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Dienstag, 4. September 2012
Die Ankündigung kam eine Stunde vorher per SMS: „Suche mit uns den Gral. 21 Uhr, Karlsruhe, vor dem Schloss. Zünde eine Kerze an, CB“.
Eine Kerze. Wo fand er denn jetzt eine Kerze? Lukas Arnold kramte im alten Küchenschrank seiner Großmutter herum. In einer der hölzernen Schubladen, die ein Sammelsurium der unterschiedlichsten Dinge enthielten, fand er zwischen Nähgarn, Haushaltsgummis und einem Bogen Briefmarken ein paar Teelichter. Das musste genügen. Er steckte eins davon ein und nahm eine Packung Streichhölzer dazu. Vor dem Spiegel im Flur strich er sich einmal über die kurzen Haare, zog sich den Kapuzenpulli über und verließ die Wohnung. Von der Luisenstraße zum Schloss waren es zu Fuß ungefähr zwanzig Minuten, wenn man zügig ging.
Der Himmel schimmerte in Richtung Westen noch dunkelblau, aber die Nacht kam schnell. Es war ein schöner Spätsommertag gewesen, wenn auch etwas kühl für einen Septemberanfang in Karlsruhe.
Karlsruhe liegt im Oberrheingraben, an dem das mildeste Klima Deutschlands herrscht. Die Einheimischen sind stolz darauf und fühlen sich schon halb als Südländer. Allerdings stöhnen sie wiederum auch über die im Sommer mitunter subtropische Schwüle in der Innenstadt. Früher schickte man die angehenden Afrika-Missionare in die Stadt, um sie hier auf das tropische Klima des schwarzen Kontinents vorzubereiten. Die Wasserläufe am Altrhein galten bei der Weltgesundheitsorganisation noch bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als Malaria-Gebiet. Im Sommer kann heute noch jeder Tümpel auf einer Baustelle in der Innenstadt eine wahre Stechmückenplage auslösen.
Arnold passierte die Pyramide auf dem um diese Zeit schon beinahe menschenleeren Marktplatz. Demnächst sollte er zur Großbaustelle werden für die sogenannte Kombilösung, Karlsruhes im Bau befindliche U-Bahn. Die ganze Innenstadt war eigentlich eine einzige Baustelle und jede Woche schien irgendwo eine neue Grube zu entstehen, eine andere Straße gesperrt und eine weitere Straßenbahnlinie umgeleitet zu werden. So manch einer hatte sein Ja bei der Volksabstimmung über die U-Strab wohl schon längst bereut.
Arnold lief weiter in Richtung Schloss. Auf dem Vorplatz knirschte der Kies unter seinen Schuhen. Es war jetzt ganz dunkel geworden. Das Schloss leuchtete orange, von Scheinwerfern angestrahlt.
Vor dem Haupteingang hatten sich um die hundert Menschen versammelt, die wohl alle die gleiche kryptische SMS erhalten hatten. Sie hielten brennende Kerzen in den Händen, die flackernd ihre Gesichter beleuchteten, was den einen ein andächtiges, anderen eher ein geisterhaftes Antlitz verlieh.
Er erkannte niemanden, aber das war nicht weiter verwunderlich. Er hatte Karlsruhe vor sechszehn Jahren, mit knapp über zwanzig, verlassen und besaß nur noch wenige Bekannte hier. Erst seit seine Großmutter vor zwei Jahren gestorben war, kam er drei-, viermal im Jahr für ein paar Tage hierher, um in dem kleinen Mehrfamilienhaus mit den fünf Wohnungen in der Luisenstraße nach dem Rechten zu sehen. Er hatte fast seine gesamte Kindheit und Jugend lang hier bei seinen Großeltern gewohnt, damals noch in einer größeren Wohnung. Nun hatte seine Oma ihm das Haus vermacht.
Die Regelung der Mietzahlungen, den Hausmeisterdienst und alles andere hatte er einer Hausverwaltung überlassen. Für ihn selbst blieben knapp 1200 Euro im Monat übrig. Eine schöne Grundlage, wenn es ihm auch nicht ganz zum Leben reichte. Selbst in Berlin nicht. Obwohl er, wie er fand, doch relativ bescheiden lebte. Allerdings musste er von diesem Geld außer seiner Wohnung auch noch eine kleine, wenn auch billige Ladenwerkstatt unterhalten.
Trotzdem hatten die monatlichen Mieteinnahmen und die Sicherheit dieser Immobilie einen ungemein entspannenden Effekt auf sein Leben: Er war raus aus dem Rattenrennen nach dem Geld. Er musste nicht funktionieren und zur Verfügung stehen. Er musste sich nicht biegen und kneten und womöglich brechen lassen in diesen Zeiten des Wettbewerbs, wo jeder als Einzelkämpfer agierte und der Darwinismus in allen Winkeln des Lebens zu herrschen schien. Konnte es ein größeres Privileg geben?
Zwei Männer betraten jetzt die Treppe vor dem Haupteingang des Schlosses und wandten sich an die Menge. Sie hielten Taschenlampen in der Hand, deren starken Strahl sie über die Menschen gleiten ließen. Der Jüngere war eher klein und schmal, der Ältere groß und breit.
