Читать книгу Denk nicht an Morgen - Bernd Kersch - Страница 4
Eine Trennung mit Folgen
ОглавлениеAn mein Leben bis zu meinem zweiten Lebensjahr habe ich nicht sehr viele Erinnerungen. Aber die wenigen, die ich noch habe, sind sehr klar. Ich bin mir bewusst, dass es ungewöhnlich ist, wenn sich ein Mensch an dieses Alter überhaupt erinnern kann, aber dennoch kann ich es.
Ich weiß noch, dass meine Eltern mit mir damals über den Jahrmarkt gingen. Ich war etwa zwei Jahre alt, und so unbekümmert, wie es eben nur ein kleines Kind sein kann, das genau weiß, dass Mama und Papa aufpassen, dass ihm nichts passiert. Dieses Gefühl grenzenlosen Vertrauens in die Eltern, dass einen so unbeschwert den Tag genießen lässt. So ging es mir damals auch, und so habe ich es auch in meiner Erinnerung. Es gab dort, auf dem Rummelplatz, wie überall sonst auch üblich eine Geisterbahn und direkt davor stand ein übergroßes Monster, das sich in regelmäßigen Abständen nach vorne beugte. Ich saß in meinem Kinderwagen und schaute mir mit kindlicher Neugier die Gegend an. Aus mir heute noch unerfindlichen Gründen hatte ich eine riesige Panik vor diesem Monster, das so groß und bedrohlich vor genau dieser Geisterbahn stand, und sich immer wieder leicht nach vorne beugte. Wahrscheinlich hatte ich nur Angst davor, jenes riesige Ungetüm könnte mich mit seinen großen Händen packen und mich von meinen Eltern wegreißen. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass das eigentliche Monster nicht vor dieser Geisterbahn stand, sondern in meinem nächsten Umfeld war. Ich brüllte mir also jedes Mal die Seele aus dem Hals, wenn wir in die Nähe dieses, für mich als kleines Kind sehr gefährlich wirkenden Monsters kamen, ohne auch nur zu erahnen, dass diese schlimme Vorstellung schon sehr bald für mich grausame Realität werden sollte.
So waren meine Eltern gezwungen an dieser Stelle, kurz bevor wir die Geisterbahn erreichten, immer den Kinderwagen umzudrehen, und die Runde in die andere Richtung weiterzugehen. Soweit bis wir von der anderen Seite an dieses Monster herankamen. Dort wiederholte sich dann das Spiel von Neuem. Meine Eltern konnte also niemals eine komplette Runde mit mir gehen.
Kurz nach meiner Geburt wurde ich punktiert. Dabei wird mit einer langen Nadel Flüssigkeit aus dem Rückenmark gezogen. Eine, zumindest damals, sehr schmerzhafte Prozedur. An diese Behandlung habe ich glücklicherweise keinerlei Erinnerung mehr, mein Vater hat mir später davon erzählt, davon, dass ich mich in meinem Bettchen nicht mal mehr aufrichten konnte. Warum ich punktiert wurde, habe weder ich noch mein Vater, jemals erfahren. Auch wenn es mir sehr rätselhaft erscheint, warum mein Vater damals nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um zu erfahren, warum ein Kind ohne die Zustimmung der Eltern, einer solchen Behandlung unterzogen wird, einer Behandlung, die aus medizinischen Gründen nicht nötig war! Und auch heute habe ich dafür noch keinerlei Erklärung, denn Unterlagen darüber gibt es nicht mehr. So wird es für mich immer ein Rätsel bleiben. Vielleicht waren meine Eltern zu diesem Zeitpunkt auch ganz einfach mit noch wichtigeren Dingen beschäftigt, sodass sich niemand um diese Angelegenheit kümmern konnte. Schließlich habe ich ja noch eine Schwester, die zwei Jahre älter ist. Sie lebte seit ihrem dritten Lebensjahr bei meinen Großeltern väterlicherseits. Ich kann nur vermuten, dass zum Zeitpunkt meiner Geburt, die Ehe meiner Eltern schon vollkommen zerrüttet war. Streit und Zank waren damals wohl schon an der Tagesordnung, auch wenn ich diese Dinge nicht aus eigener Erfahrung sagen kann, denn an diese Zeit habe ich tatsächlich keinerlei Erinnerung mehr und kann hier demnach nur alles so aufschreiben, wie es mir erzählt wurde.
Meine Großeltern zogen meine Schwester also seit ihrem dritten Lebensjahr auf, ganz so als ob es ihre eigene Tochter wäre. Da meine Schwester von Geburt an schielte, wollte meine Mutter sich nicht mit ihr in der Öffentlichkeit sehen lassen. Mein Vater war dies nicht recht, und darüber hatten sie sich im Laufe der Zeit immer weiter in einen Streit verwickeln lassen. Sie lebte also bei meinen Großeltern, denn bei meiner Erzeugerin, den Namen Mutter hat sie wirklich nicht verdient, aber ich werde ihn hier der Einfachheit halber weiter verwenden, war sie nicht mehr sicher. Kurz mein Vater hatte keine ruhige Minute mehr, wenn meine Schwester mit ihrer Mutter alleine war.
