Читать книгу Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist - Bernd Siggelkow - Страница 7
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Barmherzigkeit ist mehr
Es war ein anstrengender Tag. Am Morgen früh raus, mit dem ersten Flieger von Berlin nach Köln zu einer Aufzeichnung beim Sender RTL. Lange Vorgespräche, Maske, Aufzeichnung der Sendung, dann ins Taxi und zurück zum Flughafen, mit dem letzten Flugzeug des Tages zurück nach Berlin.
Verständlicherweise war ich müde und einfach kaputt – und so betrat ich auch das Terminal. Mein Büro hatte die Platzreservierung viel zu spät gebucht und so gab es auf dem überfüllten Rückflug nur noch einen Mittelplatz in der letzten Reihe.
Beim Einstieg gab es kaum ein Vorankommen. Jeder versuchte, sein angebliches Handgepäck in den oberen Ablagen zu verstauen, aber das war sehr schwierig. Schließlich gibt es unterschiedliche Vorstellungen von Handgepäck. So quälte ich mich in die letzte Reihe und drückte mich wie eine Ölsardine in meinen Sitz. Die Armlehnen waren schon besetzt, der linke und auch der rechte Sitznachbar machten es sich bequem. Sie breiteten ihre Zeitungen aus und platzierten sich so, als säßen sie zu Hause in ihrem Fernsehsessel.
Dieses Spiel kannte ich bereits von unzähligen anderen Flügen. Aus diesem Grund versuche ich immer einen Gangplatz zu bekommen, doch heute hatte ich das Gefühl, die ganze Welt hätte sich gegen mich verschworen. Ich schaute mich um, alle Plätze waren belegt. So ging auch die Hoffnung verloren, vielleicht spontan einen freien Platz besetzen zu können. Nur der Sitz direkt vor mir war noch frei, aber auch ein Mittelplatz – uninteressant.
Als ich so in Gedanken versunken vor mich hin grummelte, sah ich im Mittelgang des Flugzeuges einen Mann, der mindestens zwei Meter groß war und geschätzte drei Zentner wog. Er steuerte zielstrebig auf die Reihe vor mir zu. Unvorstellbar, wie dieser Mensch in den mittleren Sitz kommen sollte, wenn ich mit meinen 1,85 m und 85 kg schon das Gefühl hatte, in einer Sardinenbüchse zu sitzen. Doch irgendwie zwängte er sich in den Stuhl. So hatte ich nicht nur einen undankbaren Mittelplatz, sondern auch noch eine »Wand« vor mir. Der Tag war gelaufen, meine Laune im Keller. Lesen konnte ich nicht, schließlich gab es gar keine Möglichkeit, die Arme auszubreiten. Kopfhörer hatte ich zu Hause vergessen und die Augen bekomme ich im Flugzeug sowieso nicht zu. Es gab nur einen Trost. Letzte Reihe heißt, mir wird als Erstem ein Getränk angeboten und ich würde schnell an meinen Kaffee kommen.
Barmherzigkeit ist für mich mehr, als verzweifelt zu helfen. Barmherzigkeit heißt, mit den Augen Gottes zu sehen.
So war es dann auch. Nachdem die Flughöhe erreicht war und das Signal ertönte, das den Service der freundlichen Flugbegleiter ankündigte, bekam ich mein ersehntes Heißgetränk, auch wenn es schwierig war, den Becher an den Mund zu führen.
Auch der recht kompakte Herr aus der Reihe vor mir bestellte einen Kaffee, was ich natürlich sofort mitbekam, schließlich hatte ich jetzt reichlich Zeit zum Beobachten.
Wie wird er wohl seinen Kaffeebecher halten können? Wie kommt er mit den Armlehnen klar? Wie sehr bedrängt er seine Nachbarn, auch wenn er das eigentlich gar nicht möchte? All diese Gedanken schossen mir durch den Kopf und lenkten mich zumindest zeitweise von meinem Frust und meinem stressigen Tag ab. Es war ruhig im Flieger. Jeder war mit seiner Zeitung, seinem Buch, seiner Musik, seinem Schlaf oder mit seinem Getränk beschäftigt. Plötzlich aber ein kurzer, lauter Aufschrei.
Der Kaffeebecher meines Vordermanns war auf das Bein seines linken Nachbarn gekippt, verursacht durch den Platzmangel und die eingezwängte Haltung. Der heiße Kaffee auf dem Bein des jungen Mannes ließ ihn heftig »Au« schreien. Schnell löste er seinen Gurt, sprang auf den Gang und versuchte, mit einer winzigen Serviette den Schmerz und den Fleck auf der Hose zu beseitigen.
In so einem Flugzeug hat das Personal seine Augen scheinbar überall. Der Service der meisten Fluglinien ist einfach hervorragend und die Bordcrew sehr aufmerksam. So auch diese Stewardess, die in unmittelbarer Nähe unserer Sitze stand. Sie stürmte in Windeseile herbei, bepackt mit einem Schwung Servietten, und trocknete flink den Boden, den Sitz und die Hose des betroffenen Passagiers, der noch immer mit hochrotem Kopf auf dem Gang stand.
Um mich herum schauten allen dem Geschehen zu und wunderten sich wahrscheinlich, wie auch ich, warum von dem Herrn, dem Verursacher dieses Missgeschicks, keine Reaktion kam.
