Читать книгу Bildung statt Fanatismus - Bernd Lederer - Страница 9
ОглавлениеI. Grundbegriffe zum Einstieg
Worin unterscheiden sich bzw. was bedeuten indes Begriffe wie „Prägung“, „Erziehung“, „Sozialisation“ und auch „Bildung“, die in diesen beiden Bänden eine entscheidende Rolle spielen werden, eigentlich genau? Umgangssprachlich werden diese Begriffe oft synonym gebraucht, dabei beziehen sie sich aber auf ganz unterschiedliche Aspekte der „Personwerdung“ („Personagenese“), der „Individuation“, also der „Ich-Werdung“, der Ausprägung einer eigenen Persönlichkeit und Identität. Hierzu zählt auch die „Enkulturation“, die Übernahme gesellschaftlicher Werte und Normen, das Hineinwachsen in die menschliche Gemeinschaft und das Geformt-werden durch diese. Es geht also um unterschiedliche Begriffe und Konzepte, welche die soziale und kulturelle „Menschwerdung“, letztlich, und durchaus auch im Wortsinn, die „Persönlichkeits-Bildung“ des Menschen thematisieren. Wilhelm von Humboldt (1767–1835) fasst unter Bildung nämlich im denkbar umfassendsten Sinne die Menschwerdung des Menschen. Zunächst gilt es daher, diese Begriffe kurz zu präzisieren und zu differenzieren, bevor später mit ihrer Hilfe der Frage nachgegangen werden soll, welcher günstigen Bedingungen es bedarf, um eine Persönlichkeitsbildung im Sinne gelingenden, humanen Mensch-Seins zu ermöglichen und zu befördern.
Nachfolgend werden also zunächst die pädagogisch relevantesten Begrifflichkeiten in aller Kürze vorgestellt, differenziert und zueinander in Bezug gesetzt. Dies ist erforderlich, um die Argumentation des Buches nachvollziehen zu können, folgt diese doch Schlüsselbegriffen pädagogischer, psychologischer und sozialwissenschaftlicher Persönlichkeitstheorien, die umgangssprachlich zumeist verwechselt oder gleichgesetzt werden. Erst eine differenzierte Betrachtung dieser Begriffe erlaubt es, verschiedene Ursachen und Bedingungen für ge- oder misslingende Persönlichkeitsbildung auseinanderzuhalten und ihre jeweilige Bedeutung zu benennen.
1. 1. Prägung
Prägung meint umgangssprachlich zunächst einmal die Gesamtheit aller Umwelteinflüsse, die auf die physische und vor allem psychische Entwicklung eines Menschen einwirken und diese beeinflussen und verändern und in der Regel das ganze Leben über (nach)wirken. In diesem Sinne lässt sich etwa sagen: „Die jeweilige Person ist durch die Kultur ihrer Herkunft geprägt“ oder: „Ihre Religion hat sie sehr geprägt“ usw. Im engeren, nämlich pädagogischen und psychologischen Sinne, nochmals genauer im entwicklungspädagogischen und -psychologischen wie auch psychoanalytischen Sinne, meint Prägung aber die frühkindlichen (und teils schon vorgeburtlichen) Erfahrungen, die den einzelnen Menschen in seiner weiteren Entwicklung nachhaltig, also andauernd, formen. Es sind dies die tiefwirkenden Erfahrungen der ersten Lebenswochen, -monate und -jahre, die sich in allererster Linie aus Kind-Mutter und Kind-Eltern-Interaktionen speisen. Eng verbunden hiermit ist der Begriff der „Bindung“, der sich auf dieses enge Verhältnis zwischen Kleinkind und seinen primären Bezugspersonen bezieht, die von sehr engen und intensiven Emotionen und Bedürfnissen gekennzeichnet sind. In erster Linie wird hierbei die Mutter-Kind-Beziehung der ersten Lebenswochen und -monate thematisiert (siehe noch ausführlicher V1 und V.2).