So kam es dann wohl auch, dass meine Eltern des Öfteren wegfuhren, und meine Schwester hinter dem Fenster meiner Großeltern stand und weinend fragte, warum sie nicht mit durfte. Sie wohnten im Nachbarhaus und standen dann immer mit ihr am Fenster. Es hat sicherlich auch meinen Großeltern das Herz gebrochen. Sie mussten hilflos zusehen, wie wir zu dritt wegfuhren, und sie konnten meiner Schwester nicht erklären, warum sie nicht mit durfte. Ich habe es bis heute leider nicht verstanden, warum mein Vater dies alles zugelassen hat. Vielleicht wollte er ja nur die Ehe oder die Familie retten und hat sich deshalb blind und taub gestellt. Ich weiß es einfach nicht. Möglicherweise hatte er ja niemals aufgehört, diese Frau zu lieben. Diese Frau, die ihn nur benutzte, ihm nur Schaden zugefügt hatte. Da mein Vater ein Familienmensch ist, hat er wohl auch alles getan, um die Familie zu retten. Wer kann schon sagen, wo die Grenze ist, um eine Familie zu retten, wie weit ein Mensch bereit ist, für seine Familie zu gehen.
Mein Vater jedenfalls hatte dies alles damals zugelassen. Er hätte wohl alles getan, um die Familie zu retten, aber letztendlich hat es nichts genützt, er wurde geschieden und die Familie war dennoch zerstört. Es hatte nicht geholfen, das Gegenteil war der Fall.
Meine Familie war wohl die verklemmteste, die man sich nur denken konnte. Sehr viele Themen wurden nur ausgeschwiegen. Ich musste mich durch die Zeitschrift „BRAVO“ aufklären. Schon als kleiner Junge ging ich abends vor dem zu Bett gehen zu meinem Vater und gab ihm die Hand und sagte Gute Nacht. Gerne hätte ich ihn in den Arm genommen. Wie sehr hätte mich dies in späteren Jahren bei meinen eigenen Kindern getroffen. Ich lege auch heute noch sehr großen Wert darauf, dass meine Kinder mit allen Themen ganz normal umgehen, sodass sie jederzeit zu mir kommen können mit all ihren Sorgen und Nöten, egal wie schlimm es auch sein mag. Mein Vater hat damals wohl auch nur so gehandelt, wie er es selbst von seinen Eltern gelernt bekommen hatte. Er kannte es ganz einfach nicht anders. Ich für meinen Teil konnte es damals schon nicht verstehen, warum mein Vater uns nur die Hand gab. Wie gerne hätte ich ihn umarmt, aber dazu fehlte mir der Mut.
Meine Großeltern haben mir in späteren Jahren oft erzählt, wie meine Schwester weinend hinter dem Fenster stand und sie immer wieder fragte, warum ihre Eltern sie nicht mitnehmen würden, und warum ich, ihr kleines Brüderchen, mitfahren durfte. Vielleicht wollten sie nur, dass ich die Wahrheit erfahre, aber ich habe dennoch den Verdacht, dass sie es mir immer mit dem Hauch eines Vorwurfs erzählten. Ich kann es auch nicht verstehen, warum sie nur mich mitnahmen. Mir wäre es niemals in den Sinn gekommen eins meiner Kinder nicht mitzunehmen, weil ich mich dafür schäme. Auch wenn es offensichtlich nur an meiner Mutter lag, da sie sich für meine Schwester schämte, so schwieg mein Vater dennoch dazu. Wenn man sein Kind liebt, dann kann man sich doch nicht dafür schämen. Ein Kind, das doch in seinem bisher sehr kurzen Leben, noch niemals jemanden etwas Böses getan hatte, noch gar nicht den Unterschied zwischen Gut und Böse kannte. Ich war wohl das Schätzchen meiner Mutter, und sie machte offensichtlich auch keinen großen Hehl daraus.
Meine Großeltern wollten das vielleicht nur ausgleichen, und haben darum meine Schwester in späteren Jahren mir stets bevorzugt. Aber sie hatten dabei eines vergessen, ich konnte doch als Zweijähriger nichts dafür, war doch noch nicht für meine Taten verantwortlich.
Ich habe ihnen verziehen, auch wenn ich es niemals verstehen werde, warum sie einen kleinen Jungen dafür bluten ließen, was seine Mutter getan hatte. Dennoch werde ich es immer offen erzählen, denn es ist die harte Wahrheit. Sie sahen es mit ihren Augen, auch wenn ich nicht glaube, dass ich mit zwei Jahren schon für schuldig gehalten werden konnte. Einem Alter, in dem ein Kind definitiv für seine Handlungen noch nicht verantwortlich gemacht werden kann, und schließlich hatte ich selbst doch niemanden etwas getan oder etwas Schlechtes gesagt, geschweige denn gewünscht. Sie behandelten meine Schwester wie ihre eigene Tochter, und ich bekam es auch später mehr als einmal sehr deutlich zu spüren, dass es einen großen Unterschied zwischen uns beiden gab. Sie war eben die geliebte Tochter und ich war nur geduldet.
