sorgfältig vor anderen, vor allem aber vor sich selbst. Sie haben Angst, dass es jemand finden würde. Sie haben Angst davor, dann zurückgestoßen zu werden. Angst davor, dass die sorgfältig aufgebaute ‚mir kann keiner‘- und ‚was geht mich der ganze Rummel an‘-Fassade abbröckelt. Sie sind allein, auch und gerade in der Menge, die vor solchen Festtagen in unseren überfüllten Städten die Anonymität der geschäftig eilenden Menschen erst so richtig hochkommen lässt. Wissen Sie, was das Geheimnis ist? Ich bin ganz sicher, dass die meisten Leute viel lieber nett zu ihren Mitmenschen wären, man gibt ihnen bloß keine Gelegenheit dazu. Verstehen Sie, man muss dem anderen mal wieder eine Gelegenheit geben, nett zu sein. Und was eignet sich dazu besser als das Weihnachtsfest?“

Mein Gegenüber schwieg, starrte mit halb geschlossenen Augen durch das etwas beschlagene Abteilfenster und wölbte mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand die Unterlippe vor. Er schien überrascht ob meiner mit großem Ernst vorgetragenen Rede, ich hatte ihn, glaube ich, auf dem falschen Fuß erwischt, wie man heute sagt.

„Hören Sie“, fuhr ich fort, „Sie scheinen mir keine besonders gute Laune zu haben. Ich werde Ihnen darum mal eine Weihnachtsgeschichte erzählen. Das passt schließlich in die Zeit, egal wie Sie über Weihnachten denken. Sie handelt davon, warum die Weihnachtsmänner in Amerika immer ‚Ho, ho, Merry Christmas‘ rufen, immer ‚Ho, ho‘, ‚Ho, ho‘. Haben Sie sich mal gefragt, warum sie das machen? Nun, hören Sie gut zu:

Bekanntlich treffen sich die Weihnachtsmänner dieser Erde alle fünfzig Jahre auf einer großen Wiese vor einem Seiteneingang der Himmelspforte, um Gottvater Bericht zu erstatten und sich untereinander auszusprechen. Die Zusammenkunft, über die ich berichten möchte, liegt schon etwa zweihundert Jahre zurück, doch sie ist eine der denkwürdigsten in der Geschichte der Treffen der Weihnachtsmänner überhaupt.

Wie man sich denken kann, war die Tagesordnung immer randvoll, denn viele wichtige Sachen mussten besprochen und erörtert werden und manche Dringlichkeitsanträge – die vor allem von den Kollegen, die in den heißeren Ländern arbeiteten, wegen der armen Kleidung formuliert worden waren – hatten schon vor Beginn zu heftigen Diskussionen geführt. Da kamen viele stolze Gesellen zusammen, große und kleine, alte und junge, man konnte die Zahl der prächtigen weißen Bärte und weißen Locken, die aus den roten Mützen hervorquollen, nicht zählen. Übrigens: Die Lebenserwartung der Weihnachtsmänner ist ein gut gehütetes Geheimnis und wird es auch bleiben, denn wer kann da schon, wo allein der Glaube reiner Herzen entscheidet, Voraussagen machen.

Immer wieder gab es laute und rührende Begrüßungsszenen. Man klopfte sich auf die Schulter, umarmte, herzte und küsste sich und viele schämten sich ihrer Tränen nicht. Wie bei den vorausgegangenen Treffen herrschte zu Beginn ein großes Durcheinander und man konnte mal wieder nicht pünktlich mit der Tagesordnung beginnen, weil Ordnung und Disziplin nicht angesagt waren, obwohl sie selbst es von ihren Klienten in aller Welt erwarteten. Erst als es Gottvater zu bunt wurde und er ein paar kräftige Blitze gefolgt von gewaltigem Donner auf die Versammlung herabschleuderte, besann man sich und wurde ruhiger. Er hatte dies von einem Kollegen namens Zeus übernommen und hasste eigentlich solche Kunststückchen.

Heute stand als wichtigster Punkt die Wahl eines Weihnachtsmannes für die Amerikaner auf der Tagesordnung. Schon im Vorfeld hatte es Unruhe gegeben. ‚Wozu brauchen ausgerechnet diese Weihnachtsmänner einen Weihnachtsmann?‘, ereiferte sich einer. ‚Wisst ihr, wie diese Banausen unser schönes Weihnachtsfest nennen? X-mas Day, es ist nicht zu glauben, X-mas Day, da hört sich doch wirklich alles auf.‘

Gottvater schien etwas nervös zu sein, er fummelte ständig an seinem obersten Kragenknopf herum und wischte sich einige Male verstohlen mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

‚Meine Herren, ich muss doch sehr bitten‘, sagte er, ‚Sie können doch nicht allen Ernstes wollen, dass wir den Amerikanern keinen Weihnachtsmann schicken.‘

Er hat übrigens gar keine so tiefe und sonore Stimme, wie man es sich immer wieder gerne vorstellt. Sie ist vielmehr seltsam hoch und klingt weich und unendlich sanft. Obwohl er sich manchmal des Donners bedienen muss, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen, wenn er erst einmal spricht, werden seine Worte noch in den entferntesten Winkeln seines Himmels vernommen, getragen von den Äolsharfen seiner Engel.

