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2. Woche
ОглавлениеLotte Schneider
Frankfurt a. M., Montag, den 13. Oktober, morgens
Hendrik Wilmut erwachte um halb sieben. Zu seinem Erstaunen saß Hanna bereits in der Küche. Er stand an der Tür und lächelte.
»Kannst du mir bitte einen Espresso machen?«, fragte sie.
Hendrik stutzte. Bisher hatte sie Espresso nie sonderlich gemocht und schon gar nicht danach gefragt. Cappuccino, ja, oder Latte macchiato, aber nichts ohne Milch. Gerade wollte er eine flapsige Bemerkung loslassen, denn früher hatten sie darüber oft gescherzt – die Schöne und das Espresso-Biest oder Ähnliches. Doch dann merkte er, dass Hannas Wunsch ernst gemeint war und ihrem momentanen Seelenzustand entsprach, über den er besser keine Späße machte.
»Natürlich, gerne!« Er schaltete seine italienische Espressomaschine ein.
Sie hatte sich ihren Bademantel übergezogen, trotzdem schien sie zu frieren.
Hendrik sah auf ihre nackten Füße. »Soll ich dir die Hausschuhe holen?«
Sie nickte, er ging in den Flur, kehrte mit den dicken Puschen zurück, kniete vor ihr nieder und nahm ihren Fuß in die Hand. Er konnte nicht anders, als vorsichtig über ihre Haut zu streichen. Die Füße waren kalt, trotzdem genoss er es. Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. Vorsichtig streifte er ihr die Hausschuhe über.
Als die Maschine aufgewärmt war, nahm er den Doppel-Siebträger, hielt ihn unter die Kaffeemühle und ließ die voreingestellte Menge Kaffeepulver hineinrieseln. Tamper andrücken, kurz flushen, Siebträger eindrehen, los ging’s.
Zu seinem Erstaunen schien Hanna den Espresso wie ein besonderes Erlebnis zu genießen. War das die »neue« Hanna? Sie kannten sich seit langer Zeit, seit ihrer Jugend. Er überlegte kurz: Damals musste er 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein. Er hatte die Sommerferien bei seinen Großeltern in Weimar verbracht. Hanna Büchler hatte nebenan gewohnt. Etwa 45 Jahre war das her. Füreinander bestimmt waren sie schon immer, so jedenfalls Hendriks Ansicht, aber ein wirkliches Liebespaar wurden sie erst vor 12 Jahren, kurz vor den stürmischen Ereignissen, die sie zwangen, Weimar zu verlassen.
Hendrik stand mit seiner Espressotasse neben dem Kühlschrank, er wollte sich nicht setzen. Er warf einen Blick auf die Zeitung, die ungelesen und zusammengefaltet auf dem Küchentisch lag. Immerhin hatte Hanna sie aus dem Briefkasten geholt. Er schielte auf die Titelseite und dachte an die junge Frau aus Wetzlar, die sich das Leben genommen hatte. Er durfte nicht abschweifen, Hanna war der Fokus seines Daseins.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte er.
»Nein, danke!«
»Ella hat dir Pralinen geschickt.«
Sie nickte.
Er öffnete die Pralinenschachtel und stellte sie neben Hanna. Sie rührte keinen Finger.
»Du kannst ruhig ins Büro gehen«, sagte sie.
Meine Güte, dachte Hendrik, welche Aufmerksamkeit. Sein unruhiges Herumstehen hatte sie als Aktivitätsdrang interpretiert. Er war froh, dass sie ihre Empathie nicht verloren hatte.
»Danke, Schatz, ich will kurz etwas nachsehen. Dann muss ich los in die Uni.«
Sie lächelte.
Hendrik schlürfte seinen Kaffee, stellte die Tasse ab, verließ die Küche und fuhr den PC hoch. Es handelte sich nur um eine vage Idee, eine Ahnung, eine Befürchtung, die sicher schnell geklärt war. Er öffnete den Internetbrowser und gab in das Suchfeld »Wetzlar, Unfall, Tod« ein. Mit zitternder Hand drückte er die Entertaste.
Junge Frau von Zug getötet
Die 28-jährige Lotte S. wurde am 2. Oktober früh um 5.35 Uhr vom Regionalexpress in Richtung Gießen überrollt. Der Zug hatte wenige Minuten zuvor den Bahnhof Wetzlar verlassen und befand sich in den Lahnauen bei Garbenheim. Warum sich die Frau dort aufhielt, ist unklar. Der Zugführer konnte Lotte S. wegen der Dunkelheit und ihrer schwarzen Kleidung erst im letzten Moment erkennen und den Zug trotz eingeleiteter Notbremsung nicht rechtzeitig zum Stehen bringen. Die Polizei geht von einer Selbsttötungsabsicht aus.
Lotte S. – er spürte einen Schwindel aufkommen. Lotte aus Wetzlar. Der Zweifel an einem Suizid sprang ihn förmlich an. Schnell suchte er nach Todesanzeigen und fand sie sofort: »Unsere geliebte Tochter …« Ihr Name war Lotte Amelie Schneider. Sie stammte aus dem Wetzlarer Stadtteil Blasbach.
Es fiel Hendrik schwer, sich vom Computerbildschirm zu lösen. Er erhob sich, um nach Hanna zu schauen. Sie stand im Bademantel auf dem Balkon und bewegte sich nicht. Auch Hendrik wagte kaum, sich zu bewegen, jedoch eher gedanklich als körperlich.
*
Benzodiazepine
Weimar, Montag, den 13. Oktober, morgens
Siegfried Dorst betrat die Kriminalpolizeistation Weimar. Schon eilte ihm Kriminalkommissar Julian Täntzer mit schnellen, kurzen Schritten entgegen. Er wirkte so jung und unbedarft, als sei er gerade vom Schulhof herübergekommen, um ein Praktikum bei der Polizei zu absolvieren. Täntzer wedelte aufgeregt mit einem Blatt Papier. »Guten Morgen, Herr Dorst! Hier ist der Laborbericht, Frau Becker hatte bei ihrer tödlichen Fahrt keinen Alkohol im Blut, null Komma null!«
Dorst sah sich verstohlen um. »Langsam, Täntzer, lassen Sie uns in Ihr Büro gehen, es muss ja nicht jeder wissen, dass ein pensionierter Polizeibeamter Sie unterstützt!«
»Das ist mir egal, aber gut, kommen Sie rein. Kaffee?«
»Ja, gerne.«
Täntzer schloss die Tür hinter ihnen und riss die Kanne so heftig aus der Kaffeemaschine, dass die braune Brühe auf den Teppich schwappte. Er verteilte den Fleck großzügig mit seinem Schuh, goss beiden ein und setzte sich.
»Da, schauen Sie!«
Siegfried Dorsts Augen flogen über den Bericht. »Das heißt, im Labor wurde nur der Alkoholgehalt im Blut bestimmt?«
»Nein, auch Aufputschmittel, die üblichen Substanzen, auf der Rückseite.«
Dorst drehte das Blatt um. Kein Nachweis von auffälligen Substanzen im Blut von Wilhelmine Becker.
»Sie brauchen noch einen Test auf Benzodiazepine.«
Täntzer hob den Kopf. »K.-o.-Tropfen?«
»Genau. Und Medikamente, die die Fahrtüchtigkeit einschränken. Beides könnte zum Unfallhergang passen.«
»Stimmt, aber mehr hat er nicht freigegeben.«
»Der Herr Kriminaldirektor?«
»Ja. Germer sitzt in seinem Büro in Jena, ich soll hier die Arbeit machen und er wirft mir Äste zwischen die Beine oder wie das heißt.«
Dorst lächelte. »Sie meinen ›Knüppel‹. Ruhig Blut, Täntzer. Warum ermitteln Sie eigentlich von Weimar aus und nicht Ihre Kollegen in Jena?«
»Die Kollegen dort arbeiten gerade an einem anderen Fall, der laut Germer höchste Priorität hat. Außerdem meint er, ich könne noch etwas Erfahrung sammeln. Wie er das gesagt hat, so … abschätzig.«
»Ich denke, das ist tatsächlich eine gute Gelegenheit, Erfahrung zu sammeln, vor allem, wenn Sie die Ermittlungen leiten. Egal, wie Germer es sieht, und egal, wie er sich ausdrückt. Betrachten Sie es als Chance!«
»Na gut. Wahrscheinlich haben Sie recht. Wegen der Medikamente, die die Fahrtüchtigkeit einschränken können, werde ich Frau Beckers Hausarzt fragen. Dann wüssten wir zumindest, ob sie solche Präparate regelmäßig eingenommen hat. Eine Überdosierung käme ja auch infrage.«
»Gut so!«
»Nur wegen der K.-o.-Tropfen …« Täntzer zögerte. »Ich weiß nicht …«
»Welches Labor?«
»Das in der Uniklinik Jena, wie immer.«
»Okay, ich kümmere mich darum.«
»Was meinen Sie damit, Herr Dorst?«
»Das sollten Sie besser gar nicht wissen, Täntzer. Ich melde mich wieder!«
*
Spurensuche
Frankfurt a. M., Montag, den 13. Oktober, vormittags
Etwa zur gleichen Zeit betraten Richard Volk und Pascal Simon zum zweiten Mal die Wohnung von Marianne Hermine Schmidt im Frankfurter Stadtteil Oberrad. Hinter ihnen lauerten zwei Kollegen von der KTU. Alle vier hatten nur eine Aufgabe: das Projektil zu finden, das Marianne Schmidts Kopf durchschlagen hatte. Gemäß der Rekonstruktion des Tathergangs konzentrierten sie sich auf die Couch und die Wand dahinter. Zwei Kollegen nahmen das Sitzmöbel auseinander, die anderen beiden suchten die Wand zentimeterweise mit einem Metalldetektor ab. Richard überließ es Simon, auf dem Boden herumzukriechen. Dessen Jeans sah sowieso aus, als sei sie vor 20 Jahren aus der Altkleidersammlung gerettet worden.
