Читать книгу Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist - Bernd Siggelkow - Страница 6

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Zum Beginn – Ganz persönlich

Als meine Sekretärin die Post ins Büro brachte, war ich nicht wirklich überrascht, dass es sich nur um zwei Briefe handelte. Schließlich wird immer alles bereits vorsortiert und gleich an die entsprechenden Mitarbeiter weitergeleitet. Das hat natürlich viele Vorteile, besonders für mich, denn dadurch kann ich mich auf das Wesentliche konzentrieren und meine Zeit effektiv einteilen.

Doch auf diesen beiden Briefen stand »persönlich« und somit war klar, dass nur ich die Kuverts öffnen durfte.

In einem Umschlag fand ich den handgeschriebenen Brief einer Spenderin. Sie drückte ihren Dank unseren Mitarbeitern gegenüber aus, die sich jeden Tag um Hunderte Kinder kümmern, die nicht auf der Sonnenseite der Welt geboren worden waren. Sie schrieb ein wenig aus ihrem bewegten Leben, wie sie nach dem 2. Weltkrieg miterlebte, wie Deutschland wieder aufgebaut wurde und viele Kinder Kartoffeln direkt vom Acker sammelten, um satt zu werden. Sie beschrieb eine Form der Armut, die vielen von uns fremd ist. Wir haben entweder diese Zeit niemals kennengelernt oder wurden in eine bessere Lebenssituation hineingeboren.

Die ältere Dame berichtete, wie ihre Mutter versuchte, die Familie in diesen harten Zeiten durchzubringen, und blickte trotz allem voller Dankbarkeit auf ihre eigene Kindheit zurück. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer eigenen leidvollen Erfahrungen hatte sie viel Verständnis für die vielen alleinerziehenden Mütter, die heute häufig die Hilfe unserer Arche suchen, damit ihre Kinder eine bessere Zukunft haben können. Diese Tatsache erfreute die Dame so sehr, dass sie dies neben ihrer monatlichen Spende auch einmal zu Papier bringen wollte, um meine Mitarbeiter und mich zu ermutigen.

Der zweite Brief war viel förmlicher. Der Absender war ein Notar aus Norddeutschland, den ich nicht zuordnen konnte. Ein Testament? Für die Arche?

Nein, es handelte sich um eine private Übermittlung. Bereits einige Tage zuvor hatte mich eine mir unbekannte Frau angerufen und mir mitgeteilt, dass mein Vater gestorben sei. Er lebte mit seiner dritten Frau in Schleswig Holstein und ich hatte ihn seit über 30 Jahren nicht mehr gesehen. Ich kannte weder seine jetzige Frau noch ihre Kinder, die sie wohl mit in die Ehe gebracht hatte. Es war tatsächlich die Tochter dieser dritten Ehefrau, die mich über das Ableben meines leiblichen Vaters informierte. Alles war so fremd, so hart und so endgültig und schon nach diesem Anruf beschäftigten mich meine Kindheit, meine Eltern und die damit verbundenen Herausforderungen erneut.

Ich war etwa sechs Jahre alt, als meine Mutter die Familie verließ und meinen Bruder und mich bei meinem Vater und meiner Großmutter zurückließ. Meine Eltern verstanden sich nicht und ihre Ehe war schon von vornherein zum Scheitern verurteilt, doch so etwas weiß man als Kind nicht. Mich traf der Weggang meiner Mutter wie ein Messerstich ins Herz. Von dieser Stunde an erlebte ich nur noch Existenzkampf und Kälte. Meine Oma wurde krank. Trotz der Prognosen der Ärzte lebte sie viel länger als erwartet, aber sie wurde sichtbar vom Krebs zerfressen und mein Bruder und ich sahen, wie sie von Monat zu Monat schwächer wurde.

Mein Vater hingegen rannte von einer Schuldenfalle in die nächste. So gut es ging, versuchte er zu arbeiten, um wenigstens einen Teil der Schulden abzahlen zu können. Der Gerichtsvollzieher gehörte beinahe zur Familie. Sein Kommen war jedes Mal wie der Besuch eines Verwandten. Meine Großmutter unterstützte ihren Sohn so gut wie möglich mit ihrer winzigen Witwenrente. Wir bekamen unseren Vater nur sehr selten zu Gesicht, da er häufig erst von der Arbeit kam, wenn wir schon im Bett waren. Er rauchte viel und lehnte auch Alkohol nicht ab, denn seine Sorgen waren sicher nicht die kleinsten.

Am Wochenende machte er in der Regel sein eigenes Ding. Wir waren meist nicht Teil davon. Er war kein Beziehungsmensch, zumindest nicht in unserer Familie. Er war streng, Lob kannte er nicht und vor allem hatte man in seiner Anwesenheit immer das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Ich kann mich nicht an warmherzige Worte erinnern, geschweige denn daran, jemals auf dem Schoß meines Vaters oder meiner Mutter gesessen zu haben. Schlechte Noten mit nach Hause zu bringen war eine Zumutung, dies duldete er überhaupt nicht. Zeit, um mit uns Hausaufgaben zu machen, sie zu kontrollieren oder gar mit uns zu lernen, nahm er sich aber nicht. Glücklicherweise musste ich fast nie für etwas üben, alles fiel mir irgendwie zu und somit war ich ein recht guter Schüler. Klar, ich war faul, schließlich fehlte mir jegliche Motivation, aber auf meine schulischen Leistungen wirkte sich das nicht aus.

