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Das Kindergartenalter

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Drei Jahre ist ein seltsames Alter, und für die meisten Kinder beginnt damit ein ganz neuer Lebensabschnitt. Ich kam in einen Kindergarten, wenn auch nur für kurze Zeit. Dort war ich aber nur wenige Wochen. Warum? Ich kann es nicht genau sagen, vielleicht war ich ungeeignet oder noch nicht reif genug dafür. Ob ich noch nicht so weit war, oder ein gesundheitliches Problem bestand, ich habe es niemals erfahren. Damals war ich noch viel zu jung um mich um solcherlei Dinge zu sorgen, oder mir überhaupt Gedanken darüberzumachen.

Heute nach so langer Zeit gibt es leider keine Unterlagen mehr über diese Zeit. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich so weit war, dieses Buch zu schreiben. Viele Jahre meines Lebens habe ich gebraucht, bis ich genug Mut gesammelt hatte, um diese Schauplätze wieder aufzusuchen, mich mit meiner Vergangenheit so intensiv zu beschäftigen und der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Wie schwer es ist sich an diese Orte zu begeben, an die man teilweise so schreckliche Erinnerungen hat, das alles kann man aufschreiben, aber niemals ganz erklären oder gar vergessen, und ohne meine Frau, die mir immer den Rücken gestärkt und frei gehalten hat, hätte ich dies Buch sicherlich niemals schreiben können. Ihr Verständnis und ihr fester Glauben an mich haben mir die Kraft gegeben, die nötig dazu war.

Meine Mutter wohnte jedenfalls damals mit ihrem zweiten Mann in einem Hochhaus in einer großen Neubausiedlung. Zu dieser Zeit galt es als schick, in einem Hochhaus zu wohnen. Dieser Mann hatte einen riesigen Umfang und konnte eine komplette Scheibe Brot auf einmal in den Mund stecken, und mit einem Bissen herunterschlucken. Ich erinnere mich noch genau an eine Mahlzeit. Wir saßen zu Tisch und es gab Brathähnchen. An diesem Wochenende war meine Schwester für einen Nachmittag zu Besuch. Meine Mutter, meine Schwester und ich teilten uns ein halbes Hähnchen. Er selbst aß anderthalb. Er tat das in einer Geschwindigkeit, wie ich sie seitdem nie mehr gesehen habe, außer in Filmen.

Einige Dinge sind für immer in meinem Gedächtnis hängen geblieben. So musste ich jeden Morgen vor dem Frühstück eine Tablette nehmen. Wogegen, oder wofür sie war, kann ich nicht sagen. Ich denke, meine Mutter hatte eine Krankheit oder ich musste krank sein und sie sollten mich heilen. Da ich als Dreijähriger aber, wie alle Kinder in diesem Alter, meiner Mutter grenzenlos vertraute, schluckte ich sie wortlos herunter und fragte nicht weiter danach. Bis zum heutigen Tag habe ich es niemals in Erfahrung bringen können, warum ich diese Tabletten nehmen musste oder gar nehmen sollte. Niemand hatte sich die Mühe gemacht es mir zu sagen, oder zu erklären. Warum dies niemand, auch in späteren Jahren, für nötig hielt, kann ich nicht genau erklären. Vielleicht wusste mein Vater nicht einmal etwas von diesen Medikamenten, aber meine Mutter musste es ja auf jeden Fall wissen, denn sie gab sie mir schließlich jeden Morgen zum Frühstück. Bis zu meinem Tod wird es wohl immer ein Geheimnis bleiben.

Auch habe ich damals nicht danach gefragt, warum meine Schwester nur für einen Nachmittag kommen durfte, oder ich meinen Vater nur so selten sehen durfte. Für mich war dies alles vollkommen selbstverständlich, ich kannte es nicht anders. Meine Mutter holte meine Schwester auch nur diese Nachmittage zu sich, um vor den Behörden gut dazustehen. Schließlich war da ja noch das Jugendamt, und was hätten die Leute dort gedacht, wenn sie mich haben will und meine Schwester nicht. Zu dieser Zeit zogen meine Großeltern väterlicherseits meine Schwester schließlich schon seit etwa zwei Jahren auf.