Inzwischen wussten sie, dass die Flurnachbarin tatsächlich Frau Schmidts Wohnungstür gehört hatte. Richard hatte sie noch einmal befragt, ihre Aussage war glaubhaft. Außerdem war mittlerweile klar, dass Frau Schmidt um die Mittagszeit erschossen worden war, da sie das Mittagessen bereits im Magen hatte und die Mahlzeit immer pünktlich um 12 Uhr zu sich nahm. Der Türknall konnte auf 12.25 Uhr festgelegt werden, denn die Flurnachbarin hatte zu dieser Zeit ein Telefonat ihres Sohnes angenommen, das sie daran gehindert hatte, hinaus ins Treppenhaus zu gehen oder zumindest durch den Türspion zu schauen. Den Beginn des Gesprächs konnte Richard Volk der Anrufliste ihres Telefons entnehmen. Wenn man annahm, dass Frau Schmidt etwa 15 Minuten zum Mittagessen gebraucht hatte, war somit klar, dass der Todesschuss zwischen 12.15 Uhr und 12.25 Uhr erfolgt sein musste. Dem Attentäter waren also nur rund zehn Minuten geblieben, der bedauernswerten Frau Schmidt ein Stück Holz zwischen die Zähne zu schieben, einen exakten Schuss auszuführen und mit einem wahrscheinlich nicht beabsichtigten Türknall wieder zu verschwinden. Damit hatte er kaum Zeit gehabt, das Projektil zu suchen, was die Chancen der Polizisten erhöhte, selbiges zu finden.
Es dauerte fast eine Stunde, bis sie Erfolg hatten. Das Einschussloch befand sich nicht in der Wand, sondern im Bodenbelag vor der Wand. Um nicht zu lange am Tatort zu verweilen, hatte der Täter sich offensichtlich entschieden, es nicht herauszuholen, und stattdessen eine Bodenvase auf die Öffnung gestellt. Richard schüttelte den Kopf. Nicht mit uns! Natürlich fehlte ihnen noch die Tatwaffe, aber sobald sie sie gefunden hatten, konnte über die jedem Lauf eigenen Kratzspurenmuster ein gerichtsverwertbarer Zusammenhang mit diesem Projektil hergestellt werden. Richard Volk ging in die Hocke und strich mit den Fingern über den Bodenbelag. Er nickte und stellte mit einer gewissen Genugtuung fest, dass es sich um einen modernen Vinylboden handelte, der weicher war als Parkett oder Laminat. Dies war wichtig, denn das Eindringen des Projektils in Holz hätte möglicherweise die spezifischen Kratzspurenmuster durch Fremdspuren verfälscht. Eine Hülse entdeckten sie nicht, die hatte der Mörder offensichtlich mitgenommen.
Während die beiden KTU-Kollegen begannen, vorsichtig den Vinylboden zu öffnen, gab Richard Volk seinem Jungkommissar einen Wink und sie verließen gemeinsam die Wohnung.
Im Wagen sitzend führte Richard ein Telefonat, in dem er nach dem Hausarzt des Offenbacher Opfers, Elisabeth Müller, fragte. Nach mehreren »Hm« und »Ja« und »Okay« legte er auf.
»Wer war das?«, fragte Pascal Simon.
»Ein alter Kumpel«, antwortete Volk. »Wir fahren nach Offenbach.«
»Was? Nach Offenbach? Ist das Ihr Ernst?«
»Ich weiß, dürfen wir eigentlich nicht. Aber ehrlich, diese ewigen Revierstreitigkeiten gehen mir total auf den Senkel. Auf geht’s! Dr. Volker Rosennadel, Arzt für Allgemeinmedizin in Offenbach-Bürgel.«
Sie konnten den Doktor nicht sofort sprechen, weil das Wartezimmer voll war mit Grippepatienten. Die Arzthelferin, per Namensschild als Auszubildende gekennzeichnet, unterhielt sich nur mit Pascal Simon, wobei sie krampfhaft versuchte, ihre Sympathie für ihn zu unterdrücken. Das misslang gehörig und Volk konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. War das schön, jung zu sein! Endlich gelang es Simon, sich loszueisen. Er gab der Arzthelferin seine Visitenkarte und bat sie, anzurufen, sobald Dr. Rosennadel Zeit für ihn hatte. Für »ihn« – Richard ließ es geschehen. Die beiden Polizisten gingen in ein Stehcafé auf der anderen Straßenseite und bestellten zwei Tassen Kaffee, eine Nussecke und ein Stück Sachertorte. Richard war ein absoluter Fan dieser Torte und ordnete die Offenbacher Stehcafé-Version auf einer Skala von 1 bis 5 bei 4 ein. Er brummte zufrieden vor sich hin, während er sich die Süßspeise auf der Zunge zergehen ließ. Pascal erzählte derweil vom Training in seinem Schwimmclub, was Richard Volk mit hochachtungsvollem Nicken quittierte, denn er selbst hatte die Sportprüfungen bei der Polizei immer nur mühsam bestanden. Zudem hatte er seine Restsportlichkeit inzwischen zugunsten der bewussten Kulinarik abgelegt. Für eine halbe Stunde entkoppelte er seine Gedanken von den beruflichen Notwendigkeiten.
Endlich klingelte Simons Telefon. Sie gingen hinüber in die Praxis, Richards junger Kollege erzeugte bei der Azubine erneut ein Hollywoodlächeln, bevor er seinem Chef ins Sprechzimmer von Dr. Rosennadel folgte. Der Arzt war sichtlich geschockt, als er von Elisabeth Müllers Tod erfuhr. 68 Jahre sei ja kein hohes Alter heutzutage, meinte er. Und eins wolle er festhalten: Er habe auf keinen Fall einen Fehler gemacht, der womöglich zum Tod von Frau Müller geführt haben könnte. Dann zählte er eine Menge Argumente auf, um dies zu unterstützen, bis Volk ihn unterbrach und nur ein einziges Wort sagte: »Mordverdacht!« Der Arzt wurde bleich und setzte sich. Schließlich erklärte Simon, dass ihm keiner einen Vorwurf mache und sie nur wissen wollten, woher die Einstichstelle am Oberschenkel stamme. Dr. Rosennadel rief die elektronische Patientenakte von Elisabeth Constanze Müller auf. Er habe ihr nichts injiziert und er könne sich nicht vorstellen, dass Frau Müller einen anderen Arzt konsultiert habe, denn es bestehe ein jahrelanges Vertrauensverhältnis zwischen ihm und der Patientin sowie deren Familie. Ein Dahinscheiden aufgrund von Altersschwäche schloss er kategorisch aus. Dann berichtete Richard von der Autopsie und dass Dr. Bergen keine Hinweise auf die Todesursache gefunden habe. Der Doktor überlegte einen Moment und sah noch einmal auf seinen Bildschirm. Anschließend blickte er Richard Volk bedeutungsvoll an. Es sei möglich, meinte er, dass man ihr eine Überdosis Insulin injiziert habe. Der Oberschenkel sei eine bevorzugte Stelle für den Einstich einer Insulinspritze oder eines Insulinpens. Nach etwa acht Stunden sei das Insulin nicht mehr nachweisbar, weil es vom Körper verstoffwechselt werde. Deswegen habe der Kollege bei der Leichenschau gar nichts finden können. »Das ist aber nur eine Hypothese«, fügte er hinzu.
Als Richard Volk und Pascal Simon wieder im Auto saßen, dachten beide eine Weile nach, still und sprachlos. Nach einiger Zeit nickte Simon seinem Chef zu und der nickte zurück. Immerhin eine mögliche Todesursache. Die Sache verdichtete sich.
*
Blutanalyse
Weimar, Montag, den 13. Oktober, mittags
Siegfried Dorst klopfte.
»Herein!«
»Guten Tag, Wolfgang!«
»Hallo, Siggi, komm rein. Was machst du denn bei mir im Labor?«
»Ich dachte, hier können wir besser reden als auf dem Tennisplatz.«
»Hört sich ja geheimnisvoll an.«
»Ist es auch. Du hast vor Kurzem die Blutprobe einer verstorbenen Frau erhalten, Wilhelmine Gertrude Becker.«
»Kann sein«, antwortete er und notierte sich den Namen. »Ich habe natürlich nicht alle Patientennamen im Kopf, um was geht es denn?«
»Mein spezieller Freund Germer hat für die Untersuchung nur Blutalkohol und Drogen freigegeben. Wir brauchen aber noch die Analyse auf Benzodiazepine und Medikamente, die die Fahrtüchtigkeit einschränken, Antihistaminika und so was. Ist wichtig, es könnte nämlich sein, dass sie nicht einfach so gegen einen Baum gefahren ist, sondern vorher betäubt wurde.«
Wolfgang hob die Augenbrauen. »Oha.« Er schien beeindruckt. »Habt ihr schon ihren Hausarzt befragt?«
»Täntzer ist dran.«
»Okay, pass auf. Vorschlag: Das mit den Medikamenten überlasst ihr tatsächlich dem Hausarzt, denn da müsste ich nach zu vielen Grundstoffen suchen, das geht nicht mal so eben zwischendurch. Außerdem werden die nur selten für kriminelle Zwecke benutzt. Ich prüfe auf zwei Benzodiazepine, nämlich Flunitrazepam und Temazepam. Sicherheitshalber außerdem Chloralhydrat, das wurde früher benutzt, kommt ab und zu noch aus dem Balkan rüber. Und natürlich GHB und GBL.«
»Liquid Ecstasy?«
»Genau.«
»Super, Wolfgang, so machen wir es. Ich habe dir ein kleines Dankeschön mitgebracht.« Mit diesen Worten zog Siggi eine Flasche Wein unter seiner Jacke hervor.
»Die hast du aber gut versteckt!«, sagte Wolfgang und lachte.
»Stimmt. Das ist meine letzte Flasche Elbling vom Weinberg in Kromsdorf, du weißt, der gehörte dem Prinzen zu Lippe. Er musste aufgeben.«
»Ja, ich hab davon gehört.« Wolfgang nahm die Weinflasche entgegen. »Wow, ein seltenes Stück, vielen Dank! Sieht ja fast nach Bestechung aus.«
»Ist es eigentlich auch. Aber für einen guten Zweck.«
»Das stimmt. Übrigens, Siggi: Falls es einen positiven Befund geben sollte, wie wollt ihr das dem Herrn Kriminaldirektor verkaufen?«
»In diesem Fall schickst du bitte einen offiziellen Bericht an Täntzer und schreibst dazu, dass du die zusätzlichen Parameter ›aus Versehen‹ bestimmt hast und ob er zufällig etwas damit anfangen könne.«
Wolfgang lachte. »Okay, mache ich!«
Dann öffnete er seine Schreibtischschublade, legte den Elbling hinein und begleitete Siggi zur Tür. Er sah auf die Uhr. »Es ist jetzt Viertel nach drei. Ich werde die Analyse heute Abend selbst durchführen. Spätestens bis Mitternacht hast du das Ergebnis.«
»Danke!«, sagte Siggi. »Sehen wir uns am Donnerstag auf dem Tennisplatz?«
»Selbstverständlich!«
*
Herzdamen
Frankfurt a. M., Montag, den 13. Oktober, mittags
Hendrik Wilmut war zufrieden. Zwar hatte er am Vorabend nur kurz in sein Vorlesungsskript geschaut – zu schön war der gemütliche Sonntag mit Hanna gewesen –, aber solche Unzulänglichkeiten glich er mit seiner jahrelangen Routine aus. Während der Mittagspause saß er neben der Nymphe im Innenhof des Poelzig-Baus in der Sonne und freute sich über Hannas kleine Fortschritte. Die Sache mit Lotte in Wetzlar war wohl nur Einbildung gewesen, und er beschloss, seinen Verdacht in den geistigen Mülleimer zu werfen.