Die Mitarbeiterin der Fluggesellschaft widmete sich wieder anderen Aufgaben und der Passagier auf dem Gang musterte erwartungsvoll den kräftigen Mann auf dem Sitz vor mir: »Haben Sie nicht etwas zu sagen?«, fragte er, immer noch mit errötetem Gesicht, mit Blick auf den Übeltäter. Der dreht sich nur kurz zum Gang und erwiderte: »Nein, was denn?« Spannung lag in der Luft. Eine Situation zum Fremdschämen. Vielleicht sollte ich doch besser woanders hinschauen. »Na, Entschuldigung – zum Beispiel«, tönte es verärgert vom Gang. »Und wofür?«, kam es knallhart zurück.
Die Halsschlagader des Mannes auf dem Gang schwoll förmlich an. Ich merkte, wie er versuchte, sich zurückzuhalten. Entweder weint er gleich oder er beginnt lautstark zu schreien, dachte ich bei mir. »Sie haben mir den Kaffee über das Bein gegossen!«, schoss es aus ihm heraus.
Der Herr vor mir blieb die ganze Zeit monoton, fast starr und vor allem kalt. Seine Körperhaltung und seine Worte waren abweisend. Das allein konnte jemanden schon zur Weißglut bringen, doch seine Antwort setzte allem die Krone auf: »… und was kann ich dafür?«
Den meisten Passagieren blieb wahrscheinlich der letzte Schluck des Getränks im Hals stecken, denn das war wohl ziemlich das Letzte, was man erwartet hatte. Der Mann am Gang setzte sich kopfschüttelnd zurück auf seinen Platz und niemand wagte, auch nur einen Ton zu sagen.
In diesem Moment war ich auch sprachlos, dachte aber anschließend über diese Situation viel nach.
So oft begegnen uns Menschen, die wir als kalt empfinden, an denen Dinge oder Situationen völlig abzuprallen und sie nicht zu berühren scheinen. »Ist doch mir egal« – eine Aussage, die ich von den meisten Teenagern in der Arche höre.
Anteilnahme, Betroffenheit, Empathie und Mitgefühl sind offenbar in der Gefühlswelt mancher Menschen nicht vorhanden – wie ausgestorben. Für sie heißt es: An erster Stelle komme ich und danach folge immer noch ich. Ich, ich, ich – etwas anderes gibt es nicht. Mit diesem Motto lebt es sich scheinbar am besten. Einstellungen und Weisheiten wie »Jeder ist seines Glückes Schmied«, »Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott« oder »Der ist doch selbst schuld« machen das Zusammenleben in unserer Gesellschaft nicht leicht.
Und dann lesen wir, dass Jesus Christus spricht: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!« (Lukas 6,36).
Ja, das ist eine Aussage, zu der wir Christen gern Ja und Amen sagen, aber für mich ist es eine echte Herausforderung. Gerade in einer Gesellschaft, in der bei vielen Menschen der pure Egoismus dominiert, wenig Verständnis für andere da ist und Hilfe oft nur aus Mitleid betrieben wird, sind Barmherzigkeit und Nächstenliebe vergessene Werte.
Es ist ja nicht so, dass ich automatisch barmherzig bin, nur weil ich Christ bin. Auch in vielen Gemeinden geht es oft nur um den Existenzkampf und nicht um den Nächsten. Wobei da die alte Frage wieder neu aufkommen sollte: »Wer ist eigentlich mein Nächster?«
Abgesehen davon würden die meisten Menschen um mich herum niemals von sich aus in die Kirche gehen, geschweige denn kennen sie einen Christen. Sie haben oft eigene Sorgen und Probleme, bei denen unsere Barmherzigkeit ins Schwanken gerät. Die Investition in diese Menschen wird zu einer Lebensaufgabe.
»Wer Gott liebt, wird auch seine Brüder und Schwestern lieben, und schließlich werden alle Menschen diese Liebe zu spüren bekommen« (2. Petrus 1,7; Hfa).
Somit kann ich nicht wegschauen, wenn jemand in Not ist, denn auch Gott würde niemals wegsehen. So oft sagen wir, dass wir Gott lieben, aber die Menschen um uns herum scheinen uns egal. Oft lese ich, wie Christen über Fehlentscheidungen von Politikern oder anderen Menschen herziehen, statt selbst zu handeln. Klar, es ist immer einfach, gegen etwas oder jemanden zu sein, aber Gott reicht uns auch die Hand.
Wir sollen nicht nur reden, sondern vor allem handeln. Schließlich gibt auch Gott den Menschen nicht nur kluge Ratschläge – im Gegenteil: Er lässt seine Liebe und Vergebung ganz praktisch werden.
Lassen wir uns von der Liebe Gottes inspirieren, dann werden aus Worten Taten. Lieben wir ihn, dann können wir nicht mehr achtlos an unseren Mitmenschen vorbeigehen.
Vertrauen wir Gott, wird kein Weg zu anstrengend und keine Hürde zu hoch sein. Natürlich ist es immer leichter, Liebe mit den Lippen zu bekennen. Aber was andere von uns sehen, ist nicht das, was aus unserem Mund kommt, sondern vielmehr die Dinge, die wir ganz praktisch bewirken.
Barmherzigkeit ist für mich mehr, als verzweifelt zu helfen. Barmherzigkeit heißt, mit den Augen Gottes zu sehen.