„Meine Damen und Herren, willkommen in Gralsruhe, der Stadt der Atlantiden“, sagte der Ältere mit tiefer, wenn auch etwas brüchiger Stimme – als würde er zu viel rauchen oder leide an einer Erkältung. „Wir werden Sie heute Nacht auf einen verschwörungstheoretischen Nachtspaziergang durch die Stadt mitnehmen. Was erzählen uns die Pyramiden, Greifen und Sphinxe, die in der ehemaligen Residenz der badischen Markgrafen zu finden sind? Was hat es mit den heiligen und unheiligen Symbolen auf sich, die in die Architektur Karlsruhes eingeschrieben sind? Die Kreise, die Geraden, die Dreiecke, die den Grundriss dieser Stadt bestimmen. Sind das Versuche, Energie in diese Stadt zu lenken, hier etwas zu manifestieren, was dem oberflächlichen Betrachter verborgen bleibt? Haben Geheimgesellschaften ihr Wissen in dieser Stadt verborgen – zu einem höheren Zweck vielleicht? Ist hier womöglich der heilige Gral verborgen? Und was hat der arme Kaspar Hauser damit zu tun, der wahrscheinlich in diesem Schloss als badischer Prinz zur Welt kam, bevor sein Martyrium begann?“
Die Männer schwenkten die Lichtkreise ihrer Lampen theatralisch über den Vorplatz. Arnold meinte, im Dämmerlicht ein Grinsen auf ihren Gesichtern zu erkennen. Im Gegensatz zum Publikum, das stockernst wirkte.
„Wir werden versuchen, Ihnen so viel zu enthüllen, wie wir wissen. Löschen Sie nun Ihre Kerzen und folgen Sie mir und meinem Adlatus zunächst in den Schlosspark.“
Die beiden Männer stiegen die Buntsandsteinstufen vor dem Schlosseingang wieder hinunter. Die Gesellschaft blies folgsam ihre Kerzen aus und folgte ihnen. Ein leises Klicken schien aus der Menge zu kommen, das Arnold kurz irritierte, weil er es nicht einordnen konnte. Vielleicht waren es nur Absätze, die gegeneinander stießen, dachte er.
Die Mienen, die er aus der Nähe erkennen konnte, schienen teils belustigt, teils sehr ernst. Die Ernsten waren wahrscheinlich die Esoteriker unter den Besuchern – eine in Karlsruhe und Umgebung weit verbreitete Spezies.
Das Badische Staatstheater, den Veranstalter dieses Rundgangs, hatte er weit langweiliger in Erinnerung. Aber der Regisseur Conrad Birkenmeyer, der breit gebaute Mann auf der Treppe, hatte zuvor ein Offtheater in Berlin geleitet. Arnold war zweimal in seinen Stücken gewesen. Unter anderem deshalb war er auch dem Aufruf zu diesem Theaterabend in seiner Heimatstadt gefolgt.
Na ja, eigentlich gab es auch noch einen anderen Grund: Seine Familie beziehungsweise seine Vorfahren waren auf die eine oder andere Weise in ein paar entscheidende Vorkommnisse rund um die Stadtgründung und die Pyramide verwoben. Außerdem hatte er in der vorigen Woche ein Faltblatt in seinem Karlsruher Briefkasten gefunden, das auf die heutige Veranstaltung hinwies. Sonst hätte er vielleicht gar nicht davon erfahren. Es war neu, dass das Badische Staatstheater auf diese Art für seine Veranstaltungen warb. Das hatten sie, soweit er wusste, früher nicht getan.
Von dem Abend war vorher nur das Datum bekannt gewesen. Wer die Veranstaltung gebucht und bezahlt hatte, wurde dann per SMS über Zeit und Ort in Kenntnis gesetzt. Das Ganze sah eher nach einer Art Performance aus.
Vor dem hohen, schmiedeeisernen Tor zum Schlosspark bildete sich ein kleiner Stau. Arnold stieß versehentlich eine Frau mit langen, dunklen Haaren an, die ein rotes Tuch um den Hals trug.
„Entschuldigung“, sagte er.
Sie drehte sich kurz um, sah ihn aus blauen Augen an und nickte. Sie wirkte etwas jünger als er, so um die dreißig. Schnell verschwand sie in der sich im Park zerstreuenden Menge. Aus irgendeinem Grund hatte sie Eindruck auf ihn gemacht. Was war es? Ihr Blick? Ihr Geruch? Hatte er überhaupt einen wahrgenommen?
Ach was! Arnold schüttelte den Kopf. Er war einfach schon zu lange alleine, fünf Monate jetzt. Fünf Monate kein Sex. Wahrscheinlich hatte er die Trennung von Christine doch noch nicht verdaut.
Er konnte nicht mehr verstehen, was Birkenmeyer vorne erzählte, weil er ein wenig zurückgeblieben war. Neben ihm trat ein Gruftipärchen aus dem Gebüsch, beide trugen weiße Kontaktlinsen. Sie sahen ärgerlich aus, gestört bei was auch immer.
„Was ist denn hier los?“, fragte der Mann Arnold.
Er trug einen langen Ledermantel und offene Stiefel, beides in Schwarz. Seine Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Die Frau neben ihm trug schwarze Rüschen. Ihr Gesicht war weiß geschminkt.
Ob sie zum Theater gehörten?
„Wir sind den Geheimnissen Karlsruhes auf der Spur“, antwortete Arnold, als spiele er in dem Stück ebenfalls eine Rolle.
„Badisches Staatstheater“, sagte in amtlichem Ton jemand neben ihm, ein kleiner Mann mit runden Schultern und dünnem, zauseligem Haar.
„Hä?“, machte die Gruftifrau.
„Ein Theaterabend“, sagte der Mann.
Das Pärchen wirkte enttäuscht, sie schüttelten den Kopf und gingen ab. Ihre Mäntel und Rüschenkleider zogen sie wie Hochzeitsschleppen hinter sich her. Ein intensiver Duft nach Patschuli blieb zurück.
Als Arnold sich wieder nach vorne wandte, kam Birkenmeyer auf ihn zu. Die Theaterbesucher folgten ihm, alles strebte dem Ausgang zu. Der Ausflug in den Park schien schon wieder vorbei zu sein. Arnold ärgerte sich ein wenig, dass er sich hatte ablenken lassen.
Jetzt hatte er den Anfang verpasst.
Er hielt Ausschau nach der Frau mit dem roten Schal. Sie stand am Rand und schaute weg, als er sie fixierte. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
Er könnte sie fragen, was Birkenmeyer im Park erzählt hatte. Das wäre ein guter Ansatz, um sie anzusprechen.