Bevor die nächste Vorlesung begann, wollte Hendrik noch seine E-Mails durchsehen. Er ging dazu in die Rotunde, den halbkreisförmigen Teil des Foyers, in dem General Eisenhower nach Kriegsende sein Büro eingerichtet hatte. Hier war das Display des Tablets besser zu erkennen als in der prallen Sonne. Er zuckte zusammen:
Sehr geehrter Herr Dr. Wilmut,
Sie haben über die Website www.dealer.by einen illegalen Download des Songs »Spanish Harlem« getätigt und sind uns dafür den Betrag von 5 Euro schuldig. Hinzukommt eine Strafgebühr von 400 Euro, zusammen 405 Euro. Ort: Trient, Hotel Albergo della Rosa. Zeit: Dienstag, 9. September um 6.14 Uhr. Da Sie den vereinbarten Termin (12. Oktober) nicht eingehalten haben, müssen wir leider unser Inkassounternehmen beauftragen, Sie zu liquidieren. Es hat keinen Sinn, die Polizei einzuschalten, unser Server steht in Weißrussland und ist von Deutschland aus nicht zu identifizieren.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Nikolaj Mestroff
Hendrik sah sich um. Überall Studenten. Sollte einer von ihnen …? Nein, unmöglich. Der »vereinbarte Termin« – welche Unverschämtheit! Gestern war der 12. Oktober, da war die einseitig gesetzte Frist abgelaufen. Und dann dieser Ausdruck: liquidieren! War das Wort in Anbetracht der Doppeldeutigkeit absichtlich gewählt worden oder war es ein Versehen aus Unkenntnis der deutschen Sprache? Hendrik bezweifelte inzwischen, dass hier irgendetwas zufällig passierte. Langsam, aber sicher breitete sich Angst in seinem Inneren aus. Er war kein übermäßig angstbesetzter Typ. Als kleiner Junge vielleicht schon, seit einer Schlägerei in der Jugendzeit jedoch nicht mehr. Damals hatte er trotz seiner schmächtigen Gestalt einen wesentlich kräftigeren Angreifer, den Anführer einer dumpfen Jugendgang, mittels Beweglichkeit und intelligenter Kampfführung abwehren können. Doch dies hier war etwas anderes, eine undurchsichtige, hinterhältige Schlacht aus der Ferne, eine elektronische Guerillataktik. Die Absenderadresse war dieselbe wie zuvor: der weißrussische Rechtsminister. Warum war diese Nachricht überhaupt zu ihm durchgedrungen? Er hatte doch den Absender blockiert … oder? Mit Wucht schoss eine Erkenntnis in sein Bewusstsein, die ihm kurzfristig die Luft nahm: Die Absenderblockade hatte er in seinem privaten E-Mail-Account eingerichtet, jetzt war er gerade in seinem dienstlichen Account über das Netzwerk der Universität eingeloggt. Der Kerl, dieser Mestroff, der wusste, wo Hendrik arbeitete! Sein Magen verkrampfte sich. Im selben Moment erklang das vertraute Rufsignal seines Mobiltelefons. Im Display erschien »Hanna«. Er nahm ab. Rascheln, seltsame Geräusche, keine Stimme.
»Hanna?«
Keine Antwort.
»Hanna!«
»Ja, Hendrik, hallo …« Ihre Stimme klang unsicher. »Hilf mir bitte!«
Sein Herz schlug hinauf bis in die letzte Hirnwindung. Er schoss hoch. »Was ist los? Wo bist du?«
»Ich … also ich wollte doch nur zum Friseur, ich sehe schrecklich aus.«
»Aber, Schatz, heute ist Montag, da haben die Friseure zu, alle Friseure haben montags geschlossen. Hast du das vergessen?«
»Ich weiß nicht, ja, wahrscheinlich habe ich das vergessen. Und jetzt?«
»Jetzt hole ich dich ab. Bist du in der Brückenstraße, wie immer?«
»Ja, Brückenstraße.«
»Bitte bleib dort stehen, rühr dich nicht vom Fleck! Ich bin gleich da!«
»Ist gut.« Dann war die Verbindung unterbrochen.
Hendrik rannte in den Vorlesungssaal und raffte seine Sachen zusammen. »Ich muss los, wir machen nächste Woche weiter!« Damit ließ er seine Studenten stehen und eilte zum Parkplatz.
Hanna war nicht vor dem Friseursalon stehen geblieben. Hendrik suchte einige nahegelegene Läden ab. Nichts. Wo konnte sie sein? Irrte sie durch Sachsenhausen? Vielleicht hatte sie doch den Weg nach Hause gefunden? Er fuhr in die Bodenstedtstraße, trotz aller Hektik bemüht, die Verkehrsregeln einzuhalten. Zum Glück konnte er direkt vor dem Haus parken, was selten vorkam. Er rannte die Treppe hinauf und öffnete die Wohnungstür. Auch hier fand er sie nicht. Jetzt fiel ihm nur noch eine Möglichkeit ein: der Ort der Katastrophe des 13. September. Hendrik rannte los. Schwer atmend erreichte er Minuten später den Affentorplatz.
Sie saß auf einer Bank und starrte auf ihr Café. Auf »Hanna’s Wohnzimmer«. Als er sich neben sie setzte, sah sie ihn an, sagte kein Wort und zitterte. Er nahm sie in den Arm, lange, hielt sie warm, und sie ließ es geschehen. Dann führte er sie nach Hause. Hendrik legte sie ins Bett, flößte ihr löffelweise Tee ein und wartete, bis sie eingeschlafen war. Lange nachdem sie bereits begonnen hatte, gleichmäßig zu atmen, saß er noch an ihrem Bett.
Gegen 22 Uhr meldete sein Smartphone eine neue Nachricht. Siggi schrieb, dass Wilhelmine Becker mit einer relativ niedrigen Dosis K.-o.-Tropfen ins Auto gesetzt worden war. Sie hatte es in diesem Zustand bis ins Isserstedter Holz geschafft, dann war ihr Weg zu Ende gewesen. Kurz darauf meldete sich auch Richard. Es bestand der dringende Verdacht, dass Elisabeth Müller mit einem nicht nachweisbaren Gift, möglicherweise mit einer Überdosis Insulin, umgebracht worden war. Drei Morde. Und nur Hendrik allein wusste, dass es bereits vier waren. Elisabeth Müller in Offenbach, Wilhelmine Becker in Jena, Marianne Schmidt in Frankfurt und Lotte Schneider in Wetzlar. So wie Elisabeth »Lili« Schönemann aus Offenbach, Wilhelmine »Minchen« Herzlieb aus Jena, Marianne »Suleika« von Willemer aus Frankfurt und Charlotte »Lotte« Buff aus Wetzlar.
Das konnte nie und nimmer ein Zufall sein.
*
Gegen die Wand
Frankfurt a. M., Mittwoch, den 15. Oktober, mittags
Hendrik Wilmut hatte in der vergangenen Nacht lange wachgelegen. Er musste die zwei kritischen Themen, die seinen Alltag bestimmten, aktiv angehen: Hanna und Lotte. So weit sein fester Entschluss. Aber wie?
Was Lotte betraf, hatte er seine Meinung geändert. Er musste der Polizei von seiner Vermutung berichten. Was die Beamten daraus machten, war deren Problem.
Das Hanna-Thema war komplizierter. Hendrik dachte oft an die Ermahnung des Professors, die Aufarbeitung seiner eigenen Schuldgefühle nicht auf Hanna zu projizieren. Dem Geistesblitz folgte ein Gedanke, der Erkenntnis ein Impuls: Was war überhaupt Schuld? Im einfachsten Sinn war Hendrik jemandem etwas schuldig und dieser »moralische Kredit« musste zurückgezahlt, musste beglichen werden. Doch wie konnte er die Schuld am Tod seines Cousins Benno jemals begleichen? Es war keine Schuld im juristischen Sinn, das war damals von der Alsfelder Staatsanwaltschaft geklärt worden. Hendrik hatte zwar den Wagen gelenkt, aber der LKW-Fahrer war mit überhöhter Geschwindigkeit zu weit auf die linke Spur geraten und hatte ihn touchiert. Mitten in einer Autobahnbaustelle. Er hätte das nicht vorhersehen können, meinte der Staatsanwalt. Trotzdem blieb eine moralische Schuld. Er kannte Menschen, die eine religiös motivierte Antwort darauf hätten geben können. Diese Sichtweise hätte Hendrik allerdings keine Erlösung gebracht.
Und dann blieb ja noch die Frage nach der Verantwortlichkeit für Hannas Situation. Ihr konnte er wenigstens helfen, ihr konnte er etwas zurückgeben. Diese Einsicht beruhigte ihn.
Rückblickend war er der Überzeugung, dass Hanna am Montag zu wenig getrunken hatte, wodurch sie in eine gewisse Verwirrung geraten war und meinte, zu einem Friseur gehen zu können. Am Dienstag hatte Hendrik Urlaub genommen, er wollte bei seiner Frau bleiben. Für den heutigen Mittwoch hatte er seine Mutter gebeten, tagsüber nach ihr zu sehen. Hanna fand das überflüssig, aber Hendrik bestand darauf. Er wusste, dass Hanna und seine Mutter, Hedda Wilmut, sich mochten und sich achteten. Hedda war mit 83 Jahren immer noch fit, geistig sowieso, körperlich mit Einschränkung durch zeitweise Rheumaschübe. Sie würde per Taxi vom Offenbacher Hafenviertel herüberkommen nach Sachsenhausen.