Bevor die Diskussion neu aufflammte, sprach er weiter: ‚Da ist noch eine Kleinigkeit, meine Herren‘, er zögerte etwas, ‚und ich weiß nicht recht, wie ich es Ihnen sagen soll. Nun, also, die Amerikaner möchten gerne, dass ihr Weihnachtsmann durch den Kamin kommt.‘ Doch das hatte er kaum ausgesprochen, da brach ein regelrechter Tumult los.

‚Was möchten die gerne?‘, ‚Ja spinnen die denn?‘, ‚Sonst haben die wohl keine Wünsche?‘, ‚Was geschieht hinterher mit den dreckigen Klamotten?‘, ‚Die haben wohl nicht mehr alles auf dem Christbaum?‘, und so weiter.

Hier unterbrach Gottvater die Kakophonie empörter Stimmen und schmunzelte: ‚Womit wir wieder beim Thema wären, meine Herren: Ich möchte noch hinzufügen, dass ich einen Kandidaten mit einer besonders wohlklingenden, klangvollen Stimme bevorzugen würde. Ihr wisst doch, ihr müsst da unten immer wieder Hosianna, Hosianna – hilf doch – rufen. Und das sollte besonders laut und eindringlich verkündet werden, denn es sind gar viele, die da unten unsere Hilfe brauchen. Ach ja, und zu dick darf er natürlich auch nicht sein, sonst kommt er nicht durch den Kamin. Wenn ich mich allerdings so umschaue, schränkt das den Kreis der Kandidaten erheblich ein.‘ Er schmunzelte vergnügt vor sich hin.

Durch das verlegene Gemurmel wohlgenährter Weihnachtsmänner ertönte eine Stimme: ‚Wenn kein anderer möchte, ich würde gerne ein Weihnachtsmann für die Amerikaner sein.‘

Alle blickten sich nach dem Sprecher um, der verlegen aufgestanden war und langsam nach vorne ging. Als er vor Gottvater stand, musterte dieser ihn beifällig. Alles schien zu stimmen: Er war ein besonders schöner, stattlicher Geselle, groß gewachsen, schlank und rank, mit einem herrlichen weißen Bart, die aus der Kapuze hervorquellenden Locken sorgfältig gekämmt. Der wäre schon was, dachte Gott bei sich und sagte laut: ‚Nun, mein Sohn, wenn du dir die Aufgabe zutraust, so soll es mir recht sein. Lass mal deine Stimme hören und rufe Hosianna.‘

‚Ho… Ho… Ho… Ho…‘, stotterte der so Angesprochene, ‚Ho… Ho…‘, und wurde vor Anstrengung und Aufregung ganz rot im Gesicht. Homerisches Gelächter machte sich breit. Man schlug sich auf die Schenkel, stand auf und lief grölend im Kreis herum, Lachtränen flossen die Wangen herunter und benetzten die würdigen weißen Bärte, kurz, es war ein Tollhaus. Bis ein gewaltiger Donner dem unwürdigen Treiben ein Ende machte und alle verlegen wieder ihre Plätze einnahmen.

‚Schämt ihr euch nicht?‘, rief Gottvater empört. ‚Ich lasse es nicht zu, dass ihr aus meinem Himmel ein Tollhaus macht. Ich werde …‘

‚Aber Herr‘, wurde er unterbrochen, ‚wenn du diesen Weihnachtsmann auf die Erde schickst, ist das Fest längst vorüber, bevor der einmal Hosianna gerufen hat.‘ Der so gescholtene zog seinen Kopf ein, ganz so, als wollte er ihn in seinem langen weißen Bart verstecken, so sehr genierte er sich.