„Ich habe leider alles verpasst wegen dem Gruftipärchen.“
Die Menge ging über den Vorplatz. Kies knirschte. Leises Gemurmel hing wie eine Wolke aus Worten über dem Pulk.
Vor dem Denkmal des Markgrafen Carl Friedrich am Ausgang des Schlossplatzes hielt Birkenmeyer an. Er stieg auf den Sockel der grünspanigen Figur und wandte sich ans Publikum: „Ich stehe hier unter der Statue des Enkels des Stadtgründers, den Napoleon zum Großherzog kürte.“
Birkenmeyer sah an ihm hoch.
„Carl Friedrich war Freimaurer, ebenso sein Großvater, Karl Wilhelm, der Karlsruhe im Jahr 1715 gründet hatte. Der Schlossturm ...“, er wies mit ausgestrecktem Arm nach vorne und alle wandten sich um, „der Schlossturm ist das Zentrum dieser Stadt, die einen europaweit, ja weltweit einmaligen Grundriss aufzuweisen hat. Zweiunddreißig Straßen und Wege gehen vom Turm aus in die Landschaft wie die Strahlen einer Sonne. Sie alle weisen auf Kirchen, Klöster und Heiligtümer in der Umgebung. Es sind Leylines, Drachenpfade, wie die Chinesen sagen. Sie führen dem Schlossturm und damit dem Herrscher über den Turm die Kraft dieser Plätze zu. Wir stehen hier direkt auf der stärksten Linie. Sie verbindet den Schlossturm mit dieser Statue, der Pyramide und dem Obelisken auf dem Rondellplatz.“
Alle schauten jetzt in Richtung Pyramide, die nachts ebenfalls angestrahlt wurde und matt im Dunkeln schimmerte.
„Pyramide und Obelisk, ägyptische Herrschaftssymbole in Karlsruhe“, sagte Birkenmeyer, während ein Windstoß die über seine Stirnglatze gekämmten Haare in die Luft wirbelte. Er strich sich über den Kopf, um sie wieder an die alte Stelle zu befördern.
„Über Deutschland, so eine Theorie, kann man ja ein Pentagramm legen“, fuhr Birkenmeyers Adlatus fort, der Regieassistent Ludo Fink, der neben ihn auf das Podest getreten war. Er war so schmächtig, dass er neben seinem Chef automatisch wie ein Lehrling wirkte, selbst wenn die Rollen vertauscht gewesen wären. „Die Eckpunkte dieses Pentagramms sind unter anderem die Karlsruher Pyramide und der Frankfurter Messeturm, der eigentlich ebenfalls ein Obelisk ist.“
Ein leicht belustigtes Raunen ging durch das Publikum. Fink hob die Hände, zur Stille gemahnend.
„Auch über Karlsruhe lässt sich solch ein Pentagramm legen. Die Eckpunkte sind dann die alte Dorfkirche in Eggenstein, der Bismarckstein in Ettlingen und Kirchen oder uralte heilige Stätten in den Orten Kleinsteinbach, Rastatt-Rheinau und Büchelberg in der Pfalz.“
Das Raunen nahm zu.
Fink wurde lauter: „Das Pentagramm – oder besser: das umgedrehte Pentagramm, also der Drudenfuß – gilt ja heute als Zeichen des Bösen. Es ist aber das Gegenteil. Es ist in Wirklichkeit ein Bannzeichen gegen das Böse. Nachzulesen schon bei Goethes Faust. Dort kann Mephisto nämlich Fausts Studierzimmer nicht mehr verlassen, weil ein Pentagramm auf der Tür zu sehen ist. ‚Das Pentagramma macht dir Pein?‘, fragt Faust den Mephisto.“
„Meine Damen und Herren!“, übernahm Birkenmeyer wieder. „All diese Phänomene sind belegbar, ja sie sind sogar offen sichtbar im Stadtbild – für den, der sehen kann und will. Nehmen Sie die Straßen des sogenannten Karlsruher Fächers. Sie bilden mit der Kaiserstraße, der zentralen Magistrale in Karlsruhe, ein gleichschenkliges Dreieck. Gleichzeitig führt um das Schloss herum – genauer: um den Schlossturm – ein Kreis, der wie mit einem Zirkel gezogen scheint. In weiten Teilen ist dieser Kreis bis heute eine Straße, die ‚Am Zirkel‘ heißt. Sie kennen sie alle. Noch heute kann man bei einem Blick auf den Stadtplan beides erkennen. Auf historischen Darstellungen Karlsruhes ist es auf den ersten Blick zu sehen. Es sind die zentralen geometrischen Formen der Anlage. Und jetzt frage ich Sie: Wessen Symbole sind denn Dreieck und Zirkel?“
Während Birkenmeyer anfing zu schwitzen und seine Rede mit ausholenden Gesten unterstrich, hörte ihm das Publikum aufmerksam zu.
Der Regisseur lächelte: „Die Freimaurer, meine Damen und Herren. Zirkel und Dreieck sind die Symbole der Freimaurer.“
Er blickte einmal rundum über die Menge und nickte befriedigt. Manch einer im Publikum blickte sich zum Schloss um, als sähe er es zum ersten Mal.