Die Vorkommnisse in dieser Zeit sind leider nur zum Teil in meinem Gedächtnis, aber dafür sind jene Einzelheiten mehr als klar. Noch heute, nach über dreißig Jahren kann ich von allen Wohnungen, in denen ich mal gelebt habe, alles genau beschreiben. So passierte es, das ihr damaliger Mann, sie hatte zwischenzeitlich erneut geheiratet, meiner Mutter in einem Streit mit der Rückseite seiner Hand ins Gesicht schlug, sodass sie quer über das Ehebett flog. Ich hatte in der Tür gestanden, da ich das laute Streitgespräch, dass sie vorher geführt hatten, mitgehört hatte.

Es war noch recht früh am Morgen und draußen war es bitterkalt. Sie wollte ihre Koffer packen und ihn verlassen. So stritten sie sehr lautstark, bis er sie dann schlug. Verschreckt ging ich zurück in mein Zimmer. Jemand hatte gerade meine Mutter geschlagen, ich hatte doch sonst niemanden. Das war schlimmer, als wenn er mir den Hintern gehauen hätte, was er auch immer reichlich getan hatte. Sie war meine einzige Bezugsperson dort, wie hätte es auch anders sein können, denn meinen eigenen Vater sah ich schließlich nur alle vierzehn Tage für einen Nachmittag. Dieser Schlag hatte mir mehr geschadet, als wenn er mich selbst geschlagen hätte, und ich weiß das genau, denn dies hatte er sehr oft getan.

Es dauerte eine kleine Ewigkeit bis meine Mutter zu mir in das Kinderzimmer kam. Sie hatte vorher auf dem Bett gelegen und geweint. Ich wusste das ganz genau, ich hatte es nicht gesehen, aber ein Kind merkt und spürt so etwas genau. Ich saß in einer Ecke auf dem Boden und verstand die Welt nicht mehr, und ich hatte auch keine Ahnung, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Sie kam also in mein Zimmer und packte hastig eine Tasche mit Kleidung. Dann nahm sie mich an die Hand und wir gingen rasch hinaus, während sie sich immer noch laut mit ihm stritt.

Da es draußen Winter war, lag auch etwas Schnee und es war sehr kalt. Wir standen eine kleine Ewigkeit an der Bushaltestelle, die nur etwa zweihundert Meter von der Wohnung entfernt war. Ich fror fürchterlich und die Zeit, bis der Bus kam, schien sich für mich wie eine Ewigkeit hinzuziehen. Sie wollte zu ihren Eltern fahren. Dies hatte sie noch zu ihm gesagt, kurz bevor sie die Wohnung verlassen hatte. An diesem Tag verstand ich die Welt nicht mehr, aber dafür bekam ich eine neue Erkenntnis, Erwachsene streiten sich und sie schlagen auch ihre Partner und nicht nur ihre Kinder. Für mich als Dreijähriger war dies eine furchtbare Sache, denn ich dachte doch immer, dass Erwachsene genau wissen was sie tun, dass sie immer und überall das Richtige machen. Ich hatte mich bisher immer darauf verlassen.

Überhaupt habe ich an diesen dicken Mann, wie meine Schwester und ich ihn heimlich nannten, keine guten Erinnerungen. Er hat gern und viel geschlagen, mehr als einmal habe ich den Hintern verhauen bekommen. Es ist mir an dieser Stelle auch sehr wichtig zu erwähnen, dass ich die Bezeichnung dicker Mann nicht benutze, um ihn zu beleidigen, oder mich gar über dicke Menschen lustig zu machen. Nein, dies will ich ganz sicher nicht. Da er für mich als Kind immer nur der dicke Mann gewesen war, ich hatte verständlicherweise keinerlei Beziehung mit ihm und kannte daher nicht mal seinen richtigen Namen, habe ich diese Bezeichnung der Einfachheit halber hier beibehalten. Ich habe meine zweite Frau, mit der ich verheiratet bin, kennengelernt, als sie noch über zweihundert Kilogramm wog. Dies hat mich niemals gestört, den ich habe von Anfang an den Menschen geliebt. Ich erzähle das an dieser Stelle auch nur, um ganz sicherzugehen, dass niemand auch nur im entferntesten daran denkt, ich könnte einen anderen Menschen wegen seines Gewichts diskriminieren. Da ich schon in sehr jungen Jahren erfahren durfte, was es heißt ein Außenseiter zu sein, würde ich dies niemals einem anderen antun wollen.