2. Erziehung
„Unter Erziehung versteht man die pädagogische Einflussnahme auf die Entwicklung und das Verhalten Heranwachsender. Dabei beinhaltet der Begriff sowohl den Prozess als auch das Resultat dieser Einflussnahme.”2 Im Gegensatz zur Prägung ist die Erziehung ein bewussterer Akt seitens der Eltern oder anderer primärer oder aber auch sekundärer Bezugspersonen des Kindes und jungen Jugendlichen. Prozesse der Erziehung schließen sich entwicklungsgeschichtlich an die Phase der Prägung an bzw. laufen parallel zu dieser. Erziehung bezeichnet das wechselseitige Verhältnis zwischen einem Erzieher und einem zu Erziehenden (lateinisch gesprochen „Educans“ und „Educandus“). Die Absicht dieser Interaktion besteht darin, den zu Erziehenden als denjenigen, der bezüglich Lebenserfahrung, Kulturtechniken, sozial erwünschten Verhaltens an Erfahrung, Reife und Wissen ärmer ist, gemäß bestimmter Erziehungsziele auf das Niveau des Erziehers sozusagen heraufzuführen und ihn letztlich gewissermaßen in die Selbständigkeit zu entlassen. Maßnahmen der Erziehung beziehen sich somit in der Regel auf Kinder und Jugendliche. Pädagogik (griechisch: von „Paideia“: „Erziehung“, „Bildung“ oder „pais“: „Knabe“, „Kind“ und „agogein“: „führen“) ist deshalb mit Erziehungslehre nicht falsch übersetzt.3 Wichtig ist hier bereits der Hinweis, dass, im Rahmen der indoeuropäischen Sprachfamilie, nur in der deutschen Sprache zwischen Erziehung und Bildung unterschieden wird, wohingegen etwa im Englischen oder Französischen oder Spanischen beides unter „education“ firmiert. Bevor der Bildungsbegriff, der Fundamentalbegriff der Pädagogik neben Erziehung, noch eingehend zu erläutern sein wird, lassen sich hier bereits die wichtigsten Unterschiede zwischen beiden Begriffen anführen. In den Worten von Jochen Krautz: „Während ‚Bildung‘ eher die Selbstbildung, die selbständige innere Entwicklung betont, verweist ‚Erziehung‘ auf die notwendige Führung in einer Beziehung.“4 Helmwart Hierdeis wiederum bringt den Unterschied zwischen Erziehung und Bildung so auf den Punkt:
„‚Erziehung‘ meint (…) eher das, was im Umgang von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen durch Anregen, Vormachen, Erklären, Hinwenden, Ermutigen, Einschränken, Gewöhnen, Schutz gewähren, Zuwendung und Schaffen einer förderlichen Umwelt geschieht und erreicht wird; ‚Bildung’ meint eher den Prozess und das Ergebnis der Auseinandersetzung des einzelnen mit der Welt und ihren Repräsentanzen in Sprache, Literatur,Wissenschaft, Kunst und Medien, die Verwandlung von Informationen in subjektiv bedeutsames Wissen.“5
Das Erziehen, so Hierdeis, habe mit Blick auf die Begriffsgeschichte von Erziehung immer auch mit Wünschen und Vorstellungen, mit Zielsetzungen und Handlungen zu tun, zudem mit einer spezifischen sozialen und materiellen Umwelt und Atmosphäre des Aufwachsens sowie, last but not least, natürlich mit bestimmten Beziehungen und Beziehungsmustern. Bildung, wie später noch ausgeführt wird, meint immer Selbstbildung und scheint zunächst weitaus weniger auf das soziale Miteinander, denn auf das eigene Selbst bezogen zu sein. Sie wirkt nach solchem Verständnis etwas freier von den sie bedingenden Umständen, setze sie doch „die Fähigkeit zur Weltaneignung, also das, was ‚Erziehung‘ zu leisten hat, irgendwie voraus.“6 Ungeachtet solcher qualitativen begriffsgeschichtlichen und -theoretischen Differenzierungen bleibt hier die deutschsprachige Besonderheit festzuhalten: Bei einer verengten Sichtweise des Bildungsbegriffs scheinen weite Bereiche des Pädagogischen ausgespart zu bleiben. Das betrifft vor allem entwicklungspädagogische und pädagogisch-psychologische Fragen der Kleinkinderziehung, etwa der frühkindlichen Identitätsbildung, der Grundlegung von Urvertrauen (u. a.), von Sicherheit und stabilen Bindungserfahrungen, der Vermittlung basaler Welt- und Wertorientierung, um hier nur einige wenige Gesichtspunkte anzuführen. Gleichwohl soll und wird im Laufe der weiteren Ausführungen der hohe Wert und auch die Brauchbarkeit, ja Notwendigkeit eines umfassenden Verständnisses von „Bildung“ als Persönlichkeitsbildung näher belegt werden.