„Auch das Pentagramm spielt bei den Freimaurern keine ganz unwichtige Rolle. Denn die Vorläufer der Freimaurer waren ja die Bauhütten, die verantwortlich für den mittelalterlichen Kirchenbau, aber auch die Errichtung der Stadt Karlsruhe waren. Die Baumeister und die Handwerker, die zu den Hütten gehörten, hüteten eine Menge altes Wissen. Geheimwissen zum großen Teil, das sie nur an die jeweiligen Mitglieder ihrer Hütte weitergaben. Wissen, das bis in ägyptische Zeiten zurückreichte, manche behaupten, bis ins sagenhafte Atlantis. Dazu gehörte auch der Goldene Schnitt. Sie haben vielleicht schon davon gehört.“
Einige in der Menge nickten, jemand rief: „Leonardo da Vinci!“
„Richtig.“ Birkenmeyer kratzte sich am Kopf und strich sich dabei möglichst unauffällig über die Haare, um ihren Sitz zu prüfen. „Man findet ihn bei Leonardos berühmter menschlicher Proportionsstudie, die übrigens auf viel ältere Darstellungen zurückgeht. Ich will Sie jetzt nicht mit Mathematik langweilen, aber beim Goldenen Schnitt geht es, kurz gesagt, um ein bestimmtes Verhältnis, das zwei Streckenlängen zueinander haben. Dieses Verhältnis beträgt ungefähr 1 : 1,6 und wird mit dem griechischen Buchstaben Phi bezeichnet. Phi ist eine in vieler Hinsicht magische Zahl mit einer unendlichen Anzahl von Ziffern hinter dem Komma. Was darüber hinaus das Interessante daran ist: Man findet dieses Verhältnis in der Natur vielfach wieder, bei der Anordnung der Blätter von Pflanzen, bei der Außenhaut von Früchten wie der Ananas, ja sogar bei der Struktur von Galaxien.“
Birkenmeyer streckte theatralisch einen Arm in den Himmel. Nicht wenige Blicke folgten ihm, obwohl von hier aus, mitten in der hell erleuchteten Stadt, nur wenige Sterne zu erkennen waren. Arnold blickt auch kurz nach oben, dann wieder nach vorne und sah dabei den großen Schweißfleck unter der Achsel auf Birkenmeyers weißem Hemd.
Der nahm, als spürte er Arnolds Augen auf sich, den Arm schnell wieder nach unten.
„Auch in der Architektur, in der Malerei, ja sogar in der Musik findet man Strukturen nach dem Goldenen Schnitt. Man findet sie in der Königskammer der Cheops-Pyramide. Und im Pentagramm. In diesem fünfeckigen Stern lässt sich wirklich überall der Goldene Schnitt beobachten, jede einzelne Teilstrecke darin steht im Verhältnis der Zahl Phi zueinander. Und, meine Damen und Herren, wenn wir jetzt zusammen weitergehen ...“
Birkenmeyer beugte sich bei diesen Worten nach vorne, sodass sein Gesicht fast völlig verschattet wurde. Nur seine Augen wurden von einem der Bodenscheinwerfer beleuchtet.
Er hat das bestimmt vorher geprobt, dachte Arnold.
„ ... dann werden sie sich den Goldenen Schnitt im Stadtpan Karlsruhes sozusagen erlaufen. Denn alles hier auf dem Weg vom Schlossturm bis zum Ettlinger Tor steht im Verhältnis des Goldenen Schnitts zueinander. Zum Beispiel teilt die Kaiserstraße den Weg vom Schlossturm zum Obelisken am Rondellplatz direkt nach dem Goldenen Schnitt.“
Birkenmeyer richtete sich wieder auf.
„Das war Weinbrenners Werk. Das Werk Friedrich Weinbrenners, der diese sogenannte Via Triumphalis zwischen Schloss und Ettlinger Tor mit Pyramide, Obelisken, Rathaus und Stadtkirche geschaffen hat. Und, meine Damen und Herren, der Goldene Schnitt war durchaus auch zu Zeiten Weinbrenners, also Anfang des 19. Jahrhunderts, noch Geheimwissen. Das fand man in keinem der damals erhältlichen Lehrbücher. Aber ...“, er beugte sich wieder nach vorne, als wollte er dem Publikum flüsternd ein Geheimnis verraten, das nicht jeder hören sollte, „ ... auch damals waren die Freimaurer in unserer Stadt aktiv. Nicht wenige badische Honoratioren bis hin zum Markgrafen Carl Friedrich selbst hatten zuvor der geheimnisumrankten ägyptischen Loge des Grafen Cagliostro in Basel angehört.“
Birkenmeyer hob den Kopf und klatschte in die Hände. „Folgen Sie uns.“ Er stieg schwungvoll und mit wehender Jacke vom Sockel des Markgrafen herunter, der sich dies alles mit hatte anhören müssen, zur Stummheit verdammt. Die Menge folgte.
Während sie den sogenannten Platz der Grundrechte betraten, der aus Dutzenden Lampen, die im Boden eingelassen waren, beleuchtet wurde, diskutierten die Besucher leise miteinander. Der kleine Mann, der vorhin das Gruftipärchen über den Theaterabend aufgeklärt hatte, befand sich wieder an Arnolds Seite. Er schnaubte unwillig und murmelte vor sich hin.
„So kann man das doch nicht machen“, verstand Arnold.
Birkenmeyer drehte sich am Ende des Platzes noch einmal zur Menge um. „Wir stehen jetzt auf dem Platz der Grundrechte. Karlsruhe ist ja die Stadt des Rechts, hier befindet sich der Sitz der höchsten Gerichte Deutschlands. Wir lassen jetzt einmal außer Acht, warum das so gekommen ist. Stattdessen reden wir von Recht und Gerechtigkeit. Das sind ja zwei ganz verschiedene Dinge, wie jeder weiß, der schon einmal mit Gerichten zu tun hatte.“
Der Regisseur schmunzelte. Im Publikum gab es vereinzelte Zustimmung.