Der neue Vorlesungs- und Seminarplan am Fachbereich 10 der Goethe-Universität Frankfurt hatte für Dr. Hendrik Wilmut am Mittwoch eine lange Mittagspause vorgesehen, gerade recht, um mit Richard Volk in der Kantine des Polizeipräsidiums ein Gespräch zu führen. Auf dem Weg dorthin telefonierte er kurz mit seiner Mutter, um sicherzugehen, dass es Hanna gut ging. Sie hatte ihr den Rest der Hühnersuppe aufgewärmt. Alles in Ordnung.
Richards grauer Fünftagebart passte nicht zu seinen blonden Haaren, fand Hendrik. Er musste sich schon einige Tage nicht rasiert haben. Man hörte davon, dass verlassene Partner sich oft vernachlässigten, in Richards Fall schien der Auszug von Monika genau diesen Effekt hervorgerufen zu haben. Sie hatten ihre Teller bereits geleert.
»Also, Hendrik, um was geht’s?«
»Um die Mordserie, die du bearbeitest.«
Richard sah ihn prüfend an. »Ich bearbeite keine Mordserie, sondern einen Mord in Oberrad und gemeinsam mit meinem Kumpel einen bisher ungeklärten Todesfall in Offenbach. Mehr nicht.«
»Es gibt noch einen Mordfall. In Weimar …«
»… um den kümmert sich KK Täntzer!«
»Ich denke, an dem wirst du auch bald beteiligt sein.«
»Na komm, jetzt erzähl keinen Unsinn!«
»Außerdem bin ich auf einen vierten Mord gestoßen.« Hendrik versuchte, ruhig zu bleiben.
»Wie bitte?«
»In Wetzlar wurde eine Frau namens Lotte Schneider getötet. Alle gehen davon aus, dass sie sich selbst vor den Zug geworfen hat. Ich bin aber überzeugt, dass das nicht stimmt, sie wurde gestoßen.«
Richard kniff die Augen zusammen. »Und das willst du als …?«
»Amateur?«
»Ja, als Amateur, entschuldige, aber so ist es doch. Das willst du also wissen?«
»Nun, wissen wäre übertrieben. Sagen wir: Ich habe den dringenden Verdacht. Und … sorry, auch wenn es dich wahrscheinlich nervt … Es gibt erneut Verbindungen zu Goethes Leben.«
»Nein, Hendrik, bitte nicht schon wieder!« Er hob die Hände und schüttelte den Kopf wie ein Verzweifelter.
»Marianne, Elisabeth, Wilhelmine und Lotte – alles Namen von Goethes Liebschaften, Schwärmereien, wie immer man das nennen möchte. Ich bezeichne sie jetzt einfach mal als seine Herzdamen.«
»Meine Güte, das sind gebräuchliche Vornamen von älteren Frauen, reiner Zufall.«
»Goethes Beziehung zu Marianne von Willemer begann 1814 in Frankfurt, und nicht nur das, die Gerbermühle in Oberrad spielte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Wo wurde Marianne Schmidt ermordet? In Oberrad. Der Schwerpunkt seiner Beziehung zu Elisabeth Schönemann, genannt Lili, lag in Offenbach, bis heute sind dort der Lilitempel, die Lilistraße und so weiter zu finden. Wo wurde Elisabeth Müllers Leiche gefunden? In Offenbach.«
»Also langsam …«
»Hör mir bitte zu. Wilhelmine Becker starb in Jena, Wilhelmine Herzlieb, genannt Minchen, war Goethes Flirt in Jena, sein ›Äugelchen‹, wie er das nannte. Und nun auch noch eine Lotte, die berühmte Lotte aus dem Werther. In Wetzlar! Wenn das Zufall ist, dann ist mein ganzes Leben ein Zufall!«
»Meine Güte, Hendrik, du hast dich da ja richtig reingesteigert. Über das Leben als Zufall oder Vorbestimmung diskutieren wir später mal. Jetzt klären wir den Wetzlarer Fall, Moment bitte!« Damit zog er sein Handy aus der Tasche, suchte einen Kontakt und tippte darauf. Nebenbei sagte er zu Hendrik: »Ich rufe Sandra Prager an, Kriminaloberkommissarin im PP Mittelhessen.«
Sie schien sich zu melden.
»Hallo, Sandra, Richard hier … ich … ja, es geht mir gut, danke. Ich brauche bitte eine Auskunft. Lotte Schneider, Wetzlar, kennst du den Fall?«
Hendrik schob ihm einen Zettel mit handschriftlichem Gekritzel hinüber.
Richard nickte beiläufig. »Vollständig hieß sie Lotte Amelie Schneider.« Er wartete. »Hast du die Akte? Gut. Gibt es da irgendeinen Hinweis auf Fremdeinwirkung?«
Er hörte zu, brummte mehrmals »Hm« ins Telefon und sagte schließlich: »Danke, Sandra! Ach, eins noch, findest du im Obduktionsbericht Hinweise auf eine gebrochene rechte Hand oder mehrere gebrochene Handwurzelknochen?« Er hörte wieder zu. »Okay, danke dir, mach’s gut!«
Er legte auf und sah Hendrik an: »Kein Hinweis auf Fremdverschulden. Sie war in einer menschenleeren Gegend, am Lahnufer, dorthin gehen Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, damit sie keiner im letzten Moment davon abbringt. Die eingesammelten Reste ihres Leichnams, wie Sandra sich ausdrückte, sind bereits beerdigt worden, also selbst wenn wir Nachuntersuchungen anstellen wollten, ist es zu spät.«
»Man könnte sie exhumieren.«
Richard schüttelte heftig den Kopf. »Das willst du den Eltern doch sicher nicht antun, oder?«
Hendrik dachte an die Todesanzeige. Unsere geliebte Tochter. »Nein, das will ich nicht«, murmelte er.
»Abgesehen davon, Hendrik, kein Verantwortlicher innerhalb der Ermittlungsbehörden würde nur auf deinen – wie soll ich sagen …? – literarisch begründeten Verdacht hin eine Exhumierung anordnen oder eine überregionale Untersuchungskommission einrichten, keine Chance.«
»Um was ging es denn bei deiner Frage nach der rechten Hand?«
»Dr. Bergen hat festgestellt, dass bei Frau Schmidt und bei Frau Müller fast alle Handwurzelknochen gebrochen waren, rechtsseitig. Er konnte allerdings nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um prä- oder postmortale Verletzungen handelte.«
»Und was sagt Sandra Prager?«
»Im Obduktionsbericht fand sich dazu kein Vermerk.«
Hendrik überlegte. »Okay, Richard, ich gebe auf. Aber eins versprichst du mir bitte, sobald in den anderen Städten, in denen Goethe Liebschaften unterhielt, eine Frau zu Tode kommt, dann meldest du dich, okay?«
Richard Volk wirkte unschlüssig.
»Bitte!«, schob Hendrik nach.
»Meinetwegen. Welche Städte kämen denn rein theoretisch infrage?«
Hendrik ging in Gedanken Goethes Lebenslauf durch. »Leipzig, Straßburg – natürlich Weimar – Rom und Marienbad. Eventuell noch Ehrenbreitstein.«
Richard sah ihn verständnislos an.
»Ehrenbreitstein, die Festung bei Koblenz.«
Im selben Moment trat eine Frau an ihren Tisch. »Herr Kriminalhauptkommissar Volk?«
»Ja bitte?«
Ein Telefonat für Sie, am Empfang, die Dame meint, es sei wichtig.«
»Wie heißt denn die Dame?«
»Sonja Müller.«
Volk sprang auf und rannte los.
Hendrik warf einen Blick auf die Uhr. Seine Studenten warteten. Er verließ das Polizeipräsidium. Als er am Empfangstresen vorbeikam, war Richard dort immer noch am Telefon. Sonja Müller? Hendrik meinte, diesen Namen schon einmal gehört oder gelesen zu haben.
*
Lasagne und Pralinen
Frankfurt a. M., Mittwoch, den 15. Oktober, abends
Als Hendrik Wilmut die Wohnungstür aufschloss, stieg ihm der Duft von italienischem Essen in die Nase.
»Hallo, Schatz«, rief Hanna aus der Küche. »Ich habe Lasagne gemacht. Und Salat!«
Der Esstisch war gedeckt, eine Flasche Rotwein entkorkt, in der Küche stand eine lächelnde Hanna mit Schürze und roten Wangen. »Mutter hat mir geholfen. Sie ist vor einer halben Stunde wieder nach Hause gefahren.«
Hendrik nahm sie in den Arm und küsste sie zärtlich. »Danke!«, sagte er leise. »Das riecht sehr gut!«
Sie gab ihm eine große Portion Lasagne auf den Teller.
»Und du?«, fragte er.
»Mir reicht ein bisschen Salat.«
Er kommentierte ihre Entscheidung nicht.
»Deine Mutter meint, Liebe geht durch den Magen.«
»Ja, das stimmt!«, sagte Hendrik, und obwohl es sich um einen recht abgenutzten Satz handelte, freute er sich darüber.
»Hendrik, als ich am Montag vor meinem Café saß, da habe ich über den Abend nachgedacht. Den Abend des 13. September.«
Er hörte auf zu kauen und sah sie an.
»Und über all das, was damals passiert ist. Soweit ich mich überhaupt daran erinnern kann.«
Hendrik legte das Besteck zur Seite. »Das ist gut, Hanna. An was kannst du dich denn erinnern?«
»Das weiß ich nicht genau, das … dauert noch.«
»Ist gut, ich lasse dir Zeit, so viel du brauchst.«
Sie lächelte. »Danke, das ist lieb von dir. Nur eins weiß ich bereits: Ich möchte das Café nie wieder betreten. Kannst du dich bitte darum kümmern, dass der Pachtvertrag gekündigt wird?«
Hendrik Wilmut war schockiert. Damit hatte er nicht gerechnet. War das nur eine Kurzschlussreaktion? Ein Aufbäumen ihres Unterbewusstseins?
»Gut, mache ich«, antwortete er. Zugleich beschloss er, ein paar Tage zu warten, bevor er etwas unternahm, um sicherzugehen, dass dies tatsächlich ihr Wille war.
»Magst du eine Praline zum Nachtisch?«, fragte Hanna.
»Oh nein, danke, ich bin pappsatt!«, antwortete Hendrik.