Erziehungsziele
Im Erziehungsprozess geht es um das Erreichen und um die Umsetzung von Erziehungszielen, also um die zu vermittelnden Kulturtechniken (z. B. Lesen, Schreiben, Rechnen), aber auch um handwerkliche Befähigungen, vom Schnürsenkelbinden bis zur Nutzung eines Computers. Vor allem aber geht es auch um die Vermittlung zentraler Normen und Werte, um Verhaltensweisen und Umgangsformen, die in einer menschlichen Gemeinschaft und Kultur als wichtig oder gar unverzichtbar erachtet werden, um ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden und ein gelingendes, gutes Leben führen zu können. Wie schon angeführt gilt das Erkenntnisinteresse dieses Buches den sozialen und kulturellen, kurzum den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, welche die Entwicklung eines gebildeten Menschen besonders prädestinieren. Es geht also um all jene Faktoren, die eine gefestigte, selbstbewusste, „resiliente“ („widerstandsfähige“, also gegen die Unbilden und Nackenschläge des Lebens gewappnete), selbstbestimmte, prosoziale, vernünftige, tolerante, reflektierte, artikulierte, über viel Wissbegier verfügende Persönlichkeitsstruktur befördern. Entscheidend für diese Zielsetzung ist dann natürlich die im weiteren noch genauer zu erörternde Frage, ob sich die entsprechenden Erziehungsziele zuvorderst an den Normen Gehorsam, Unterordnung und Anpassung an nicht weiter hinterfragbare Normen oder aber an Mündigkeit und Selbständigkeit orientieren sollten. Dies wiederum wirft die Frage nach den angewendeten Methoden der Erziehung, den Erziehungsstilen und -techniken auf.
Erziehungsstile und -methoden
Auf das Engste verknüpft mit den Zielen der Erziehung sind die Mittel und Wege, um diese Ziele auch zu erreichen, um sie im Kind auf der Verhaltens- und Wissensebene zu verankern. Es geht also um die je geeigneten und angemessenen Erziehungsstile und -methoden. Diese sind, genauso wenig wie die jeweiligen Erziehungsziele, nie losgelöst von grundsätzlichen Prinzipien und Werten einer Kultur und Gesellschaft zu betrachten. Der Zweck, etwa ein bestimmtes Verhalten, heiligt aus humaner Sicht freilich niemals die Mittel! Andernfalls dürften auch Dressur und Prügel als Erziehungsmethoden zum Einsatz gelangen. Dergleichen ist aber nicht nur zu Recht ein gesetzeswidriger Verstoß gegen die körperliche und seelische Unversehrtheit des Kindes und damit gegen das Kindeswohl als solches. Gewaltausübung im Erziehungsprozess widerspricht auch elementaren Erkenntnissen der Entwicklungspädagogik und -psychologie, wonach verinnerlichte Erfahrungen von Gewalt und Erniedrigung, seien diese körperlich oder seelisch erlitten, sich im späteren Leben reproduzieren, also mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund erlernten Verhaltens wieder in Gewalt an Anderen (wie auch sich selbst gegenüber) münden.