„Dem armen Kaspar Hauser jedenfalls ist weder Recht noch Gerechtigkeit widerfahren. Dort im Schloss wurde er vor beinahe zweihundert Jahren geboren als Sohn des Großherzogs Karl und seiner Frau Stéphanie de Beauharnais, der Adoptivtochter Kaiser Napoleons. Sie wurde auch ‚fille de France‘ genannt, die Tochter Frankreichs. Als ihr Sohn nur zweieinhalb Wochen nach seiner Geburt angeblich schwer erkrankte und dann rasch innerhalb weniger Stunden verstarb, ließ man sie nicht zu ihm. Auch die Amme hielt man fern vom Kind. Die beiden Personen, die dem Säugling am nächsten standen und ihm wohl am besten hätten beistehen können, durften nicht zu ihm. Warum? Weil es gar nicht Stéphanies Sohn war, der dort angeblich ganz überraschend so schwer krank wurde, obwohl er doch, als ihn die Amme am Vortag sah, noch ganz gesund war. Stattdessen lag in den markgräflichen Gemächern der kranke Sohn des Hofbediensteten Christoph Blochmann, Ernst mit Namen, den man mit dem Erbprinzen vertauscht hatte. Eine Intrige, eingefädelt von der Gräfin von Hochberg, der Stiefmutter des Großherzogs Karl und zweiten Ehefrau des verstorbenen Markgrafen Carl Friedrich: Sie wollte alle legitimen Nachfolger des Markgrafen zu Tode bringen, um ihre eigenen Söhne in die Erbfolge einzusetzen – was ihr letztlich ja auch gelang, wie wir alle wissen.“
Gemurmel hob an in der Menge.
„Ja, meine Damen und Herren, eine Intrige, eine sehr böse Intrige. Stéphanie und die Amme des kleinen Thronfolgers hätten den Schwindel mit dem vertauschten Kind natürlich sofort entdeckt, deshalb konnte man sie nicht zu dem sterbenden Säugling lassen. Eine Tragödie für die Mutter, sie sah ihren Sohn nie wieder. Nicht einmal seine Leiche, denn die gab es ja nicht. Stattdessen hatte man den Sohn Stéphanies, den rechtmäßigen Erben des badischen Thrones, längst an einen anderen Ort gebracht, nämlich zunächst einmal zur Familie Blochmann, als Austauschkind für deren in der Tat todkranken Säugling. Der Thronerbe tauchte erst 16 Jahre später in Nürnberg wieder auf und ist uns heute als Kaspar Hauser bekannt. Das Kind, das damals starb, liegt dagegen heute in der Schlosskirche Pforzheim begraben. Gehen Sie nur mal hin. Sie werden nicht hineinkommen, die Kirche ist fast immer verschlossen, obwohl sie mitten in Pforzheim liegt. Sie gehört bis heute dem Haus Baden und in deren Gruft kommt schon mal gar niemand hinein. Warum wohl? Eine DNA-Analyse des Kindes im Sarg würde sofort Klarheit schaffen, dass es nichts mit dem Haus Baden zu tun hat. Und warum erzähle ich Ihnen all das ...?“
Der Regisseur schaute wieder verschmitzt in die Menge.
„Recht und Gerechtigkeit. Der badische Erbprinz und der Gral. Was ist denn der Gral, frage ich Sie?“
„Halt, Einspruch.“
Ein älterer Mann löste sich auf einmal aus der Menge. Er hatte einen weißen Haarkranz und trug einen altmodischen Trenchcoat. „Das Kind, Kaspar, war nicht der badische Thronfolger. Es war nämlich gar nicht der Sohn Karls, sondern das Kind Napoleons und seiner Adoptivtochter Stéphanie.“
Der Regisseur neigte den Kopf.
„Aha. Interessant. Erzählen Sie uns, wie sie auf diese verwegene These kommen.“
Arnold reckte den Hals, um nichts von der Szene zu verpassen.
„Was heißt hier These?“ Der Mann schüttelte vehement den Kopf. „Das ist die Wahrheit. Stéphanie war ihrem Adoptivvater hörig, sie liebte ihn. Die beiden trafen sich immer im Gasthaus Laub in Berghausen, zehn Kilometer vor den Toren der Stadt. Dort zeugten sie auch Kaspar. Stéphanies Mann Karl war kalt wie ein Fisch. Dem lag nichts an Stéphanie. Die beiden haben sich nie vereinigt.“
„Haben Sie denn Beweise dafür?“
„Beweise, Beweise!“ Der Mann fuchtelte mit seinen Händen vor Birkenmeyer herum. Der blieb ganz ruhig.
„Gehen Sie doch mal nach Berghausen und fragen sie die Wirtsleute. Oder, wenn die nicht die Wahrheit verraten wollen, sprechen Sie mit ein paar alten Leuten im Dorf. Jeder dort weiß das.“
„Sie sind nicht zufällig auch aus Berghausen?“ Birkenmeyer lächelte süffisant.
„Ach!“ Der Mann winkte ab und entfernte sich wortlos. Arnold sah ihm nach, wie er unter den Arkaden in der Kaiserstraße verschwand.
Birkenmeyer klatschte wieder in die Hände. „So, jetzt sind wir ja alle schlauer. Weiter geht’s, meine Damen und Herren. Folgen Sie mir zur Pyramide.“
Und wie, dachte Arnold, war das nun mit der Verbindung zwischen Kaspar Hauser, dem Gral und Karlsruhe? Das schien Birkenmeyer nach dieser Unterbrechung ganz vergessen zu haben.
An der Kaiserstraße mussten sie kurz anhalten, um eine Straßenbahn passieren zu lassen. Dann ging es weiter zur Pyramide. Karlsruhes Haupteinkaufsstraße und der Marktplatz wirkten wie ausgestorben.
Vor dem Wahrzeichen Karlsruhes, unter dem der Stadtgründer begraben lag, hielt Birkenmeyer erneut an und wandte sich an sein Publikum: „Hier stehen wir vor dem größten Rätsel Karlsruhes: Warum wählt sich eine Stadt eine Pyramide als Denkmal an einer solch zentralen Stelle? Auch das gibt es in Europa nirgendwo. Warum liegt der Stadtgründer ausgerechnet unter einer Pyramide begraben? Welchen Sinn hat das?“
Auf einmal löste sich eine Frau mit roter Mähne und wallendem Umhang aus der Menge. Einer Megäre gleich stürzte sie auf Birkenmeyer los und drohte ihm zornentbrannt: „Rede nur weiter, Schamloser, Du! Erst Cagliostro, dann Kaspar Hauser und jetzt entweihst du auch noch das Grabmal. Aber wir kriegen euch alle!“
Birkenmeyer wich etwas zur Seite und hob abwehrend die Hände.