»Gut, dann esse ich die eben allein.« Innerhalb von fünf Minuten leerte sie den Rest von Ellas Pralinenschachtel.
Andersartige Ess- und Trinkgewohnheiten, ungewohnte Ansichten: die neue Hanna. Es wurde Zeit für Hendrik, sich daran zu gewöhnen.
*
Moverapid
Frankfurt a. M., Donnerstag, den 16. Oktober, vormittags
Hendrik Wilmut saß in der Straßenbahn auf dem Weg zur Uni, als sein Handy klingelte. Er nahm ab.
»Richard hier, hast du am Samstag Zeit, mit Pascal und mir nach Gießen zu fahren?«
»Wie bitte?«
»Ich habe eine Besprechung anberaumt mit den Kollegen aus Frankfurt, Gießen und Weimar. Plus Siggi und dir. Wir treffen uns im Polizeipräsidium Mittelhessen.«
»Eine weitere Frauenleiche? Wo?«
»In Straßburg. Friederike Meyer.«
Hendrik atmete tief durch. Wie weit sollte das noch gehen? Hätte er den Tod dieser Frau verhindern können? Oder sogar verhindern müssen? Das schlechte Gewissen pochte in seinen Eingeweiden.
»Bist du noch dran?«, fragte Richard.
»Ja. Natürlich. Das muss ich erst einmal verdauen. Wann wurde diese Friederike …?«
»Meyer. Mit e und y.«
»Ja, diese Friederike Meyer, wann wurde sie ermordet?« Etwas anderes als Mord kam Hendrik nicht in den Sinn.
»Am 6. Oktober, also vor rund zehn Tagen«, antwortete Richard.
Ein wenig beruhigte sich Hendriks Innenleben. Er hätte den Tod von Friederike Meyer nicht verhindern können, nicht am Montag letzter Woche, dem Tag, an dem er abends mit Richard beim Patron gespeist hatte. Trotzdem ließ sich das Chaos der Selbstvorwürfe in seinem Innern nicht entwirren.
»Übrigens, Hendrik. Der Anruf gestern während unseres Mittagessens, das war Sonja Müller.«
»Die Tochter von Elisabeth Müller?« Das war ihm inzwischen wieder eingefallen. Sonja M. – so hatte es im Zeitungsbericht gestanden.
»Genau. Beim Aufräumen der Wohnung ihrer Mutter hat sie eine kleine Patrone gefunden, die hing zwischen Bett und Wand. Ich habe meine Kollegen von der KTU schon zusammengestaucht, hätten sie eigentlich finden müssen. Na ja, zum Glück war die Tochter aufmerksam.«
»Was für eine Patrone?«
»Moverapid Penfill. Das ist die Nachfüllpatrone für einen Insulinpen, eine Applikationshilfe für Diabetiker. Moverapid ist ein kurzfristig wirkendes Insulin.«
»Verstehe. Ich muss klären, ob ich Hanna am Samstag allein lassen kann, dann sage ich dir Bescheid.«
»Okay. Pass auf, es wäre wichtig, dass du mitkommst. Wir müssen den Verdacht auf eine Mordserie eindeutig klären. Vielleicht kann deine Mutter so lange bei Hanna bleiben. Was meinst du?«
»Sie war gestern erst da. Außerdem hat Mutter gerade einen Rheumaschub, sie kann sich kaum bewegen.«
»Oder umgekehrt, Hanna bei deiner Mutter?«
»Ich versuche es!«, brummte Hendrik.
*
Durch die Wand
Gießen, Samstag, den 18.Oktober, vormittags
Richard Volk und Pascal Simon holten Hendrik bei Hedda Wilmut im Offenbacher Hafenviertel ab und fuhren von dort über den Kaiserleikreisel direkt auf die A 661 in Richtung Norden. Simon saß am Steuer, Hendrik und Richard auf der Rückbank, sodass sie sich bequem unterhalten konnten.
»Hanna geht es besser«, berichtete Hendrik. »Ich passe auf, dass sie genug Flüssigkeit zu sich nimmt, egal in welcher Form. Seit sie zurück ist, hatte ich schon drei Hühner im Kochtopf.« Sie lachten und Hendrik merkte, dass es guttat. »Sie ist jetzt bei meiner Mutter. War eine gute Idee von dir!«
»Hm«, antwortete Richard. »Schön, wenn man noch eine Mutter hat, die einem helfen kann. Und helfen will.«
Hendrik sah aus dem Fenster und dachte nach. Die Felder der Wetterau zogen an ihnen vorbei. Der Sonnenschein wurde immer wieder von Wolken unterbrochen, die riesige Schattenrisse auf die Stoppelfelder warfen. Ja, jedem Menschen wurden Schatten in sein Leben geworfen. Hendrik wusste, dass Richards Eltern bereits tot waren, von den Hintergründen ahnte er nichts. Er schrieb auf seinen inneren Notizzettel, Richard bei nächster Gelegenheit darauf anzusprechen. Die Umstände mussten passen für solch ein Gespräch, und keine dritte Person sollte dabei sein.
»Was ist denn mit der Frau aus Straßburg? Woher wisst ihr überhaupt von ihr?«, fragte Hendrik.
»Mein junger Kollege hier«, Richard zeigte auf Pascal Simon, »beherrscht die französische Sprache sehr gut. Sein Großvater stammt aus Toulouse. Ich habe ihn gebeten, mit der Police national in Straßburg Kontakt aufzunehmen. Und tatsächlich haben die dort einen ungelösten Mordfall. Friederike Meyer, 52 Jahre alt. Sie wurde in einem Hafenbecken gefunden. Pascal hat den Bericht der französischen Kollegen bekommen, er wird uns nachher alles erläutern.«
»Okay. Und wer ist bei der Besprechung heute dabei? Ich meine, außer uns?«
»Die Gastgeberin, Kriminaloberkommissarin Sandra Prager, ihr Chef wahrscheinlich nicht, er ist auf einer Hochzeit eingeladen, und dann aus Weimar Kommissar Täntzer und Siggi, das war’s.«
»Hm, reicht ja auch. Und was ist meine Aufgabe dabei?«
»Du bist der Experte, quasi eine Art Vor-Gutachter, der erklären soll, wie die Morde zusammenhängen könnten. Dabei habe ich zwei Bitten an dich.« Richard zögerte.
»Ja?«
»Erstens solltest du bitte nicht sagen, dass die Idee, zwischen den Morden könnte eine Verbindung bestehen, von dir stammt. Das würde der Glaubwürdigkeit der Theorie schaden. Also … bitte nicht falsch verstehen, aber dieser Ansatz muss von einem Polizisten kommen.«
»Okay, von wem? Von Siggi?«
»Nein, von mir. Es muss ein im Dienst befindlicher Polizeibeamter sein.«
Hendrik nickte. »Gut. Und zweitens?«
»Bitte sprich, wenn es um eine mögliche Serientat geht, immer im Konjunktiv. Könnte sein … eventuell … es ist anzunehmen, dass … und so weiter. Jeder unbewiesene Zusammenhang muss bei der Polizei als Szenario gelten. Wir müssen unbedingt Hypothesen von Fakten unterscheiden, selbst wenn einer von uns maximal von seiner Hypothese überzeugt ist. So ist unsere Arbeitsweise. Verstehst du?«
»Klar, kein Problem.«
Richard schien zufrieden zu sein. Simon bog am Gambacher Kreuz auf die A 45 ab.
»Richard, wie ist das eigentlich, glaubst du an meine Theorie oder nicht?«
»Ehrlich?«
»Ja, bitte.«
»Nein, ich glaube nicht daran. Trotzdem möchte ich dir die Gelegenheit geben, deine Meinung kundzutun, für deine Überzeugung einzutreten. In guter alter Voltaire-Tradition.«
Hendrik war erstaunt, dass Richard dieses Zitat zur Meinungsfreiheit heranzog, denn bisher hatte er sich nicht als Literaturkenner gezeigt. »Ich lehne ab, was du sagst, aber ich werde bis auf den Tod dein Recht verteidigen, es sagen zu dürfen.« So lautete der Satz, der Voltaire zugeschrieben wurde. Immerhin, das war eine vernünftige Grundlage für die kommende Diskussion.
Hendrik beugte sich zu seinem Freund hinüber. »Hör mal, Richard«, flüsterte er. »Hat Pascal Simon eigentlich immer diese komische rote Mütze auf?«
Richard grinste. »Immer! Sie wärmt seinen Kopf und dann kann er besser nachdenken.«
Sie verließen den Gießener Ring an der Ausfahrt Schiffenberger Weg und bogen kurze Zeit später links ab in die Ferniestraße. Hendrik war guten Mutes, denn er wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was ihn an diesem Tag erwartete.
Kriminaloberkommissarin Prager war eine sportliche Mittvierzigerin mit einer blonden Kurzhaarfrisur. Extrem kurz, wie Hendrik bemerkte. Sie verhielt sich sehr höflich, dennoch merkte er, dass ihrem Auftreten eine Bestimmtheit innewohnte, die wenig Widerspruch duldete. Sie holte die drei am Empfang ab, und Hendrik konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, dass zwischen ihr und Richard eine gewisse Spannung lag. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung.
»Ich habe eine kleine Überraschung für euch«, sagte sie, während sie vorausging. »Julian Täntzer hat seinen Chef mitgebracht, besser gesagt, sein Chef hat es für nötig gehalten, ihn zu begleiten. Kriminaldirektor Germer.«
Im ersten Stock angekommen, öffnete sie die Tür zum Konferenzzimmer. Bevor Hendrik überhaupt erfasst hatte, wer alles anwesend war, wies Sandra Prager ihm einen Stuhl zu und rief in den Raum: »Ich denke, wir nehmen alle Platz zur Vorstellungsrunde und legen danach gleich los. Wir wollen ja an einem Samstag keine Zeit verschwenden.«
Hendrik schaffte es soeben noch, Siggi zuzuwinken, dann saß er schon zwischen Richard und einem ihm unbekannten jungen Mann mit blassem Gesicht.
»Ich bin KOK Sandra Prager, seit 18 Jahren im Polizeidienst. Ich wurde gebeten, heute als Gastgeberin zu fungieren, damit die Reisekosten einigermaßen gleichmäßig auf die Präsidien verteilt werden. Wenn keine Einwände bestehen, übernehme ich auch die Sitzungskoordination.«
Hendrik registrierte mit der ihm eigenen Art der sprachlichen Analytik, dass sie »Sitzungskoordination« gesagt hatte und nicht »Sitzungsleitung«. In Anbetracht der Tatsache, dass ranghöhere Kollegen am Tisch saßen, schien das sehr umsichtig.