Wie hier ebenfalls noch ausführlich aufgezeigt werden wird, sind Erfahrungen individueller Abwertung, von Abgelehnt-werden, von erfahrenem Hass und Gewalt, eine regelrechte Voraussetzung, um negative Selbstwirksamkeit („Ich schaff das eh nicht“), Minderwertigkeitsgefühle und fehlendes Selbstvertrauen, Misanthropie (generalisierte Menschenfeindlichkeit) und antisoziales Verhalten zu bestärken. Individuelle Kränkungen wie Gewalt und „Kleinmachung“ in der Erziehung (auch schon in den ersten, prägenden Lebensmonaten) wie auch im weiteren Verlauf des Lebens sind der Nährboden für das Entstehen eines schwachen, dennoch, oder vielmehr deshalb, „autoritären Charakters“ bzw. einer „autoritären Persönlichkeit.“7 Gemäß dem Prinzip „nach oben buckeln, nach unten treten“, werden zur Aufwertung des eigenen defizitären Selbstbilds nämlich oft andere, Hierarchieschwächere abgewertet, gar auf sie eingetreten (sei es mit Worten, sei es mit Fäusten). Autoritäten und Hierarchiehöheren gegenüber wird hingegen eine devote Grundhaltung eingenommen, sei es aus Angst und Unterwürfigkeit, sei es, weil man doch selber auch gerne so reich und mächtig wäre, als dies im realen, oft als trostlos und öde empfundenen Leben der Fall ist. Es wurde überdies oft gezeigt, dass Gewalt und extrinsische Motivation (Angst vor negativen Konsequenzen, etwa schlechten Zensuren, Bestrafung etc.) alleine den Lernerfolg und das gewünschte Verhalten zwar kurzfristig zu gewährleisten vermag. Ohne Einsicht in den Nutzen und den höheren Sinn eines bestimmten Verhaltens oder Lernens, ohne echtes Interesse am Lerngegenstand und dementsprechend freiwillige (Pro)Aktivität werden dergleichen Erkenntnisse nie dauerhaft abgespeichert und als Teil der Persönlichkeit verinnerlicht.8 Mit Blick auf das Leitinteresse nach denjenigen Bedingungen einer Erziehung und Sozialisation, die nicht den „Autoritären Charakter“, sondern die reife, mündige, resiliente, selbstbewusste und selbstbestimmte, soziale und solidarische Persönlichkeit herausbilden hilft, ist dementsprechend klar: Gewalt und Angst hat in der Erziehungspraxis keinen Platz, stattdessen hat diese durch Liebe, respektvollen Umgang mit- und Verständnis füreinander geprägt zu sein. Ein autoritärer, mit unbegründeten Verboten und der Unterdrückung kindlicher Bedürfnisse agierender, Gewalt als Mittel akzeptierender Erziehungsstil als das eine Extrem, steht dabei jedoch einem weit weniger schädlichen, indes gleichfalls kritikwürdigen Erziehungsstil als konträrem Extrem gegenüber: dem „Laisser-faire“-Erziehungsstil („Geschehen-lassen“). Hierbei werden dem Kind keinerlei Grenzen gesetzt, dieses kann (bzw. muss!) mithin tun und lassen, was es will. Dergleichen „Anti-Pädagogik“ zeugt aber oft genug nur von einer falsch verstandenen (Pseudo-)Toleranz, die den Respekt gegenüber den zu Erziehenden mit einem in Wirklichkeit vorherrschenden Desinteresse und mit Erziehungsfaulheit, gar Feigheit verwechselt. Zu präferieren ist deshalb vielmehr der sog. „Demokratische Erziehungsstil“ (etwa im Sinne John Deweys), der gewaltfrei und respektvoll, anerkennend und bestärkend funktioniert, sich dabei aber nicht scheut, auch verbindlich Grenzen zu setzen und Verbote auszusprechen. Diese sind aber soweit möglich mit Begründungen versehen und setzen auf gewaltfreie Sanktionen und Einsicht des Kindes. Es ist dies ein erziehungspraktischer Ansatz, der Freiheiten und Handlungsspielräume eröffnet und nicht überbehütend interveniert, so wie die berüchtigten „Helikopter-Eltern“, die stets um ihre Kinder herumschwirren und jedwedes Restrisiko im Alltag zu eliminieren bemüht sind. Jedoch wird gegebenenfalls sehr wohl auch Verzicht und Disziplin eingefordert, um keine verzogenen Narzissten, um keine und rücksichts- und empathielosen „Ichlinge“ heranzuziehen, die glauben, sie wären der Mittelpunkt der Welt und alles hätte sich um sie zu drehen, andernfalls sie schwer beleidigt, gar jähzornig reagieren.9
3. Sozialisation