„Gute Frau ...“
„Wer die Toten stört, wird von ihnen besucht werden!“
Nach diesen Worten wandte sie sich an die Menge. Sie mochte um die fünfzig sein, vielleicht auch ein paar Jahre älter.
„Geht nach Hause“, forderte sie die Umstehenden auf, „Ihr habt genug gehört. Böse Dinge gehen hier in Karlsruhe vor, von deren Kräften ihr keine Ahnung habt. Geht nach Hause!“
Sie wedelte mit den Händen, als wollte sie Vögel verscheuchen, und verschwand dann ebenso rasch wie der Alte zuvor in Richtung des neu errichteten Volksbankgebäudes.
Einige im Publikum lachten nervös auf. Arnold, dem bei jedem Hollywood-Rührfilm gegen seinen Willen die Tränen kamen, spürte einen leichten Schauer auf dem Rücken.
Birkenmeyer dagegen fuhr scheinbar unbeeindruckt fort: „Nun gut. Sie haben es gehört. Wer gehen mag, soll gehen. Ich für meinen Teil möchte jetzt fortfahren. Die Aufklärung, meine Damen und Herren,“ der Regisseur straffte sich, „hat sich von ihren Gegnern noch nie aufhalten lassen. Und außerdem ...“, er grinste in die Runde, „wenn sie die Baustellen meint, hat sie ja recht.“
Erleichtert lachten die meisten Zuhörer auf. Niemand ging.
„Also“, fuhr er fort, „warum liegt der Stadtgründer Karl Wilhelm ausgerechnet unter einer Pyramide begraben? Ich kann es Ihnen erklären. Lassen Sie mich dazu ein wenig ausholen. Die badischen Markgrafen ließen sich nämlich über Jahrhunderte hinweg ohne ihre Organe begraben. Kommt Ihnen das bekannt vor?“
Er sah theatralisch in die Runde und schwenkte seine Taschenlampe dazu. Arnold kam auf einmal der Verdacht, dass auch die Frau zu diesem Abend gehörte. Dass sie womöglich eine Schauspielerin war. Der alte Mann, der behauptete, dass Kaspar Hauser ein Sohn Napoleons war, vielleicht auch. Das würde natürlich einiges erklären. Sicher, sie waren hier schließlich auf einem Theaterabend.
Arnold entspannte sich. Die Frau mit dem roten Schal stand kaum fünf Meter von ihm entfernt und tauschte einen leicht spöttischen Blick mit ihm, als dächte sie in diesem Moment dasselbe. Dann sah sie wieder nach vorne, ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Regisseur gerichtet. Sie hatte hohe Wangenknochen und ein Gesicht mit weichen Formen. Sie strich sich das Haar aus der Stirn, ohne ihn weiter zu beachten, und setzte eine strenge Miene auf.
„Richtig“, sagte Birkenmeyer, „die alten Ägypter ließen sich so begraben. Um zur Mumie zu werden, mussten ihnen die Organe, die ja im Körper verfaulen konnten, entfernt werden. Und ihre Herrscher, die Pharaonen, wurden wo bestattet? In Pyramiden. Ein ägyptischer Bestattungsritus bei den Markgrafen? Oh ja, und es geht noch weiter.“ Birkenmeyer hob jetzt die Hände wie ein Prediger, Fink ließ die Taschenlampe kreisen. Das Ganze wirkte tatsächlich ein wenig unheimlich. Nicht schlecht gemacht, dachte Arnold amüsiert.
„Die Pharaonen ließen sich zwar ohne Organe begraben, doch zu den Grabbeigaben gehörte auch ihr Herz. Das wurde ihnen auf den Sarkophag gelegt oder mit hinein in den Sarkophag, denn für jeden Ägypter gab es ja noch das Totengericht. Bevor sie ins Totenreich kamen, musste sich jeder, auch die Pharaonen, vor Osiris rechtfertigen, dem Herrscher des Totenreiches. Das Totengericht befand sich in der Halle der Wahrheit.“
Birkenmeyer hielt inne, weil eine Straßenbahn kreischend um die Kurve in Richtung Hauptbahnhof bog. Die Menge ließ sich nicht stören. Alles hing an den Lippen des dicken, schwitzenden Regisseurs, der sich wieder einmal über den Kopf strich und dabei beiläufig seine Haare in die rechte Form zu bringen versuchte.
Die Straßenbahn hielt hinter ihnen, ein paar Menschen kamen heraus und blieben stehen, um zu schauen, was vor der Pyramide im Gange war. Der Regisseur und sein Assistent waren inzwischen über die niedrige Kette gestiegen, die rings um die Pyramide verlief, um deren leicht ansteigenden Sockel als Bühne zu benutzen.
„In der Mitte der Halle der Wahrheit“, hob Birkenmeyer an, als die Straßenbahn endlich weitergefahren war, „stand die Seelenwaage. Auf der wurde das Herz des Toten gewogen. Wenn der Verstorbene sich durch genau vorgeschriebene Formeln aus dem Totenbuch von seinen Sünden freisprach, zeigte die Waage an, ob er die Wahrheit sagte. Neigte sich die Schale mit dem Herzen aber, so log er und es wurden ihm schreckliche Strafen auferlegt, Feuer und Folter, er wurde von einem Ungeheuer verschlungen und der Weg ins Totenreich war ihm für immer versperrt. Nur wer ein reines Herz hatte, ein Herz, leicht wie eine Feder, durfte das Reich des Osiris betreten.“
Birkenmeyer hielt kurz inne und sah bedeutungsvoll in die Zuschauermenge. „Und jetzt raten Sie, meine Damen und Herren, wo sich die Herzen der Markgrafen befinden?“ Er fixierte noch einmal sein Publikum. „Sie wurden ihnen in herzförmigen Urnen auf ihre Sarkophage gelegt, sodass auch die Markgrafen bei ihrer Reise ins Totenreich ihre Herzen dabeihatten – ganz genauso wie bei den Ägyptern.“
Ein ungläubiges Staunen ging durchs Publikum.
