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Kapitel 1
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In den Pfingstferien fahre ich mit meiner Familie seit Jahren in meine Heimat, in einen kleinen Ort an der Schleswig-Holsteinischen Ostseeküste, Hasselberg, genauer Baggelan.
Hier verbringen wir zwei Wochen in einem Reet gedeckten Haus, das mitten in Wiesen und blühenden Rapsfeldern steht.
Dies ist der stillste Ort, den ich auf der Welt kenne. Das einzige Geräusch, das ich selbst bei angestrengtem Horchen wahrnehmen kann, ist das Rauschen des Windes über den sich wogenden Rapsfeldern.
Es ist ein Ort der Stille. Er lädt ein zum Zur-Ruhekommen, zum In-sich-Kehren, zum Erinnern, zum Nachdenken.
Ich bin in der Nähe dieses Ortes, in Satrup, dem Herzen der Landschaft Angeln, aufgewachsen und habe dort die ersten 19 Jahre meines Lebens verbracht.
Wir nutzen jedes Jahr die Gelegenheit, meine dort wohnenden Eltern zu besuchen, die mittlerweile sehr alt, 88 und 86 Jahre, sind.
Die Rückkehr in diese Gegend ist also neben dem Wunsch nach Ruhe, Abgeschiedenheit und Erholung auch mit Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend verbunden.
Aber nicht nur das. In der Regel verabrede ich mich mit einem Lehrer aus meiner Schulzeit, der mittlerweile im Ruhestand ist und auf die 70 zugeht.
Diese Begegnungen sind in unterschiedlicher Hinsicht fruchtbar. Zum einen, und das bleibt bei zunehmendem Altern nicht aus, wärmen wir gemeinsame Erlebnisse auf. Zum anderen aber, und dies klang bereits in anderen Veröffentlichungen an1, habe ich bei diesem Lehrer neben persönlichkeitsbildenden Einsichten in der Oberstufe systematisches Denken, verschiedene Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, erwerben und weiterentwickeln können.
Das Wissen um die Notwendigkeit und die Sinnhaftigkeit dieser Grundkompetenzen setze ich heute in meiner Tätigkeit als Hochschullehrer ein, damit meine Studierenden systematisches, planvolles, zielgerichtetes, methodisches Denken ausbilden wie auch grundlegende Haltungen und Einstellungen ausprägen können.
Zudem verabrede ich mich jedes Jahr mit einem Freund und Schulkollegen, der als Berufsschullehrer tätig ist. Seine Arbeit, so dieser ebenfalls End-Fünfziger, bestehe nach seinen eigenen Aussagen zu einem großen Teil aus Sozialarbeit.
Von einem Beispiel, das er mir vor Jahren erzählte, was mich einerseits zum Schmunzeln brachte, was für mich andererseits aber zugleich Anlaß zum ernsthaften Nachdenken darstellte, sei im folgenden berichtet.
Im Unterricht an der Berufsschule, so sein Bericht, komme es immer wieder vor, daß junge Berufsschüler offen und ungeniert gähnten im Sinne von Der Löwe hat Hunger. Wenn es ihm gelänge, den Gähnenden dazu zu bewegen, die Hand vor den Mund zu halten, habe er ein wichtiges Unterrichtsziel erreicht.
Natürlich, möchte ich hier fast schon schreiben, ist dies nicht alles, was er an Inhalten vermittelt, aber dies ist ein besonderes und doch nicht außergewöhnliches Beispiel.
Ich selbst bin Abitur-Jahrgang 1979 und bin damals aus der norddeutschen Provinz in die weite Welt gezogen, um Lehrer zu werden. Aus mir ist beruflich nach vielen Wendungen und Umwegen etwas völlig anderes und doch nicht anderes geworden: Hochschullehrer.
Im Kreis meiner engsten Kollegen an der Hochschule haben wir bereits des öfteren selbstkritisch angemerkt, daß keiner von uns das Lehren gelernt habe, auch Klausur-Aufgaben zu stellen, zu korrigieren, Noten nachvollziehbar und gerecht zu bestimmen, mündliche Prüfungen durchzuführen, war nirgends Inhalt von Studien- und Ausbildungsgängen.
Selbst ich, der ich ein Lehramtsstudium bis kurz vor dem Staatsexamen durchlaufen habe, zudem ein Pädagogik-Diplomstudium absolviert habe, kann nicht von mir behaupten, diese als obligatorisch zu bezeichnenden, alltäglich anfallenden Tätigkeiten eines Hochschullehrers grundständig gelernt zu haben.
Wir erfüllen diese Anforderungen zweifelsohne nach bestem Wissen und Gewissen, mit vollem Einsatz, keine Frage. Aber wahrscheinlich, dies ist jedoch kein endgültiges Statement, greifen wir auf das zurück, was wir als Schüler und später Studierende selbst erlebt und in der Folge als sinnvoll für die eigene Tätigkeit des Lehrens kennengelernt haben.
Seit Jahren schon besuche ich fleißig Fortbildungen zu den Themen Betreuen und Begutachten von wissenschaftlichen Hausarbeiten und Abschlußarbeiten, Hausarbeiten didaktisch gut anleiten und effizient korrigieren und zu dem Bereich mündliche Prüfungen.
Das Hochschuldidaktische Zentrum Baden-Württemberg bietet hier auf Universitätsebene vielfältige Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten an.
Mir ist bei diesen Veranstaltungen noch nie ein zweiter Professor oder eine zweite Professorin außer mir begegnet, stets waren ausschließlich Doktoranden oder Wissenschaftliche Mitarbeiter/innen, also Vertreter/innen des sogenannten akademischen Mittelbaus, bei diesen Schulungen und Workshops anwesend.