Sandra Prager wandte sich nach rechts. »Richard, machst du bitte weiter?«
»Ja. Richard Volk, Kriminalhauptkommissar, K11 im Präsidium Frankfurt.«
»Danke. Herr Wilmut?«
»Ach so, ja, Dr. Hendrik Wilmut, Literaturdozent an der Universität Frankfurt, Forschungsgebiet Johann Wolfgang von Goethe, sein Leben und seine Frauen.«
Die Blicke aus der Runde gaben ihm zu verstehen, dass er wohl etwas übertrieben hatte. Vielleicht hätte er das mit den Frauen weglassen sollen. Zu spät, die Worte hatten seinen Mund verlassen und er konnte sie nicht mehr zurückholen.
»Danke, Herr Dr. Wilmut. Julian?«
Der junge Mann neben Hendrik spielte nervös mit seinem Kugelschreiber. »Kriminalkommissar Julian Täntzer. Seit acht Jahren im Polizeidienst, seit zwei Jahren in der Kriminalpolizeistation Weimar.«
Hendrik konnte sich nicht dagegen wehren, Täntzer mit dem Begriff »Milchgesicht« zu assoziieren.
Siggi übernahm direkt. »Siegfried Dorst, pensionierter Kriminalhauptkommissar aus Weimar. Richard Volk und ich kennen uns schon lange und haben mehrere Fälle zusammen bearbeitet. Wegen der Personalknappheit in seiner Abteilung und der Hypothese einer Mordserie hat er mich gebeten, eine vorläufige Tathergangsanalyse zu erstellen.«
Richard hob kurz die Hand. »Ich darf ergänzen, dass Siegfried Dorst früher beim BKA gearbeitet hat und am Aufbau der Abteilung ›Operative Fallanalyse‹ beteiligt war.«
Der etwa 60-jährige Mann neben Siggi nickte anerkennend. Er hatte eine hohe Stirn und trug eine übergroße Tellerbrille. »Ich bin Hans Germer und leite die Kriminalpolizeiinspektion Jena.«
»Danke, Herr Kriminaldirektor«, sagte Sandra Prager. »Pascal?«
»KK Pascal Simon, 29 Jahre alt, ich arbeite in Frankfurt im K11 für Herrn Volk.«
»Gut, danke, dort drüben steht Kaffee, bitte bedienen Sie sich. Die Toiletten befinden sich links den Gang hinunter. Haben Sie Fragen zur Organisation?«
Alle schüttelten den Kopf, und Sandra Prager sprach weiter: »Wir haben aktuell fünf Todesfälle, die bisher unabhängig voneinander bearbeitet werden. Vier davon sind inzwischen zu Mordfällen erklärt worden, einer wurde als Selbsttötung eingeordnet.«
Hendrik hob die Hand. »Aber …«
»Langsam, Herr Dr. Wilmut, Sie bekommen noch genügend Gelegenheit, Ihre Sicht der Dinge zu erläutern. Erst einmal wollen wir uns alle auf einen gemeinsamen Wissensstand bringen.«
»Äh, ja, natürlich!« Hendrik atmete tief durch. Er musste seine Emotionen im Zaum halten.
»Richard … also KHK Volk hat die Hypothese entwickelt, dass die fünf Fälle miteinander verknüpft sein könnten. Dazu später mehr. Zunächst wird der jeweils zuständige Ermittler seinen Fall vorstellen. Julian … Kollege Täntzer, fängst du bitte an?«
»Gern.« Julian Täntzer öffnete eine Akte und begann, vorzulesen. Sein Gesicht hatte den letzten Rest Farbe verloren. »Wilhelmine Gertrude Becker, 77 Jahre alt, geschieden, drei Kinder, vier Enkelkinder, wohnhaft in Jena, Talstraße 122. Sie befuhr mit ihrem PKW Modell Škoda Fabia am Mittwoch, 8. Oktober gegen 10.45 Uhr die B 7 stadtauswärts in Richtung Isserstedt. In einem Waldstück, dem Isserstedter Holz, kam sie in der Nähe der sogenannten … Zigeunerquelle – sorry, das Ding heißt nun mal so – rechts von der Straße ab und prallte gegen einen Baum. Sie verstarb an der Unfallstelle. Da es sich um eine kerzengerade Strecke handelt und keinerlei Bremsspuren zu erkennen waren, übernahmen wir die Ermittlungen.« Er sah in die Runde.
»Wie waren die Straßenverhältnisse?«, fragte Sandra Prager.
»Trocken, nur wenig Laub, nichts Auffälliges.«
»In welche Himmelsrichtung fuhr sie?«, fragte Pascal Simon.
»In Richtung Westen. Blendende Sonne können wir also ausschließen. Außerdem sind die Bäume dort noch stark belaubt und bilden ein Blätterdach.«
Simon nickte.
Täntzer setzte seinen Bericht fort: »Die Obduktion ergab keine Verletzungen, die ihr vor dem Unfall zugefügt worden sein könnten. Die Blutprobe ergab jedoch interessante Ergebnisse: kein Blutalkohol, keine Drogen, jedoch eine mittlere Konzentration an Temazepam. Wir gehen davon aus, dass Frau Becker die K.-o.-Tropfen kurz vor ihrer Fahrt in ein Getränk gemischt wurden, wodurch sie dann die Kontrolle über ihr Fahrzeug verlor. Von ihrem Ex-Mann erhielten wir die Telefonnummer ihrer besten Freundin. Sie hatte Frau Becker am Tag ihres Todes nicht getroffen, nannte uns aber ihr Stammcafé. Die Befragung des Personals ergab, dass Frau Becker direkt vor dem Unfall in eben diesem Café war, und zwar allein. Laut Aussage der Bedienung war sie zwischendurch auf der Toilette. Vermutlich hat ihr währenddessen jemand die K.-o.-Tropfen ins Getränk gemischt, die übliche Vorgehensweise. Wahrscheinlich war sie auf dem Weg nach Isserstedt, um im dortigen Handelshof einzukaufen. Laut ihrer Freundin fuhr sie dort regelmäßig hin.«
»Wer wusste denn, dass sie sich vor ihrem Tod in diesem Café aufgehalten hat?«
»Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand niemand.«
»Dann muss ihr jemand gefolgt sein«, stellte Richard fest.
»Ja, so sehen wir das auch. Wir haben das Videomaterial von zwei benachbarten Geschäften ausgewertet, ohne Erfolg. Nun die üblichen Fragen: Motiv? Gelegenheit? Mittel? Wir haben alles geprüft, es gibt keinen Verdächtigen. Frau Becker ist geschieden. Ihr Ex-Mann hat vor rund 20 Jahren die Scheidung eingereicht, weil sie damals einen Liebhaber hatte, der wiederum inzwischen verstorben ist. Herr Becker hat kein erkennbares Motiv und ein wasserdichtes Alibi, er war letzte Woche im Urlaub auf Gran Canaria und kam erst am vergangenen Sonntag zurück. Er hat seine geschiedene Frau zuletzt vor einem Jahr gesehen. Ihre beste Freundin arbeitet in Teilzeit als PTA in einer Jenaer Apotheke, daraus könnte man eine gewisse Verbindung zum Temazepam konstruieren, allerdings ist das Zeug ja leider rezeptfrei erhältlich. Sie hätte also die Mittel gehabt, hat aber kein Motiv, und sie war zur Tatzeit in der Apotheke. Drei Kolleginnen können das bezeugen.«
»Danke, Julian. Richard, machst du weiter?«
»Okay.« Volk erläuterte alle Fakten der Fälle Marianne Schmidt und Elisabeth Müller, die Hendrik bereits kannte. Zudem bedankte er sich für den Wochenendeinsatz von Dr. Bergen. Es gab verschiedene Nachfragen zum genauen Verlauf des Schusskanals bei Frau Schmidt und zu der Insulinpatrone in der Wohnung von Frau Müller.
»Zum Thema Insulin habe ich mit Dr. Bergen telefoniert«, sagte Richard. »Er hat mir die Wirksamkeit bestätigt und hält diese Tötungsvariante in Anbetracht seiner Obduktionsergebnisse für realistisch. Da die Tochter von Frau Müller erklärte, dass weder sie noch ihre Mutter je mit Diabeteskranken oder deren Medikamenten in Berührung gekommen seien und sie solch eine Nachfüllpatrone für den Insulinpen nie zuvor gesehen habe, spricht dies eindeutig für eine Fremdeinwirkung.«
Kriminaldirektor Germer räusperte sich. »Und wenn eine Pflegekraft beim Besuch von Frau Müller diese Patrone verloren hat?«
Richard wiegte seinen Kopf hin und her. »Daran haben wir auch schon gedacht. Frau Müller war 68 Jahre alt, noch recht fit, sie hatte keinen Pflegegrad und keine Hauspflege. Außerdem hätte die Patrone dann eher im allgemein zugänglichen Bereich liegen müssen, auf dem Teppich zum Beispiel.«
»Okay«, brummte der Mann mit der Tellerbrille.
»Als Nächstes haben wir den Fall in Straßburg, den erläutert Ihnen mein Mitarbeiter Kommissar Simon.« Richard gab Pascal ein Zeichen.
»Es handelt sich hier um die 52-jährige Friederike Geraldine Meyer, verheiratet, zwei Kinder, wohnhaft in Straßburg, Ortsteil Cronenbourg, so wie das Bier, aber mit C geschrieben. Die Brauerei hatte früher tatsächlich ihren Sitz …«
»Pascal!« Richards Ton war eindeutig.
»Ja, Chef, sorry.« Er beugte sich über seine Papiere. »Frau Meyer wurde am Montag letzter Woche, also am 6. Oktober, im Bassin du Commerce gefunden, das ist eines der großen Becken im Straßburger Rheinhafen. Ich habe mir den Untersuchungsbericht der Kollegen von der Police national schicken lassen.«
»Er kann gut Französisch«, ergänzte Richard.