‚Ich wäre so gerne ein Weihnachtsmann für die Amerikaner geworden‘, sagte er traurig. ‚Ich habe auch immer nur Schwierigkeiten mit Wörtern, die mit Ho anfangen, immer nur mit Ho. Aber ich sehe es ein: Was soll ein Weihnachtsmann da unten, der nicht einmal Ho… Ho… Ho… na, ihr wisst schon was, rufen kann?‘

Als er sich davonschleichen wollte, tat er vielen leid, die sich inzwischen schämten, weil sie ihn so lauthals verspottet hatten. Gottvater aber gebot ihm zu bleiben und sagte mit eindringlicher Stimme: ‚Meine Botschaft wird nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit dem Herzen verkündet. Und da ich in dein Herz sehen kann, weiß ich, dass du ein guter Botschafter sein wirst. Außerdem wird es den Amerikanern gar nicht auffallen, wenn du statt Hosianna nur Ho rufst. Sie erfinden ohnehin ständig die unsinnigsten Abkürzungen.‘ Und dann wandte er sich wieder den anderen Weihnachtsmännern zu: ‚Ihr aber, meine Herren, könntet ruhig etwas mehr vor der Botschaft im Herzen tragen, die ihr den Menschen verkünden sollt.‘

Die so Angesprochenen blickten verlegen vor sich hin. Schließlich standen einige auf und gingen auf den Kollegen zu, den sie so verspottet hatten. Sie klopften im ermutigend auf die Schulter und meinten, er würde sicher einen guten Weihnachtsmann für die Amerikaner abgeben. So erreichte die weihnachtliche Friedensbotschaft auch alle die wieder, welche sie verkündigen sollten.“

Hier brach ich ab. Eine Weile schwiegen wir. Mein Gegenüber beugte sich etwas vor und blickte auf seine Schuhspitzen, mit denen er nervös auf und ab wippte. „Zu Beginn sind Sie mir mit Ihrer Geschichte ja ganz schön auf die Nerven gegangen“, meinte er, „aber dann …“ Er nahm seine Brille ab und blinzelte mir zu: „Ich verstehe, was Sie meinen, aber …“ Er schaute wieder auf seine Schuhe.

Ich unterbrach ihn: „Ich bin noch nicht ganz fertig. Sie sind doch mittlerweile so ein richtiger Amerikaner – zwar erst in der zweiten Generation, aber immerhin – und haben sich, wie die meisten Ihrer Landsleute, wohl kaum je darüber Gedanken gemacht, was es mit diesem ‚Ho, ho‘ auf sich hat. Ihre neuen Landsleute haben im Laufe der Zeit so viele verrückte Kürzel erfunden, dass man gar nicht mehr nachkommen kann, um nach dem ursprünglichen Sinn zu fragen. Aber wenn Sie immer nur an allem rummeckern und alles ins Negative ziehen und mit nichts, aber auch gar nichts, was um Sie herum geschieht, etwas zu tun haben wollen, werden Sie an sich selbst scheitern und ein armes Leben führen.

Diese Geschichte sollte Ihnen mit Ihrer schrecklichen Weihnachtsverdrossenheit eines vor Augen führen, nämlich dass Sie nie etwas bewegen können, wenn Sie das, was vielleicht möglich wäre, immer nur an dem orientieren, was Sie vorfinden oder vorfinden wollen. Diese kleine Geschichte ist die reine Weihnachtsbotschaft. Das meinen die Worte, die der Engel des Herrn verkündete: Wir alle tragen unser ‚Ho, ho‘ mit uns herum und glauben und hoffen inbrünstig, keiner merkt es. Warum eigentlich? Denn wenn wir uns dazu bekennen, dann öffnen wir unsere Herzen auch für die Hohos anderer Menschen, und dann können wir trotz aller hektischen Geschäftigkeit innehalten und die Weihnachtsbotschaft weitertragen. Und dann ist auch oder gerade heute noch der Sinn dieses wunderbaren Festes erfüllt.“

Als Henry erneut von seinen Schuhen aufblickte, musste er feststellen, dass er allein im Abteil war. Ich hatte mich zurückgezogen. Ich glaube, ich konnte ihn jetzt auch guten Gewissens alleine lassen. Ich musste noch mit vielen Leuten sprechen und versuchen, ihnen etwas von der Weihnachtsbotschaft zu vermitteln. Und vielleicht begegnen mir ja auch Menschen, die mir etwas über ihr Weihnachten berichten möchten, die mir ihre ganz persönliche Weihnachtsgeschichte erzählen wollen. Denn wenn kein Mensch mehr an das glaubt, was da vor zweitausend Jahren in irgendeinem Stall irgendwo in Bethlehem geschehen ist, würde auch ich aufhören zu existieren. Und alle meine Kollegen. Und das wäre doch sehr schade, wenn wir aus dieser Welt, die immer fragwürdiger geworden ist, einfach verschwinden würden. Und sicher wären die Menschen nicht glücklicher, ganz besonders die kleinen und großen Kinder nicht.

So, nun werde ich auch Sie alleine lassen, ich muss weiter, ich habe noch viel zu tun. Ach übrigens, Sie wollen wissen, wieso ich diese Geschichte erzählen konnte, ohne an bestimmten Stellen zu stottern? Nun, glauben Sie denn nicht an Wunder? Dabei ist doch jetzt die beste Zeit dafür …

Lauritz’ Hund und andere Weihnachtsgeschichten

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