Heute glaube ich daran, dass ich geboren wurde, um die Ehe zu retten. Ich sollte sicherlich als Kind den Zusammenhalt zwischen den Eltern wiederherstellen. Allerdings glaube ich auch fest daran das dies einzig und alleine der Plan meiner Mutter war, denn mein Vater hätte zu so etwas niemals zugestimmt. Dies kann ich nur deshalb sagen, weil ich meinen Vater schon viele Jahre lang kenne, und deshalb weiß, was für ein Mensch er ist. Von meiner Mutter kann ich dies nicht behaupten, ich kenne sie nicht. Sollte sie mir morgen am Tag auf der Straße begegnen, ich wüsste nicht einmal, ob ich sie erkennen würde? Von all diesen Dingen, die sich in dieser Zeit zugetragen haben, habe ich nicht so viele genaue Erinnerungen. Vieles wurde mir in späteren Jahren erzählt. Fest steht nur, dass sich meine Eltern getrennt haben, als ich zwei Jahre alt war. Meine Schwester durfte sofort bei meinen Großeltern bleiben, da meine Mutter sie sowieso nicht haben wollte. Mich hat sie mitgenommen, was sich später als alles andere als gut für mich herausstellen sollte. Ich kann noch nicht einmal sagen, dass ab diesem Zeitpunkt das Leben nicht mehr normal war, denn das war es vorher wohl auch schon nicht mehr.
Fast der gesamte Streit vor Gericht bezog sich nur auf mich. Ich war in den Mittelpunkt dieses Streites geraten, war zum Mittel zum Zweck für meine Mutter geworden. Was geht in einer Mutter vor, die ihr Kind verleugnet, die offen zugibt, dass sie mit einem Kind das schielt, nicht in die Öffentlichkeit gehen will, da andere Leute sie anstarren könnten. Warum hatte es mein Vater zugelassen, dass meine Schwester bei meinen Großeltern lebt, während ich bei ihnen war. Diese Fragen werden mich wohl den Rest meines Lebens verfolgen, denn es ist unwahrscheinlich, dass ich darauf jemals eine zufriedenstellende Antwort bekommen werde. War mein Vater zu dieser Zeit schon so unter Druck, dass er sich nicht mehr traute, etwas zu sagen. Hatte er Angst vor der ungewissen Zukunft, darauf wie es nach einer Scheidung weitergehen würde. Ein Paar trennt sich und die Mutter bekommt im Normalfall die Kinder. So ist das eigentlich fast immer. Er wusste das sicherlich damals auch schon, und er wusste auch, dass er seinen kleinen Jungen verliert, wenn sie sich von ihm trennen würde. So hat er sicherlich mit schwerem Herzen diesen Dingen beigewohnt, ohne etwas dagegen ausrichten zu können. Aber war der Preis nicht zu hoch gewesen. Ist es moralisch noch vertretbar, bei einer solchen Sache zuzusehen? Ich möchte hier aber keine Anklage erheben, denn er wird sicherlich einen sehr wichtigen Grund gehabt haben, auch wenn ich ihn bis heute nicht verstanden habe, und der Gedanke daran, dass er es nicht verhindert hatte, macht mich sehr traurig. Er war schon immer ein Familienmensch, jemand der niemals ans Meer gefahren war, um Urlaub zu machen, sondern in die Berge zum Wandern, um seinen eigenen Eltern zu helfen, damit diese einen schönen Urlaub verbringen konnten. Es war ihm immer mit am wichtigsten seinen Eltern zu helfen, da diese für ihn auch immer da gewesen waren. Sie hatten ihm während des Scheidungskrieges nicht nur finanziell, sondern auch moralisch beigestanden. Sie hatten ihm geholfen, all diese fürchterlichen Dinge durchzustehen. Die Trennung, die Scheidung und auch der lange und harte Kampf um mich. Alleine hätte er es wohl nicht heil überstanden.
Meine Großeltern waren in einer anderen Generation groß geworden. Sie handelten so, wie sie es für richtig hielten, so wie sie es selbst erlebt hatten. Wir begreifen unsere Kinder heute ja auch nicht immer. Dies ist wohl so ähnlich, und dennoch möchte ich hier niemanden entlasten. Sie haben versucht sich richtig zu verhalten, ob dem nun so sei oder nicht. Sie waren gute und brave Leute. Ihr Leben lang haben sie nichts anderes kennengelernt als harte Arbeit und Sorgen. Sie mussten zwei Kriege, zwei Hungersnöte und jede Menge Elend, Leid und Not in ihrem Leben ertragen. Wer kann es ihnen da verdenken, dass sie vom Leben gezeichnet waren. Schließlich hatten sie es ja nur gut gemeint, auch wenn ein kleiner Junge der große Verlierer dabei gewesen war.