In mir kam und kommt wiederholt die Frage auf: Benötigen erfahrene Hochschullehrer, etablierte Professoren keine Fortbildungen hinsichtlich didaktisch relevanter Themen?
Der lesenswerte Beitrag Wie man lehrt, ohne zu belehren von Rolf ARNOLD, der im Rahmen seiner Betrachtungen zu dem Themenbereich Hochschuldidaktik anmerkt, in Gesprächen mit erfahrenen Lehrenden werde deutlich, daß sie sich „in ihrem Alltag nicht auf wissenschaftliche Didaktikkonzepte oder die Ergebnisse der neueren Lehr-Lernforschung beziehen, sondern intuitiv aus ihrer Erfahrung heraus agieren“2, stellt den Ausgangspunkt für die Betrachtungen in dem vorliegenden Band dar.
Wenn wir in diesem Kontext von der Berechtigung dieser These ausgehen, so berufen sich Hochschullehrer/innen nicht auf (fach-)wissenschaftliche bzw. (fach-)didaktische Grundlagen, sondern handeln intuitiv und aus ihrer Erfahrung heraus.
Dieser Gedanke trägt einen wahren Kern in sich, nur ist dies aus meiner Sicht zu allgemein formuliert. Was bedeutet nun intuitiv und aus der Erfahrung heraus? Welche Erfahrung ist hier gemeint?
Meine Ausgangsthese in diesem gedanklichen Zusammenhang besagt, daß Lehren an der Hochschule neben dem Verwerten wissenschaftlicher, pädagogischer und didaktischer Literatur vor allem auf den Erfahrungen mit Lernen und Lehren in der eigenen Kindheit, Jugend und in institutionellen Zusammenhängen wie Schule, Ausbildung, Hochschule und Beruf beruht3.
Dabei ist jedoch zu bedenken, daß neben dem bewußt vorgenommenen selbstkritischen Reflektieren dieser Erfahrungen auch Ereignisse, Erlebnisse, Begegnungen und Menschen Bedeutung für die Entwicklung von Lehr- und Kommunikationsstilen haben können, die nicht bewußt wahrgenommen, die vielleicht nicht einmal mehr erinnert werden (können).
Es läßt sich bei mir eine eindeutige Präferenz für den sogenannten interaktiven Lehrstil feststellen. Nicht Frontalunterricht mit vortragsähnlichem Input, nicht mit überwiegender Redezeit auf Seiten des Dozenten, kein belehrendes Eintrichtern von Fakten, keine Einbahnstraße der Wissensvermittlung, keine Dozenten-Zentrierung, so in Kurzform die Beschreibung dessen, wie ich es nicht mache.
Interaktiv lehren bedeutet demgegenüber eine vom Dozenten gesteuerte Interaktion zwischen Dozent und Studierenden sowie Studierenden untereinander zu ermöglichen. Studierende werden kontinuierlich aktiviert, um einen für sie angemessenen, einen für sie individuell passenden Lernstil zu entwickeln, der nicht auf das reine Reproduzieren von Wissen ausgerichtet ist, sondern auf Verstehen, Anwenden und auf ein mögliches Wechseln der Betrachtungsperspektiven ausgelegt ist4.
Studierende sollen Lösungen für Probleme selbst entdecken können, sie sollen ihre kritischen Denkfähigkeiten entwickeln, sie sollen Ideen ausfindig machen, Lösungen und die Folgen der Lösungen bewerten. Dies ist in meinen Augen aktives, aneignendes Lernen.
Der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle bereits bemerkt haben, daß in den bisher angestellten Überlegungen (auto-)biographischen Aspekten eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Mein Lehren an der Hochschule ist nicht zu verstehen ohne den biographischen Hintergrund, vor dem ich Haltungen, Einstellungen, Lehr- und Kommunikationsstile entwickelt, aber mir auch Vorgehensweisen angeeignet und fachlich-inhaltliches Wissen ausgeprägt habe.
Diese Entwicklungen in Vollständigkeit abbilden zu wollen, ist aus meiner Sicht eine nicht realisierbare Forderung. Möglich ist jedoch, einzelne Stationen aus meinem Leben als Kind, als Jugendlicher, als Heranwachsender, als Studierender, als langjährig in der praktischen Sozialen Arbeit vor Ort professionell Tätiger und heutiger Hochschullehrer nachzuzeichnen, Verbindungslinien von biographischen Stationen hin zu meinen hochschuldidaktischen Ansätzen der Lehre aufzuzeigen. Wir Menschen sind mehr als die Summe unserer Erfahrungen, wir sind mehr als das Ergebnis unserer eigenen Vergangenheit.
Der vorliegende Band ist nicht im strengen Sinne ein wissenschaftliches Werk. Es wird vielmehr versucht, einen vermuteten inneren Zusammenhang von Erlebnissen, Erfahrungen, Begegnungen, Gedanken, Gefühlen als Lernender zu der Art und Weise, wie ich die aktuell an mich gestellten Anforderungen als Hochschullehrer zu bewältigen suche, herauszuarbeiten.
Die dabei gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse sind nicht mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit verbunden. Dies ist nicht Zielsetzung des vorliegenden Bandes.
Es werden vielmehr Geschichten aus meiner subjektiv wahrgenommenen Lebenswirklichkeit als Kind, als Heranwachsender und als Erwachsener erzählt, Geschichten, Anekdoten und anderes aus meiner Sicht Lesenswertes, was den Leser zum tiefergehenden Nachdenken über die angesprochenen Themen anregen soll.