Dasjenige Prozessgeschehen, das sowohl die frühkindliche Prägung als auch die Erziehung des Kindes und des jungen Menschen und zudem alle Einflüsse materieller und immaterieller Art umfasst, die für die Entwicklung der Persönlichkeit im Guten wie im Schlechten relevant sind, wird als die Sozialisation des Menschen bezeichnet. Sie wird in Primär-, Sekundär- und Tertiärsozialisation (Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter) differenziert und umfasst letztlich die gesamte Lebensspanne. Der Sozialisationsforscher Klaus Hurrelmann definiert in seinem „Handbuch der Sozialisationsforschung“ Sozialisation (lateinisch „sociare“‚ „verbinden“) als den „Prozess, durch den in wechselseitiger Interdependenz zwischen der biopsychischen Grundstruktur individueller Akteure und ihrer sozialen und physischen Umwelt relativ dauerhafte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen entstehen.“ Sozialisation steht somit für die Anpassung an gesellschaftliche Denk- und Gefühlsmuster durch die Verinnerlichung sozialer Normen. Sozialisation bezeichnet die Entwicklung der Persönlichkeit im Zuge ihrer jeweiligen Wechselwirkungen mit den jeweiligen materiellen und sozialen Umweltbedingungen. Auch die in diesem Prozessgeschehen entstehenden und sich entwickelnden sozialen Beziehungen und Bindungen sind Teil der Sozialisation des Menschen. Sie umfasst sowohl die absichtsvollen und planvollen Maßnahmen, etwa bewusste Erziehungsmaßnahmen und gezielte Variationen der materiellen und sozialen Umweltrahmenbedingungen, als auch die zahllosen unabsichtlichen und rein zufälligen („kontingenten“) Einwirkungen auf die Persönlichkeit.
In einer weiteren Definition bestimmt Klaus Hurrelmann Sozialisation als
„die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen, die sich aus der produktiven Verarbeitung der inneren und äußeren Realität ergibt. Die körperlichen und psychischen Dispositionen und Eigenschaften bilden für einen Menschen die innere Realität, die Gegebenheiten der sozialen und physischen Umwelt die äußere Realität. Die Realitätsverarbeitung ist produktiv, weil ein Mensch sich stets aktiv mit seinem Leben auseinandersetzt und die damit einhergehenden Entwicklungsaufgaben zu bewältigen versucht. Ob die Bewältigung gelingt oder nicht, hängt von den zur Verfügung stehenden personalen und sozialen Ressourcen ab. Durch alle Lebens- und Entwicklungsphasen zieht sich die Anforderung, die persönliche Individuation mit der gesellschaftlichen Integration in Einklang zu bringen, um die Ich-Identität zu sichern.“10
Das Wechselspiel zwischen gesellschaftlichen, also sozialen, wirtschaftlichen, politischen, technischen und kulturellen Lebensumweltbegebenheiten und individuellen Eigenschaften ist zentral für die Sozialisation eines Menschen. In seiner „Einführung in die Sozialisationstheorie“ liefert Hurrelmann diesbezüglich noch eine weitere Definition:
„Sozialisation bezeichnet (…) den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundlagen, die für den Menschen die ‘innere’ Realität bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ,äußere‘ Realität bilden.“11
Der Prozess der Sozialisation lässt sich zudem auf zwei Ebenen betrachten: Bzgl. der
• jeweiligen Persönlichkeitseigenschaften und
• der sozialen Prozesse des Zusammenlebens
Sozialisation bezeichnet also das Gesamtgeschehen von Prägung, Erziehung und all jene weiteren sozialen und physischen Umwelteinflüssen, die zur Formung der Persönlichkeit beitragen, sie umfasst die gesamte Lebenszeit. Gleichwohl sind diejenigen Lebenserfahrungen, die in den besonders identitätsprägenden ersten Lebensjahren gemacht wurden, meist doch die Wirkmächtigeren. Das gilt für die Prägung und Erziehung und deren soziale und materielle Lebensumweltbedingungen und -begebenheiten sowie später dann für die einschneidenden Erfahrungen des Erwachsenwerdens, des „coming-off-age“, also der Abnabelung vom Elternhaus und der nachhaltigen Sozialisation durch die Gleichaltrigen („peer-group“). Zudem geht es auch um die nachhaltige Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung durch Pädagogen und andere „Co-Erzieher“ wie Medien, kulturelle, politische oder sportliche Vorbilder und „role-models“ usw. Entsprechend dieser Vielfalt lässt sich in der Sozialisationsforschung zwischen der Primär-, Sekundär- und Tertiärsozialisation unterscheiden:
Primärsozialisation
Hier geht es um die nachhaltig-persönlichkeitsformenden Einflüsse der primären Bezugspersonen des Menschen, also in aller Regel der Eltern, Großeltern und Geschwister, seiner nächsten Verwandten, die Prägungen bedingen und sonstigen Einfluss auf den Erziehungsprozess haben, indem sie nachhaltige Erfahrungen, Werte und Rollenmodelle vermitteln. Primärsozialisation umfasst aber auch all die Prozesse, Lebensumgebungen und Lebensumstände sozialer, kultureller und materieller Art, die einen wirkmächtigen Einfluss auf die Persönlichkeitsstruktur des heranwachsenden Menschen haben. Von besonderer Bedeutung für den späteren Charakter und die Persönlichkeit der Menschen ist dabei die Qualität der Bindungserfahrungen, die das Kleinkind gegenüber seinen wichtigsten Bezugspersonen macht und ihm günstigstenfalls „Ur-Vertrauen“ und „Autonomie“ und damit eine prosoziale Persönlichkeit vermittelt (siehe hierzu noch ausführlich III.4).