„Beweise“, rief jemand.
Birkenmeyer strahlte. „Wir können zwar die Pyramide nicht betreten – und selbst wenn, könnten wir es nicht sehen, denn die Grabkammer des Markgrafen ist ja zugemauert, wie wir heute wissen – angeblich.“ Er zwinkerte verschwörerisch. „Aber gehen Sie mal am Tag des Denkmals, der übrigens am kommenden Sonntag stattfindet, in die Grabkapelle der badischen Markgrafen im Hardtwald. In der dortigen Gruft im Keller der Kapelle können Sie den Beweis besichtigen. Die Herrschaften und ihre Gattinen haben alle herzförmige Urnen auf ihren Särgen, in denen ihre Herzen – oder das, was von ihnen übrig ist – aufbewahrt werden. Bei jeder Führung wird Ihnen bereitwillig bestätigt, was ich Ihnen gerade erzählt habe.“
Birkenmeyer machte wieder eine Pause und ließ seine Worte wirken.
„Übrigens“, fuhr er dann fort, „um noch einmal zu den Geheimgesellschaften zu kommen, die diese Stadt gegründet haben: Thomas Jefferson, der spätere Präsident der USA, besuchte im Jahr 1788 Karlsruhe und schuf die Hauptstadt Washington nach dem Vorbild des Karlsruher Stadtgrundrisses. Und sehen Sie sich mal die Dollarnote an.“
Er zog tatsächlich eine aus seiner Tasche, sein Assistent hielt auf einmal ein DIN-A4-Blatt mit einer vergrößerten Kopie eines Dollarscheines in der Hand und schwenkte sie, beleuchtet von seiner Taschenlampe, von rechts nach links, sodass jeder sie sehen konnte.
„Eine solche Pyramide haben wir ja auch hier vor uns. Sie ist übrigens auch ein Illuminatensymbol. Und Jefferson war ebenfalls ein Freimaurer. Dito George Washington.“
Er schmunzelte und stieg schwungvoll vom Sockel der Pyramide herab.
„Weiter geht’s!“
Doch nach ein paar Metern stoppte er schon wieder.
„Schauen Sie sich noch einmal um in Richtung Schloss.“
Die Menge folgte ihm, als sei er ihr Dompteur.
„Wenn wir von sogenannten Geheimgesellschaften reden ... Ich sage Ihnen, die sind noch heute in Karlsruhe aktiv.“ Er winkte die Gesellschaft eng zu sich heran und senkte die Stimme, als ginge es jetzt um etwas besonders Geheimnisvolles oder gar Gefährliches. „Sehen Sie links das ‚m‘ des Hotels am Markt? Rechts prangte ein großes ‚V‘ am alten Volksbankgebäude. Am neuen ist es, warum auch immer, nicht mehr zu sehen. Zwei hervorstechende Embleme, die das Schloss bis vor wenigen Jahren einrahmten. Und wo finden wir diese beiden Buchstaben wieder?“
Er leuchtete die Gesichter der Umstehenden an, auch das von Arnold, der nah an ihn herangetreten war, um alles zu verstehen. Birkenmeyer beugte sich nach vorn und raunte: „Der berühmte und sagenumwobene MI 5, der britische Geheimdienst, führt die beiden Buchstaben M und V in seinem Wappen.“
Er richtete sich wieder auf. „Oh ja, meine Damen und Herren“, sprach er mit nun dröhnender Stimme. „Seien Sie vorsichtig, in Karlsruhe, da hatte die seltsame Dame vorhin gar nicht unrecht, ist bis heute so einiges im Gange, an dem man besser nicht rühren sollte.“
„Humbug“, sprach ihn da jemand von der Seite an. „Das ist doch Humbug, was Sie da erzählen.“ Es war der kleine Mann mit dem wirren Haar, der Arnold schon zu Beginn der Veranstaltung aufgefallen war. Ob er etwa auch zu den Schauspielern gehörte?
„Sie vermischen durchaus Ernsthaftes und Wahres mit völligem Blödsinn. Sie treiben hier Klamauk, das ist der Sache nicht angemessen. Das Geheimnis, um das es hier geht, ist viel größer, als Sie überhaupt ermessen können. Sie wissen gar nicht, was Sie tun, also lassen Sie es besser sein.“
Birkenmeyer lächelte, als sei er geradezu erfreut über den Protest.
„Guter Mann!“
Er hob beschwichtigend die Hände.
„Ach was!“
Der Mann wirkte wirklich zornig.
„Es ist wie immer: Halbwissen zu verbreiten ist viel schlimmer, als gar nichts zu wissen.“
„Aber Sie wissen wirklich Bescheid?“, fragte Birkenmeyer.
„Ja, allerdings“, antwortete der Mann.
Es sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch dann schüttelte er den Kopf und entfernte sich. Birkenmeyer lächelte, sah aber gleichzeitig ein wenig unsicher aus.
Lukas Arnold folgte kurz entschlossen dem Mann, der schnellen Schrittes von der Menge weglief.
„Warten Sie!“
„Was?“ Der Mann drehte sich unwirsch um.
„Warten Sie bitte.“
Vor dem Eckhaus, in dem das Modehaus Schöpf untergebracht war, holte er ihn ein.