»Ja, danke, Chef. Jedenfalls sagt der Rapport Folgendes: Als Todesursache wurde Ertrinken festgestellt. Damit lagen ein Unfall oder eine Selbsttötung nahe. Dann jedoch fand die Rechtsmedizin Blutergüsse an beiden Seiten des Halses, dort, wo die Hirnvenen und -arterien verlaufen.« Simon zeigte an seinem eigenen Hals, dass er den Bereich rechts und links des Kehlkopfs meinte. »Ein Spezialist, der früher bei der Fremdenlegion war, hat festgestellt, dass bei Frau Meyer ein Würgegriff angesetzt wurde, und zwar von hinten. Bei mäßigem Druck werden dabei die Halsvenen abgedrückt, und das Blut kann aus dem Kopf nicht zurück zum Herzen fließen. Ein trainierter Angreifer kann auf diese Weise die Frau innerhalb von 10 bis 15 Sekunden zur Bewusstlosigkeit gebracht haben. Bei stärkerem Druck können auch die Arterien blockiert werden, was noch schneller zur Bewusstlosigkeit führt. Die Annahme liegt also nahe, dass jemand Frau Meyer mit diesem Würgegriff außer Gefecht gesetzt und anschließend ins Hafenbecken geworfen hat.«
»Wie lange lag sie denn im Wasser?«, wollte Täntzer wissen.
»Sie wurde um 8.15 Uhr gefunden. Der Todeszeitpunkt wurde auf 3 Uhr plus/minus eine Stunde festgelegt. Sie lag also vier bis sechs Stunden im Wasser.«
»Hm, danke, also nicht allzu lange.«
»Ich habe zusätzlich mit Jean-Pierre Clément telefoniert, Capitaine de Police, das ist gleichzusetzen mit unserem Hauptkommissar. Er leitet die Ermittlungen und hat Frau Meyers privates und berufliches Umfeld komplett durchleuchtet. Es wurden keinerlei Hinweise auf den Mörder gefunden, auch nicht auf ein Motiv. Da solche Würgegriffe bei verschiedenen Kampfsportarten eine Rolle spielen, hat er sogar die entsprechenden Trainingszentren, insbesondere solche für Brazilian Jiu-Jitsu und Luta Livre, im gesamten Elsass geprüft, keine Anhaltspunkte.«
»Wie sind Sie überhaupt mit den Franzosen in Kontakt gekommen?«, fragte der Kriminaldirektor. »Haben die sich bei Ihnen gemeldet und um Amtshilfe gebeten?«
Hendrik wollte etwas sagen, besann sich jedoch schnell und sah Richard an.
»Ich habe mich mit dem Kollegen Siegfried Dorst darüber unterhalten«, sagte Richard Volk. »Da er in Weimar wohnt, kennt er sich ein wenig mit der Klassik und mit Goethe aus. Die Vornamen der getöteten Frauen sind identisch mit denen von Goethes Frauenbekanntschaften und die Fundorte der Leichen stimmen mit den einstigen Wohnorten dieser Frauen überein. Das ist zwar ein sehr gewagter Gedankengang …«
»Allerdings«, erwiderte der Mann mit der Tellerbrille.
»… aber wir sind mit unseren Ermittlungen festgefahren, da müssen wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Herr Dorst hat mich auf die Idee gebracht, Herrn Wilmut hinzuzuziehen. Er ist ein Spezialist für alles, was mit Goethe zu tun hat, und ich habe ihn gefragt, ob er uns als Experte zur Verfügung steht.«
Hendrik bewunderte Richards diplomatisches Geschick. Von sich selbst als aktivem Polizist führte er zu einem pensionierten Polizisten und von dort zu einem nichtpolizeilichen Experten. Clever gemacht.
»Meinetwegen. Wie kamen Sie auf Straßburg?«
Sandra Prager schaltete sich ein: »Herr Kriminaldirektor, darf ich vorschlagen, dass wir uns zunächst den Bericht zum fünften Fall anhören, dann eine kurze Pause einlegen und danach Herrn Dr. Wilmut zu Wort kommen lassen?«
Germer machte eine Handbewegung, als wolle er der Kriminaloberkommissarin seine Finger zuwerfen. »Von mir aus.«
»Gut«, fuhr Prager fort. »Ich mache es kurz. Lotte Amelie Schneider, 28 Jahre alt, ledig, aus Wetzlar. Sie wurde am Donnerstag, den 2. Oktober, um 5.52 Uhr vom Regionalexpress in Richtung Gießen überrollt. Das geschah in den Lahnauen, kein Mensch in der Nähe, Dunkelheit, sie trug schwarze Kleidung. Keinerlei Hinweise auf Fremdverschulden. Ihre sterblichen Überreste wurden bereits beerdigt. Sie werden sich fragen, warum wir diesen Fall überhaupt diskutieren, dazu hören wir nach der Pause Herrn Dr. Wilmut.« Sie stand auf und ging zielstrebig auf die Kaffeekanne zu.
Hendrik blieb sitzen und überlegte, wer in dieser Runde für oder gegen ihn war. Siggi und Kommissar Täntzer rechnete er zu den Unterstützern. Sandra Prager verhielt sich neutral, ebenso Richard. Simon würde sich wohl seinem Chef anschließen. Der Kriminaldirektor war gegen ihn. Sich selbst mit einbezogen kam er auf eine Quote von 3:3:1. Gar nicht so übel.
Im Toilettenbereich am Waschbecken traf er Richard Volk. »Denk dran, Hendrik, immer schön im Konjunktiv reden!«
»Ja, ja, mache ich. Sag mal, was ist eigentlich mit dir und Sandra?«
Richard wusch sich die Hände und sah ihn über den Spiegel an. »Wie, was meinst du?«
»Da ist etwas zwischen euch, eine Spannung, eine … Verbindung.«
Sein Freund schüttelte den Kopf. »Manchmal nervst du. Wir waren mal zusammen.«
»Du und Sandra Prager?« Hendrik konnte den erstaunten Tonfall nicht unterdrücken.
»Ja, ich weiß, sie ist viel jünger als ich. Hat auch nicht lange gehalten.«
»Hm, schade!«
Richard lächelte. Sie gingen zurück in den Konferenzraum.
Sandra Prager gab das Zeichen zur Fortsetzung. »Herr Dr. Wilmut?«
»Ja, danke. Ich muss etwas ausholen und bitte Sie um ein wenig Geduld.« Er warf einen Blick in die Runde und konnte weder Zustimmung noch Ablehnung erkennen. »Goethe hatte zahlreiche Beziehungen zu Frauen. Dazu gehören jeweils verschiedene Stationen seines Lebens und damit verbundene Örtlichkeiten. Seinem Lebenslauf folgend begann es in Leipzig mit Anna Katharina Schönkopf, meistens Käthchen genannt, die Tochter des Wirts, bei dem er als Student regelmäßig sein Mittagessen einnahm. In der Nähe von Straßburg war es Friederike Brion, eine Pfarrerstocher, in Wetzlar die berühmte Lotte, in Offenbach Elisabeth Schönemann, genannt Lili, Tochter eines Frankfurter Bankiers, mit ihr war er verlobt. In Weimar hatte er zunächst die bekannte geistig-platonische Beziehung zu Charlotte von Stein. Während seiner Italienreise – ich verschone Sie mit Details …«
»Danke!«, kam es dumpf vom Kriminaldirektor.
»… unterhielt er in Rom Beziehungen zu der Wirtstochter Constanza Roesler und der Malerin Angelika Kauffmann. Nach seiner Rückkehr lernte er in Weimar Christiane Vulpius kennen, mit ihr teilte er Tisch und Bett und heiratete sie. In Frankfurt traf er später Marianne von Willemer, die Einzige, die ihm literarisch ebenbürtig schien, in Jena Wilhelmine Herzlieb, genannt Minchen, und zum Schluss Ulrike von Levetzow, der er in Marienbad begegnete und im Alter von 74 Jahren einen Heiratsantrag machte, den sie – 19 Jahre alt – ablehnte.«
»Sehr ordentlich!«, meinte Sandra Prager.
»All die Frauen, mit denen er Briefe austauschte, ohne sie persönlich zu kennen, habe ich nicht erwähnt. So, wir haben demnach neun Orte und elf Frauen. In fünf von diesen neun Orten starben kürzlich Frauen mit denselben Vornamen, das kann kein Zufall sein!« Hendrik machte eine Pause. Er blickte in erstaunte Gesichter.
»Und was wollen Sie uns damit sagen?«, fragte der Kriminaldirektor.
»Ich bin überzeugt, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben, der Frauen als Stellvertreterinnen von Goethes Herzdamen umbringt!«
Richard trat ihm auf den Fuß. Er drehte sich um. Was war los?
»Soso«, sagte Sandra Prager langsam. »Sie sind also überzeugt. Das ist ja schön. Wir sind davon allerdings noch lange nicht überzeugt. Denn uns überzeugen keine literarischen Zusammenhänge, sondern Fakten. Verstehen Sie? Fakten!«
Verdammt, er hatte es verpatzt. Dabei hatte es so gut begonnen. Richard hatte ihm eingeschärft, nur im Konjunktiv zu sprechen, und er hatte es vergessen.
Man merkte deutlich, dass KOK Prager versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Herr Dr. Wilmut, Ihr Gedankenspiel – und mehr ist es für mich nicht – hat folgende Haken: Erstens stammte Friederike Brion nicht aus Straßburg, sondern aus der Nähe, aus diesem Kaff …«
»Sessenheim«, sagte Hendrik.
»Ja, aus Sessenheim. Das ist wie weit von Straßburg entfernt?«
»Etwa 40 Kilometer«, antwortete Hendrik leise.
»So! Außerdem ist bekannt, dass Serienmörder fast immer dort töten, wo sie sich sicher fühlen, oft in der Nähe ihres Wohnortes oder an einem Ort, den sie gut kennen. Zumindest in einer Gegend, in der sie die lokale Sprache beherrschen. Lernt man das noch so auf der Polizeihochschule, Pascal?«
»Ja«, antwortete Simon.
»Damit fallen Straßburg, Rom und Marienbad weg. Und wie schon gesagt, an der Selbsttötung von Lotte Schneider existiert kein Zweifel. Also entfällt auch Wetzlar und es bleiben insgesamt nur noch fünf Orte statt neun. Nicht mehr so überzeugend, oder?«
Hendrik erkannte, dass er Sandra Prager unterschätzt hatte. Vielleicht fühlte sie sich angegriffen wegen des Falls Lotte Schneider. Immerhin hatte er indirekt ihre Fachkompetenz angezweifelt.