Sekundärsozialisation
Bei der Sekundärsozialisation kommt die „peer-group“ ins Spiel, also die Gruppe der Gleichaltrigen, die sukzessive die Bedeutung und den Stellenwert der Eltern und anderer primärer Bezugspersonen ergänzen und nicht selten gar ersetzen. Sie sind in Fragen der Rollenbilder, der sexuellen Ersterfahrungen, der soziokulturellen Orientierung (Zugehörigkeit zu Jugendkulturen und Szenen, Freizeitverhalten, Kleidungsstile, Musikgeschmäcker, usw.) von größter Bedeutung. An dieser Stelle sei vorwegnehmend bereits auf die herausragende Bedeutung der Sozialisationstheorie des „symbolischen Interaktionismus“ verwiesen (vgl. III.2), wonach die „Spiegelung“ der eigenen Person in seinem sozialen Umfeld, somit also die Rückmeldungen, die der Einzelne von seinen Interaktionspartnern erhält und ihm dabei zu verstehen geben, was sie von ihm halten, elementare Bedeutung für die Entwicklung einer eigenen Identität zukommt. Gerade für Kinder und Jugendliche sind Erfahrungen von Lob und Anerkennung, von Akzeptiert-Werden und Gewollt-Sein, sind Empfindungen von Wertigkeit oder aber umgekehrt Erfahrungen von Abgelehnt-Werden, von Überflüssig-Sein und persönlicher Herabwürdigung, von elementarster Bedeutung für die Frage nach der späteren Persönlichkeitsstruktur. Hier finden sich positive Selbstkonzepte voller Selbstvertrauen und Resilienz, von Pro-Aktivität und Pro-Sozialität ebenso begründet wie negative Selbstwirksamkeitspotentiale (Antriebschwäche) und fehlendes Selbstvertrauen. Die negativen Folgen reichen bis hin zu Minderwertigkeitskomplexen und Misanthropie (Menschenfeindlichkeit), die sich in Form des neurotischen Charakters und der autoritären Persönlichkeitsstruktur wiederum in der Ablehnung des Schwachen und Kreativen, des Unangepassten und Uneindeutigen zu äußern vermag (vgl. Kapitel IV). Insbesondere Jugendgruppen und -kulturen spielen durch Formen der Selbstinszenierung mit den Erwartungen der Gesellschaft und bestärken sich so in ihrer Identität („labelling approach“, vgl. III. 2). Auch Erfahrungen in der Ausbildung oder im Job, und die hierbei jeweils bedeutsamen Personen, etwa Lehrer und Vorgesetzte, und die je damit einhergehenden materiellen Begebenheiten, spielen hier mit herein; insbesondere stellen auch Medien und andere kulturelle wie auch politische Erfahrungen wichtige Sozialisationsfaktoren für den Heranwachsenden in seiner identitätssensiblen Phase dar.