Manchmal habe ich den dicken Mann einfach nur gehasst, besonders dann, wenn ich mal wieder den Hintern verhauen bekommen hatte. Es ist keine Übertreibung, wenn ich hier schreibe, dass ich ein pflegeleichtes Kind war, umso mehr überlege ich immer wieder, warum er mir so oft den Hintern gehauen hatte. Fest steht, hätte er mich ab und zu mal geschlagen, es wäre mir nicht so tief im Gedächtnis hängen geblieben. Es ist erstaunlich, aber die schlechten Dinge bleiben meistens am besten in Erinnerung, und davon habe ich wohl mehr als genug. Auf jeden Fall war ich froh, als ich mit ihm irgendwann nichts mehr zu tun hatte.

Er hatte noch einen Sohn aus erster Ehe. Dieser war derart verzogen, dass alle Kinder der Siedlung nichts mit ihm zu tun haben wollten. Wahrscheinlich gibt es überall auf der Welt in jeder Siedlung ein Kind, das frech zu anderen Kindern ist, schlimme Dinge sagt, und auch tut, hier war es eben jener Junge, und die anderen Kinder mieden ihn, wo sie konnten. Dumm nur, dass jener Junge ausgerechnet mit mir zusammen in einer Wohnung lebte. Mit meiner Schwester oder mit mir spielten die Kinder in der Siedlung allerdings gern, nur wollten sie eben nichts mit ihm zu tun haben. Als der dicke Mann das herausbekam, sein Sohn hatte es ihm natürlich sofort erzählt, durften wir nicht mehr mit den anderen Kindern spielen. Ein anderes Mal stritt er mit mir alleine, auch wenn ich heute nicht mehr weiß, worum es ging. Ich muss dazu sagen er war gut und gern vier bis fünf Jahre älter, und dementsprechend auch größer und stärker. Jedenfalls drückte er mir die Luft mit seinen Händen am Hals ab. Ich lief dunkelrot an und wäre fast erstickt. Er ließ nach einiger Zeit zum Glück wieder los und ich lief schnell ins Wohnzimmer zu meiner Mutter. Aber diese lachte nur zusammen mit dem dicken Mann lauthals. Es muss wohl furchtbar lustig ausgesehen haben, wie ich kreidebleich hereinkam und alles keuchend erzählte. Ich werde dieses Lachen niemals vergessen. In diesem Augenblick fühlte ich mich herabgesetzt und gedemütigt, wahrscheinlich war ich ihnen nicht so viel wert wie dieser Junge. Wäre ich nicht so klein gewesen, ich wäre an diesem Tag sicher weggelaufen. Aber wohin kann ein Dreijähriger schon alleine laufen? Die Stadt war für mich riesig, und ich wäre sicher nirgendwo angekommen. Also blieb mir nichts anderes übrig als mich hart und unnachgiebig zu geben, und abends alleine in meinem Bettchen zu liegen und zu weinen. Weinen aus Verzweiflung darüber, dass meine Mutter es nicht einmal für nötig empfunden hatte, nachzufragen, was eigentlich passiert war. Noch heute denke ich oft daran, und warum dieser Junge niemals eine Strafe bekommen hatte. Niemand fragte, warum er das getan hatte, und niemand interessierte sich anschließend dafür, ob es mir gut ging.

Zu dieser Zeit hatte ich auch meine erste richtige Krankheit, die Windpocken. Es juckte furchtbar, aber ein Arzt verschrieb ein Puder gegen den unsäglichen Juckreiz. Meine Mutter sah damals sehr oft nach mir und versuchte mich immer vom Kratzen abzuhalten. Es war schön mal im Mittelpunkt zu stehen. Alle Liebe und Zuwendung der Mutter zu bekommen, ich konnte zu jener Zeit ja auch noch nicht ahnen, dass dies das letzte Mal sein würde, dass ich so viel Aufmerksamkeit von ihr bekommen würde.

