Читать книгу Goetheherz - Bernd Köstering - Страница 5

Prolog

Оглавление

Sie hatte zwei Wochen lang geschlafen. Hendrik sah noch einmal auf den Kalender. Tatsächlich, vom 13. September bis heute. Die Ärzte hatten sich sehr distanziert ausgedrückt: »Ihre Frau liegt im Koma.« Hendrik konnte diesen Ausdruck nicht leiden. »Hanna schläft!«, hatte er sich angewöhnt zu sagen und näherte sich auf diese ihm eigene Art dem Wort »Winterschlaf«. Ein Winterschlaf war nichts Beunruhigendes und verhieß ein frohes Erwachen im Frühling.

Die Stationsärztin hatte mehrmals darauf hingewiesen, dass sie nicht wüsste, ob und wann Hanna wieder aufwachte. Sie hatte nie den Mut gehabt, ihm das ins Gesicht zu sagen, murmelte es beiläufig, während sie sich über Hannas Bett beugte, oder erwähnte es in Hendriks Beisein gegenüber einer Krankenschwester – als wenn die es nicht wüsste. Natürlich wusste Hendrik es auch, doch er war ein Freund klarer Botschaften und hätte ein offenes Gespräch geschätzt.

Viele Stunden hatte er in den vergangenen zwei Wochen an Hannas Bett gesessen, leise mit ihr geredet, für sie Gedichte rezitiert oder gesungen. Immer dasselbe Lied. Und viele Nächte hatte er zu Hause auf dem Küchenstuhl zugebracht, am Fenster, mit Blick auf den kleinen Park an der Bodenstedtstraße, lethargisch auf die Uneinsamkeit wartend. Mehr als sonst hatte er darüber nachgedacht, wie es wäre, für immer allein zu sein. Ohne Ansprache, ohne Austausch, selbst wenn es nur ein paar unbedeutende Sätze wären. Ohne gemeinsame Mahlzeiten an einem liebevoll gedeckten Tisch oder locker in der Küche stehend, in einer Hand ein Brötchen, in der anderen ein Bierglas. Ohne die vertrauten Berührungen und das gegenseitige Wärmen unter der Bettdecke. Er hatte sich geschworen, daran zu denken, wenn Hanna aufwachte, wohl ahnend, dass es schwer werden würde. Schnell konnte ihn der Alltag wieder einholen. Der Alltag – dieses harmlos daherkommende Monster, das schon so viel Lebensfreude und Liebeswahrhaftigkeit unter sich begraben hatte.

Natürlich würde Hendrik eines Tages ohne Hanna sein. Bisher hatte er fest daran geglaubt, diesen Planeten vor seiner Frau zu verlassen. Doch dann war das umgekehrte Szenario mit Macht herangerückt, und er merkte, dass ihm seine imaginäre Variante besser gefiel. Er sah sich selbst in einem lichtdurchtränkten Wolkenmeer schweben, und dieses Bild im Gemenge seiner Fantasie behagte ihm mehr als die Vorstellung, ohne Hanna in der mit Gemeinsamkeit gefüllten Wohnung ausharren zu müssen.

Die Dämmerung schlich sich in die Küche wie ein grauer Dieb. Vor zwei Stunden hatte der Professor angerufen und ihm verkündet, dass Hanna aufgewacht sei. Er müsse noch einige neurologische Untersuchungen durchführen, dann könne Hendrik sie besuchen, gegen Abend, er melde sich wieder.

In den Tagen zuvor hatte Hendrik die Dämmerung als willkommenen Gast hereingelassen, war ohne sich zu rühren sitzen geblieben, bis es dunkel geworden war. Jetzt stand er auf und schaltete das Licht ein. Kurz darauf klingelte das Telefon.

*

Sie hatte sich in die Lüfte erhoben, fühlte sich leicht, flog hoch und weit. Die Stadt lag unter ihr, das Land glich dem Garten ihrer Mutter, sie schwebte höher, die Erdkugel sah aus wie ein vergessener Kinderball im Rinnstein. Jemand rief einen Namen. War es ihr Name? Wer rief da? Während sie höher und höher gezogen wurde, spürte sie Angst, tiefe, wahrhaftige Angst. Irgendwann musste das doch aufhören! Dann nahm sie etwas wahr, das einem Schutzschild ähnelte, direkt über ihr. Es erinnerte sie an die Schildkröte ihrer Großeltern. Unter dem Schutzschild blieb sie förmlich hängen, fühlte sich wie ein reifer Apfel, der nicht vom Baum fallen konnte. Sie meinte, eine Stimme zu hören, die eines Märchenerzählers. War das ihre Großmutter? Nein, eine Männerstimme, aber der Großvater hatte ihr nie vorgelesen. Immer wieder die gleichen Sätze, im subtilen Stakkato, so als wollte man ihr etwas einbläuen, ähnlich den Kirchenliedern im Konfirmationsunterricht. Sie wehrte sich zunächst, merkte dann jedoch, dass es ihr guttat, mehrmals dieselben Zeilen zu hören, die Worte zu spüren und einzuatmen. Wieder und wieder.

Endlich gab der Apfelbaum sie frei. Sie fiel nicht langsam, so wie die Dämmerung zu Hause herabsegelte, sondern schnell wie ein Stein, so wie die Dämmerung am Äquator hereinbricht. Sie fürchtete, auf die Erde zu schlagen, wehrte sich mit Händen und Füßen, schrie, sah, dass alles weiß war um sie herum, schrie noch mehr, bis ein älterer, grauhaariger Herr erschien, sich über sie beugte und mit einer sonoren Stimme erklärte, er hieße Professor … – den Nachnamen verstand sie nicht. Daraufhin wollte sie etwas sagen, war sich allerdings nicht sicher, ob sie sprechen konnte. »Lassen Sie sich Zeit!«, sagte der Professor in einer gütigen Art, und langsam, stockend, fast stotternd brachte sie einen Satz heraus: »Pro…fessor … ist ja … ein komischer … Vorname!«

Daraufhin hörte sie einige Menschen lachen und verzog selbst den Mund zu einem leisen Lächeln. Zu mehr reichte es nicht, denn ihr Kopf schmerzte. Sie könne noch etwas schlafen, hieß es, doch das wollte sie nicht, denn sie befürchtete, wieder ins Fliegen zu kommen. Sie sprach nicht, sondern beobachtete, wie der Professor sie abhorchte und seinen Finger vor ihren Augen hin und her bewegte. Irgendwann später spürte sie eine Hand in der ihrigen und sie tat das, was sie am besten konnte: lachen und weinen zur selben Zeit. »Willkommen zurück!«, sagte Hendrik.

Goetheherz

Подняться наверх