Tertiärsozialisation
Auf der Ebene der Tertiärsozialisation lässt sich das gesamte weitere Leben des einzelnen Menschen hinsichtlich seiner identitäts- und persönlichkeitsbildenden Außen- und Inneneinflüsse (im Sinne der psychischen und psychosozialen Verarbeitung der gemachten Erfahrungen) betrachten. Es geht um das Geformtwerden durch die eigene Familie, den Beruf, menschliche Begegnungen aller Art, Reisen, um biografisch-einschneidende Erfahrungen von Verlust und Krankheit in der Lebensspanne (und deren ge- oder misslingende Verarbeitung), letztlich umfasst die Tertiärsozialisation die gesamte ökonomisch-soziale und sozial-kulturelle Entwicklung und Beeinflussung des Menschen und seiner Persönlichkeit.12
4. Bildung
Ziel allen pädagogischen Strebens ist letztlich die umfassend gebildete Persönlichkeit des Menschen. Bildung meint entsprechend viel mehr als bloße Vielwisserei im Sinne breiter Allgemeinbildung (die freilich nicht hoch genug gewürdigt werden kann), sondern, als Definitionsvorschlag des Autors, eine „reflexive und proflexive Welt- und Selbsterkenntnis nebst individueller Selbstentfaltung im Modus der Selbst- und Mitbestimmung in hierfür als geeignet erkannten und entsprechend solidarisch (mit)gestalteten Lebensumwelten.“13 Mit etwas anderen Worten gesagt:
„Bildung ist reflektierte Welt- und Selbsterkenntnis, die auch der mündigen Selbstentfaltung dient und ein mitbestimmendes, selbstbestimmtes und mitmenschliches Leben ermöglicht und folglich solche Lebensverhältnisse anstrebt und teilhabend (mit)gestaltet, die hierfür als gedeihlich erkannt werden.“
Es ist dies zwar eine komplexe und etwas sperrige Definition, die aber besagter Vieldeutigkeit des Begriffs geschuldet ist. Bildung, so die feste Überzeugung nicht nur des Autors, ist letztlich die umfassendste aller pädagogischen Begrifflichkeiten, sie ist Letztziel und Letztbegründung allen pädagogische Handelns und Strebens.14 Sie kann, mit Wilhelm von Humboldt sprechend, als „Menschwerdung des Menschen“ begriffen werden, ganz der Erkenntnis Erasmus von Rotterdams (1469–1536) entsprechend, wonach Menschen nicht als Menschen geboren werden, sondern zu solchen erzogen werden. Alle im weiteren Verlauf des Buches benannten Bedingungen und Umstände gelingender Persönlichkeitsentwicklung haben letztlich den möglichst umfassend gebildeten Menschen zum Ziel. Bildung ist, wie gesagt, weitaus mehr als bloße Wissensaneignung. Nicht nur, dass es darum geht, welches Wissen gelernt wird: Vor allem Philosophie, Kunst, Wissenschaft und Geschichte sind hier besonders unverzichtbare Wissensfelder. Es stellt sich auch die Frage, ob dieses Wissen auch verstanden und reflektiert, also analysiert, bewertet und in umfassendere Zusammenhänge eingeordnet worden ist bzw. eingeordnet werden kann. Bildung umfasst nämlich auch Werte und Prinzipien und darauf gründende Zielsetzungen und Individualvermögen, namentlich, mit Wolfgang Klafki sprechend, Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit.
Im folgenden soll deshalb genauer der Frage nachgegangen werden, was Bildung eigentlich genau meint, wofür sie steht, wo der Begriff herkommt und welche menschliche Qualität er im Kern bezeichnet. Mit anderen Worten: Was, also welche Eigenschaften und Kenntnisse kennzeichnen den gebildeten Menschen? In einem humanistischen Sinne stellt die gebildete Persönlichkeit schließlich das Letzt- und Leitziel (den sog. „Telos“) jeglicher Erziehung und Sozialisation dar. In aller Kürze vorab gesagt: Gebildet-sein meint nicht weniger als eine reflexionsfähige, selbstbewusste, selbständige und selbstbestimmte, starke und gefestigte, kritische, tugendhaft handelnde, über viel Wissen (oder besser: über das richtige Wissen verfügende) Persönlichkeit. Bildung ist allerletztlich ein Maß für gelingendes Mensch-Sein. Diese Fundamentalnorm gilt es nachfolgend genauer zu benennen und zu begründen.