»Und außerdem, Herr Dr. Wilmut«, schaltete sich Germer ein. »Ich habe schon mehrere Serientäter gejagt, zweimal als Leiter einer Soko. Immer gab es einen Modus Operandi, eine einheitliche oder zumindest ähnliche Vorgehensweise des Mörders. Bei unseren aktuellen Fällen haben wir eine breite Palette von Mordmethoden: professioneller Schusswaffengebrauch, heimtückischer Giftmord, profane K.-o.-Tropfen, und – falls wir Straßburg mit dazunehmen – eine Würgetechnik. Erkennt da jemand eine Systematik?«
»Moment bitte!«, sagte Siggi. »Das ist vielleicht der richtige Zeitpunkt für die vorläufige Tathergangsanalyse, die beantwortet einiges davon.«
Keiner widersprach.
»Also, ich habe die mir zur Verfügung gestellten Daten der besagten vier Morde analysiert. Den Fall Lotte Schneider habe ich nicht einbezogen. Der zugrunde gelegte Ermittlungsstand entspricht dem, was wir soeben gehört haben. Die BKA-Checkliste für die Tathergangsanalyse habe ich als Arbeitsgrundlage benutzt. Dabei fand ich keine Übereinstimmung in den folgenden Punkten. Erstens: die Tötungsart. Hier sehe ich sogar ein Gegenargument, denn solch eine Diversifizierung der Tötungsmethoden, wie bereits von Herrn Germer erwähnt, wäre sehr ungewöhnlich für einen einzelnen Täter. Zweitens: der Opferfundort. Zweimal Wohnung, einmal Straße, ein Hafenbecken – keine Struktur erkennbar. Drittens: die Tatzeit. Keinerlei Übereinstimmungen. Weiterhin habe ich geprüft, ob der Täter überfallartig gehandelt hat oder die Opfer vorher kontaktierte, sie angelockt oder sogar mit ihnen Zeit verbracht hat. Dies ist nach dem derzeitigen Wissensstand nicht klar zu beantworten. Im Fall Schmidt hat er nach dem Schuss fluchtartig den Tatort verlassen, im Fall Müller wissen wir darüber nichts, ebenso wenig wie im Fall Meyer. Bei Frau Becker war der Täter im Café, das wir als erweiterten Tatort ansehen können, aber keiner weiß, wann und wie lange. In zwei Fällen ist der Leichenfundort auch der Tatort, in einem Fall nicht, in einem ist es unklar. Ebenso offen ist die Frage der Täter-Opfer-Beziehung, logischerweise, da wir bislang keinen Verdächtigen haben. Die Ermittlungsteams in Frankfurt und Weimar haben keine Beziehung der Opfer untereinander feststellen können. Damit meine ich die konkreten Opfer in der heutigen Welt, unabhängig davon, dass ihre Namensgeber alle Goethes Herzdamen waren.«
Der Kriminaldirektor lachte.
»Nun zu den Gemeinsamkeiten. Hier unterscheiden wir zwischen weichen und harten Faktoren. Weiche Faktoren sind meistens Ausschlussfaktoren, so können wir in allen vier Fällen sexuelle Handlungen ausschließen, genauso wie sadistische Umtriebe oder Zurschaustellung der Leiche. Weiterhin können wir ausschließen, dass der Täter Gegenstände vom Tatort – soweit dieser bekannt ist – mitgenommen hat. Das kommt bei Serienmördern vor, teils werden solche Objekte als eine Art Fetisch genutzt. Nun zu den harten Faktoren. In allen vier Fällen hat der Täter versucht, den Mord zu vertuschen. Bei Frau Müller hat er sehr viel Wert darauf gelegt, und wenn wir die Insulinpatrone nicht gefunden hätten, wäre der Mord wohl nie nachweisbar gewesen. Im Fall Schmidt gelang es ihm nicht, die Gewalttat zu vertuschen, mehr durch Zufall, weil das Projektil im Boden feststeckte und nicht in angemessener Zeit von ihm entfernt werden konnte. In Weimar und Straßburg hat er versucht, den Mord als Selbsttötung erscheinen zu lassen und nur durch die professionelle Arbeit der Kollegen ist dies verhindert worden.«
Täntzer grinste.
Siggi fuhr fort: »Summa summarum: In allen vier Fällen wurde versucht, den Mord als natürlichen Tod erscheinen zu lassen. Dann zur Viktimisierung.«
»Entschuldigung«, fragte Hendrik dazwischen. »Was bedeutet Viktimisierung?«
»Die Opferauswahl. Es wurden nur Frauen ermordet, das ist ein Fakt. Was das Alter der Frauen, ihre körperlichen Merkmale, ihren Beruf und ihr soziales Umfeld betrifft, gibt es keinerlei Übereinstimmungen. Ich habe das genau überprüft. Dann habe ich mich mit den Namen der Opfer beschäftigt. Wie Herr Wilmut schon erläuterte, sind die Vornamen alle identisch mit Namen von Goethes Herzdamen. Was wir daraus schließen, ist noch offen.«
Hendrik spürte Richards Hand auf seiner Schulter, die ihn herunterdrückte. Ist ja gut, dachte er, ich wollte nichts sagen.
»Aber die ganze Zeit über hing ich gedanklich an den Nachnamen. Irgendetwas Seltsames haben die.«
Pascal Simon sah ihn erstaunt an: »Wieso, sind doch ganz normale Namen, Müller, Meyer, Schmidt und so weiter.«
»Ja«, sagte Siggi, »genau das ist das Auffällige.« Die Anwesenden starrten ihn an. »Schmidt, Müller, Becker, Meyer und eventuell Schneider. Lauter typisch deutsche Namen. Ich habe das recherchiert: Müller ist der häufigste Familienname in Deutschland. Schmidt mit dt ist Nummer zwei, Meyer mit ey die sechs und Becker Platz acht. Falls wir Schneider mit dazunehmen wollen: Nummer drei. Unter den ersten zehn kommen dann noch Fischer, Weber, Wagner, Hoffmann und Schulz.«
Hendriks Puls ging schlagartig in die Höhe. Guter Mann, der Siggi. Ein Aspekt, der ihm nicht aufgefallen war.
»Und? Was sollte ein Serienmörder damit bezwecken?«, fragte Prager.
»Er sucht sich Opfer mit den Vornamen von Goethes Geliebten, der Nachname ist ihm wahrscheinlich egal. Mit diesen Top Ten macht er uns – also, ich meine den ermittelnden Beamten – das Leben schwer. Vielleicht war das seine Absicht.«
»Okay, das wäre möglich«, sagte Julian Täntzer. »Dann bleibt allerdings noch eine wichtige Frage.«
»Nämlich?«, hakte Sandra Prager nach.
»Selbst wenn wir von der Hypothese einer Mordserie ausgehen, wo ist das Motiv?«
»Hm, gute Frage«, sagte sie. »Dr. Wilmut?«
Hendrik spürte wieder dieses »Etwas«, das er schon bei der Recherche zu Elisabeth Müller wahrgenommen hatte. Diesmal kam es gewaltig auf ihn zu. »Keine Ahnung, das ist ja wohl Ihre Aufgabe!«
Kriminaldirektor Germer stand auf. »Herr Dr. Wilmut, wenn ich von Ihrer Hypothese überzeugt wäre, könnte das möglicherweise unsere Aufgabe sein. Für mich ist das aber viel zu dünn. Und Sie sind sicher nicht derjenige, der uns sagt, was wir zu tun haben. Täntzer, Sie kümmern sich weiter um den Fall Becker und alles andere ist Sache von Frau Prager beziehungsweise Herrn Volk. Wir sind draußen.«
Sandra Prager erhob sich ebenfalls. »Ich bin auch draußen.«
Hendrik konnte es kaum glauben. Er sah Richard an.
»Sorry, Hendrik, aber ich verstehe die Kollegen. Und wir haben mit den beiden Morden in Frankfurt und Offenbach genug zu tun. Falls sich Hinweise auf einen Serientäter ergeben sollten, müssen wir die Lage neu bewerten.«
Hendrik sprang auf, eine riesige Wut ballte sich in seinem Bauch zusammen. »So, du lässt mich also im Stich!«
»Hendrik!«, rief Siggi.
»Ich werde euch allen jetzt mal was sagen: Wenn der nächste Mord passiert, ist es eure Schuld! Ich bin nicht der Sündenbock, ist das klar!«
»Herr Wilmut, bitte beruhigen Sie sich!«, mahnte Sandra Prager.
»Nein, Frau Prager, ich beruhige mich nicht. Ich habe keine verdammte Ahnung, wer der Mörder ist und warum er unschuldige Frauen umbringt! Sicher ist: Er wird es wieder tun, und zwar bald. Und dann haben Sie«, er stocherte mit dem Zeigefinger mehrmals in ihre Richtung, »den Tod eines Menschen zu verantworten!«
Sandra Prager kam langsam auf ihn zu. »Raus hier, Mann, aber schnell!«
*
Sonntag
Es war ein unruhiger Tag. Nicht aufgrund der Aktivitäten der Beteiligten, sondern ihre innere Verfassung betreffend.
Hendrik saß auf seinem Lieblingsküchenstuhl und überlegte, was er tun sollte. Richard hatte ihm während der Rückfahrt vorgeworfen, er habe mit seiner »üblichen Oberlehrerart« alles kaputtgemacht. Das ärgerte Hendrik noch mehr als die Vorgänge in Gießen. Eins war klar: Aufgeben war keine Option.
Siegfried Dorst war nach wie vor fassungslos. Er hatte sich auf der Heimfahrt nach Thüringen bei Germer und Täntzer für seinen Freund entschuldigt. Später berichtete er Ella alle Einzelheiten, sie war mindestens ebenso geschockt wie er selbst.
Hanna wusste von alldem nichts. Der Tag bei ihrer Schwiegermutter in Offenbach hatte ihr gutgetan. Als sie in die Bodenstedtstraße zurückkam, lag dort ein Brief ihrer Krankenkasse, der die Rehamaßnahme bewilligte. Sie hatten eine Klinik in Bad Homburg für sie ausgesucht.
Simon und Täntzer nahmen das Ganze sportlich. Der eine rollte per Inlineskater an der Nidda entlang, der andere kurvte mit dem Mountainbike durch den Thüringer Wald.
Sandra Prager schmollte.
Hans Germer schüttelte den Kopf, wenn er an Hendrik Wilmut dachte.