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ОглавлениеProlog
Dienstag, 21. Dezember 2021
Der letzte Gedanke von Holger Lenz galt den Glühweintrinkern. Genauer gesagt, den „Scheiß-Glühweintrinkern“. Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment hob ein dumpfes, durchdringendes Grollen an und der gepflasterte Boden unter seiner Hütte begann zu vibrieren. Dann tat sich die Erde auf und Lenz verschwand mitsamt seinem Verkaufsstand in der Tiefe.
Mehr als dreißig Jahre lang hatte er seinen Kerzenstand auf dem Karlsruher Christkindlesmarkt betrieben. Sein Platz lag direkt gegenüber der Pyramide, dem Wahrzeichen der Stadt. Ein paar Meter links davon befand sich ein Pfälzer Glühweinstand.
Wenn es abends dort voll wurde, stellten sich die Leute nicht etwa ins Dunkle in den freien Raum vor der Pyramide. Nein, sie kamen in Scharen zu ihm herüber, offensichtlich magisch angezogen vom heimeligen Schein seiner Hütte. Seine Ware interessierte sie allerdings nicht. Im Gegenteil, sie drehten ihm den Rücken zu, sodass er auf eine Phalanx bunter Outdoorjacken und Kunstfellkragen schaute. Offensichtlich zog sie nur das Licht seiner Bude an. Archaische, unterbewusste Reize waren das, da war er sich sicher. Der Höhlenmensch, der sich nur im Licht des Feuers sicher fühlt.
Potentielle Kunden konnten spätestens ab 20 Uhr nicht mehr an den Stand, weil die Glühweintrinker ihn komplett versperrten, ohne auch nur irgendetwas davon zu bemerken. Stattdessen wurden sie, je nach Alkoholpegel, sogar richtig angriffslustig, wenn Lenz sie darauf ansprach und freundlich zum Beiseitetreten aufforderte. Gerne schwenkten sie dabei ihre mehr oder minder vollen Becher. Ein kleiner Schubs im Gedränge und die rote Mixtur spritzte über die Ware. Die Sachen konnte man dann wegschmeißen, das klebrige Zeugs bekam man nie wieder weg.
Ab 20 Uhr hätte Lenz seinen Laden also eigentlich zusperren können. Er musste jedoch, wie alle Betreiber auf dem Markt, seine Bude bis 22.30 Uhr offenhalten, als stimmungsvolle Kulisse für die Sauf- und Fressbuden, vor denen ein Lärmpegel herrschte wie weiland direkt neben einer Baustelle der U-Strab.
Ja, tatsächlich: Dieses Jahr war der Weihnachtsmarkt endlich auf den Marktplatz zurückgekehrt, nachdem die sogenannte U-Strab, die Karlsruher Untergrundbahn, endlich fertig geworden war. Zwei Jahre später als geplant und um mehr als zweihundert Prozent teurer. Was nichts gegen Stuttgart war, wie Oberbürgermeister Detlev Hoffmann nicht müde wurde zu betonen. Dort lagen die Bauarbeiten seit mehr als zwei Jahren still, nachdem die Innenstadt wegen der unterirdischen Tunnelarbeiten weiträumig einzubrechen drohte. Die Kosten waren inzwischen auf dreißig Milliarden Euro angestiegen und noch war kein Ende abzusehen, weder beim Preis noch bei der Bauzeit. Längst sprachen alle nur noch von „Stuttgate“ als Synonym für das größte anzunehmende Desaster.
Bundeskanzlerin Ursula von der Leyen kündigte einen „Notcent Bahn“ an, während Europaminister Manuel Sarrazin vom grünen Koalitionspartner auf die vehemente Ablehnung der fünf Mitglieder der Europäischen Zentralunion für eine solche Subvention verwies.
Es hatte einigen Widerstand gegen die Rückkehr des Christkindlesmarktes auf den Marktplatz gegeben, wie auch bei seinem baustellenbedingten Umzug auf den Friedrichsplatz acht Jahre zuvor. Doch der Friedrichsplatz hatte sich als Oase erwiesen, der Markt dort war viel „romantischer“, wie die Leute sagten, und der befürchtete Umsatzrückgang ausgeblieben.
Alle hatten den neuen Standort lieb gewonnen, Besucher wie Betreiber. Der Friedrichsplatz war während der Bauzeit der U-Strab zum Zentrum der Innenstadt geworden. Das und die vielen Veranstaltungen waren dem Rasen, den Bäumen und den Blumenrabatten allerdings nicht so gut bekommen, sodass die Naturschützer und die Grünen, der Koalitionspartner Hoffmanns, auf der Rückkehr des Weihnachtsmarktes auf den Marktplatz bestanden hatten. Der Aufschrei in den Medien war groß und die Kommentare im Internet überschlugen sich, was die Verwaltung aber nicht daran gehindert hatte, die Rückkehr durchzusetzen. Jetzt stand Lenz also wieder gegenüber der Glühweinbude, die während der Jahre am Friedrichsplatz an den Rand des Geschehens verbannt gewesen war.
Unter dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes, genauer gesagt, direkt unter der Pyramide, hatte schon den ganzen Tag lang beträchtliche Geschäftigkeit geherrscht. Auf dem Markt und in der ganzen Stadt bekam davon niemand etwas mit. Auch die leisen Klickgeräusche, die dieses Rumoren unablässig begleiteten, drangen nicht nach oben.
Holger Lenz war völlig ahnungslos, als sich um 20.32 Uhr die Erde unter ihm auftat. Er verschwand mit seinem Kerzenstand einfach im Untergrund. Mit ihm wurden auch der Glühweinstand mit all seinen Trinkern, zahlreiche andere Stände, die neue U-Bahn-Haltestelle Marktplatz und nicht zuletzt die altehrwürdige Pyramide in die Tiefe gerissen.