Eine Sache ist auf jeden Fall wohl noch erwähnenswert. Es gab einmal warmes Kraut zu essen. Meine Mutter war wohl keine so gute Köchin, deswegen schmeckte mir wohl auch eher selten das, was sie kochte. Das Kraut war warm und roch fürchterlich und ich suchte verzweifelt nach einer Lösung, um es nicht essen zu müssen. Meine Mutter ging in die Küche, und ich überlegte fieberhaft, wie ich dieses Kraut loswerden könnte. Mein Blick fiel auf eine Bodenvase, in der einige Blumen waren. Diese hob ich kurz hoch, und dann wurde die Vase mit dem warmen Kraut aufgefüllt, danach kamen die armen Blümchen wieder auf ihren alten Platz. Meine Mutter merkte es nicht gleich, sondern erst einige Tage später. Der Gestank war es wohl, der ihr das Versteck verraten hatte. Ich glaube ich bekam dafür auch den Hintern voll, aber das kann ich nicht mehr sicher sagen. Aber das Kraut hab ich dennoch nicht gegessen.

Es gibt auch etwas Positives aus dieser Zeit zu berichten. Ich bekam mein erstes Auto. Es war wahrscheinlich ein Weihnachtsgeschenk, und es kam... Ich wusste damals nicht von wem, den es wurde mir niemals erzählt. Später habe ich dann erfahren, dass es von meinem Vater war. Eigentlich hatte er meistens immer alles besorgt und gekauft, aber niemand sagte mir das. Auf jeden Fall war ich sehr stolz auf mein knallrotes Auto, und nur ganz ausgesuchte Leute durften mitfahren. Es war ein kleines Tretauto, mit richtigem Kofferraum und Türen. Ich liebte mein Auto, und ich glaube es liebte mich auch ein wenig. Das erste Auto im Leben eines Mannes ist es immer wert erwähnt zu werden, und so möchte ich dies hier auch tun. An diesem Tag war ich glücklich, so glücklich und unbesorgt wie es nur Kinder sein können.

Ich habe aus dieser Zeit gelernt, dass man Kinder mit Schlägen nicht erziehen kann. Das Anschreien keine Lösung von Problemen bedeutet, und das den Hintern verhauen eine angenehme Strafe ist. Es tut höllisch weh, dafür ist es schnell vorbei, und man kann anschließend wieder weiter machen, wo man kurz zuvor aufgehört hatte. Ich konnte den dicken Mann, nachdem er mich geschlagen hatte, noch weniger leiden wie vorher, und ich war froh, als ich dort endlich weg war. Geändert habe ich mich dadurch allerdings nicht. Einzig, wenn meine Mutter mit mir geschimpft hat, dann hat mich das getroffen. All diese Schläge und das Anschreien haben nur eines bei mir bewirkt, ich wurde nach außen immer härter und ließ immer weniger an mich herankommen. Später wurde mir immer wieder erzählt, dass ich als Kind sehr stur sein konnte. Manchmal habe ich mich stundenlang mit niemandem mehr unterhalten. Tatsächlich war dies in meinen Augen nur eine Reaktion darauf, dass ich als kleiner Junge zu oft für Dinge bestraft wurde, die ich wirklich nicht getan hatte. Ich wusste als kleines Kind sehr wohl, wann ich etwas ausgefressen hatte, und wenn ich dann eine Strafe dafür bekam, dann nahm ich diese auch hin. Aber viel zu oft gab es für mich eine Strafe für Sachen, die andere getan hatten. Warum hatte der Sohn von dem dicken Mann immer recht und ich war immer der Schuldige? War er denn etwas Besseres wie ich, oder wurde er einfach nur mehr geliebt. Diese Gedanken beschäftigten mich sehr viele Jahre in meiner Kindheit, denn niemand war da, den ich hätte um Rat fragen können. Niemand der es mir hätte erklären können. So war ich ganz auf mich alleine gestellt, so wie es eben immer in meinem Leben gewesen war.

Denk nicht an Morgen

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