„Was meinten Sie damit, Sie wüssten wirklich Bescheid?“
Der Mann war schmal, trug ein Cordsakko und ein kariertes Hemd. Er sah aus wie jemand, der nicht übermäßig Wert auf sein Äußeres legte, doch wirkten seine Kleidungsstücke nicht unbedingt billig.
„Warum interessiert Sie das?“
Er zwinkerte mit den Augen.
„Sie gehören aber nicht zum Stück?“, fragte Arnold vorsichtshalber.
„Wie bitte?“ Der Mann wollte sich schon wieder abwenden.
„Entschuldigung. Ein Vorfahr von mir war ein wenig in die Stadtgründung involviert. Das ist auch der Grund, warum ich heute zu der Veranstaltung gekommen bin. Alles, was mit der Stadtgründung zusammenhängt, interessiert mich.“
„Wie ist Ihr Name?“
„Lukas Arnold.“
Irrte sich Arnold oder zuckte der andere wirklich kurz zusammen, als er seinen Namen nannte?
Der Mann reichte ihm die Hand.
„Klaus Peter Händler.“
Arnold war nicht groß, knapp 1,80 Meter, aber er konnte Händler auf den Kopf gucken.
„Ich bin kein gebürtiger Karlsruher, ich stamme aus Bremen. Aber ich lebe seit zwanzig Jahren hier und beschäftige mich schon lange und intensiv mit der Stadtgeschichte.“
„Machen Sie das beruflich?“
„Nein. Ich bin Chemiker und arbeite am hiesigen Forschungszentrum, neuerdings KIT genannt.“
Händler sprach die drei Buchstaben englisch aus und übertrieb die Betonung ein wenig. Er zeigte ein schmallippiges Lächeln, das eher einem Verziehen der Mundwinkel glich.
„Sie können jedoch gewiss sein, ich habe mich der Stadtgeschichte mit der gleichen wissenschaftlichen Vorgehensweise genähert, die ich von meinem Beruf gewöhnt bin. Ganz im Gegensatz zu den Herren da.“
Er wies auf die Theatergesellschaft, die sich jetzt am Brunnen vor dem Rathaus versammelt hatte.
„Sagt Ihnen der Name Richtenfels etwas?“
Händler sah Arnold an.
Der verzog das Gesicht, als dächte er nach.
„Ja, irgendwie schon. Wer war das nochmal?“
„Johann Georg Förderer Edler von Richtenfels ist eine bedeutende Figur der Stadtgeschichte, wird aber beinahe totgeschwiegen. Er war ein Alchemist und Naturwissenschaftler, ist viel gereist, bis in die Türkei und wohl sogar nach Ägypten, war ein Freund des Markgrafen Karl Wilhelm und hat ihm wahrscheinlich den Gedanken der Stadtgründung wie auch den Grundriss dieser Stadt eingegeben. Kurz: All das hier ...“ Händler machte eine weit ausladende Geste mit den Armen, fast wie vorher Birkenmeyer, „ ... geht auf Richtenfels zurück. Seine Herkunft liegt im Dunkeln, sein Ende ebenso. Aber ich bin ihm auf der Spur.“
Arnold nickte.
„Ja, ich erinnere mich vage.“
Händler nickte ebenfalls. „Herr Arnold, wir müssen uns unterhalten, aber nicht hier. Ich kann Ihnen viel erzählen, auch über Ihre Familie, die beileibe nicht nur in die Stadtgründung involviert war. Das müsste Ihnen doch bekannt sein, oder?“
Arnold bejahte es.
„Kommen Sie zu mir nach Hause. Freitagabend, wäre Ihnen das recht?“
Der Stadtforscher griff in die Innentasche seines Jacketts und holte ein Portemonnaie hervor, aus dem er eine Visitenkarte zog.
„Hier ist meine Adresse. Ich wohne in Grötzingen, im alten Ortskern. Passt Ihnen 20 Uhr?“
„Ja.“
Tag und Zeit waren Arnold mehr oder weniger egal. Er hatte nicht viel zu tun in Karlsruhe.
Die beiden Männer gaben sich die Hand und Händler strebte zügig davon, die Kaiserstraße hinunter in Richtung Kronenplatz. Arnold ging zurück zu der Gruppe um Birkenmeyer, die jetzt schon auf dem Weg zum Obelisken war. Die Menge hatte sich auf dem Bürgersteig vor dem Hotel Kaiserhof zu einer langen Schlange auseinandergezogen. Wieder meinte Arnold, ein Klicken wahrzunehmen, das jetzt sogar etwas stärker schien. Aber sie liefen ja nun auch auf Pflastersteinen. Trotzdem, ein seltsames Geräusch.
Er blickte auf die Uhr am Rathausturm. Schon zwanzig vor elf. Mehr als anderthalb Stunden waren seit Beginn der Veranstaltung vergangen.
Rund um den Obelisken sammelte man sich wieder. Das Monument, zu Ehren der badischen Verfassung in den 1820er-Jahren errichtet, wurde ebenfalls bei Nacht angestrahlt. Zwei grimmige Greife, die den Sockel auf beiden Seiten flankierten, schienen den Obelisk zu bewachen. Der Greif, ein Fabelwesen aus der Antike, halb Löwe und halb Adler, war seit jeher das Wappentier der badischen Markgrafen wie auch des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg.
„Ein Obelisk stellte – genauso wie eine Pyramide – im alten Ägypten die zu Stein gewordenen Strahlen der Sonne dar“, erzählte Birkenmeyer. „Er galt als Verbindung zwischen der irdischen Welt und der Götterwelt. Ein Tor zum Himmel, wenn Sie so wollen.“
Arnold hatte auf einmal keine Lust mehr, dem Regisseur noch weiter zuzuhören. Er ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen, aber auch die Frau mit dem roten Schal war nirgendwo mehr zu entdecken. Er zuckte die Achseln und machte sich nachdenklich in Richtung Theater und Südstadt davon.