Wäre mir nicht vor vielen Jahren dieser barmherzige Gott mit seiner Liebe begegnet, wo wäre ich heute? Seine väterliche, mitfühlende und glühende Art hätte mich nie erreicht.

Je älter ich wurde, umso deutlicher merkte ich, dass mein Vater kein Teil von uns war. Seine vielen Hobbys, die er anfing und genauso schnell wieder beendete, hatten nie etwas mit uns zu tun. Auf die Frage nach Taschengeld sagte mein Vater nur: »Geh arbeiten!« Und so klaute ich meine Süßigkeiten im Lebensmittelgeschäft. Im Alter von 16 Jahren wurde ich von einem Jugendpastor gefragt, ob ich wüsste, dass es jemanden gibt, der mich liebt. Diese Frage bewirkte etwas, das mein ganzes Leben und meine Haltung über Nacht veränderte.

Zum ersten Mal beschäftigte ich mich bewusst mit dieser Liebe, die in meiner Kindheit keinen Platz gefunden hatte. Natürlich sprach der Pastor von Gottes Liebe, die ich bis dahin auch nicht kannte, doch plötzlich wusste ich, woraus meine Einsamkeit und meine Probleme resultierten.

Gibt es diesen Gott, der mich liebt, obwohl ich mich von meiner Familie abgelehnt fühle? Gibt es diese liebende Kraft, die imstande ist, mir das zu geben, was mir bis dahin verwehrt wurde? Ich hatte nichts zu verlieren und entschied mich, Christ zu werden, was auch immer das bedeutete. Und ich wollte etwas für Kinder tun, damit sie nicht so aufwachsen mussten wie ich. Zwei Entscheidungen, die viele Dinge in mir und vielleicht auch durch mich veränderten.

Auch in dieser Zeit erlebte ich meinen Vater wie einen Fremden. Er war zwar das einzige bisschen Familie, was ich besaß, aber er zeigte keinerlei Interesse. Auch die vielen Jahre danach suchte er niemals den Kontakt oder schickte ein Lebenszeichen von sich.

Immer wieder versuchte ich ihn einzuladen, mit ihm zu telefonieren, E-Mails zu schreiben, doch von seiner Seite aus kam nie etwas zurück. Über all die Jahre habe ich mir immer wieder die gleiche Frage gestellt: Hat dein Vater dich jemals geliebt? Doch die Antwort blieb aus, genau wie eine Erwiderung auf meine jährlichen Mails zu seinem Geburtstag.


Nun lag es vor mir, das Schreiben des Notars, das mir den Tod meines Vaters mitteilte. Obwohl ich nichts zu erwarten hatte, auch nicht mit einem Testament rechnete, war alles in mir angespannt. Irgendwo in diesem förmlichen Brief wollte ich einen Satz finden, der ein Stück Vaterliebe für seine Kinder erkennen ließ. So las ich seinen Inhalt mit zitternden Händen und Schweiß auf der Stirn. Doch viel zu lesen gab es nicht. Neben all den Aktenzeichen, Nummern und Daten enthielt das Schreiben nur wenige Zeilen: die Information zum Todestag meines Vaters und einen Satz, der meinen Bruder und mich betraf. Sein letzter Wille, der ihm allerdings offensichtlich nicht erfüllt wurde.

Vor seinem Tod hatte er den Notar aufgesucht, um testamentarisch festzuhalten, dass seine Kinder nicht über sein Ableben informiert werden sollten.

Aus meinen Augen flossen Tränen. Meine Vermutung, die ich schon einige Jahrzehnte mit mir herumgeschleppt hatte, wurde schlagartig bestätigt. Mein Vater hat uns nie geliebt. Auch wenn man immer versuchen soll, das Gute in einem Menschen zu sehen, war diese Nachricht für mich der zweite Stich ins Herz. Natürlich waren die Umstände der Ehe meiner Eltern schlimm und ich habe Verständnis für die damalige Trennung der beiden. Doch mit dieser persönlichen Verletzung umzugehen, fiel mir unheimlich schwer. Der eigene Vater hatte wohl keinen Platz im Herzen für seine Kinder. Dies war einer der schrecklichsten Tage in meinem Leben.

Wäre mir nicht vor vielen Jahren dieser barmherzige Gott mit seiner Liebe begegnet, wo wäre ich heute? Seine väterliche, mitfühlende und glühende Art hätte mich nie erreicht. Der Funke der Leidenschaft für andere Menschen, den er in meinem Leben entfacht hat, wäre dahinvegetiert.

Ich sitze hier vor leeren Seiten, die ich füllen soll mit Worten und Gedanken über den Text: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.« Ich bin so froh, dass ich etwas zu diesem Thema sagen kann, weil mir diese Barmherzigkeit begegnet ist.

Bernd Siggelkow

im Mai 2020

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist

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