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Kapitel 2

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Lehrer-Vorbilder

Jede/​r von uns hat Werte, Ideale, Illusionen, Vorstellungen, was Leben angeht. Wie diese entstanden sind bzw. sich im Laufe der Jahre verändern, ist ein schleichender, zu einem überwiegenden Teil unbewußt ablaufender Prozeß, dessen Anfang und Ende nicht klar zu bestimmen sind.

Begegnungen mit Menschen sind bedeutende Stationen im Leben, gemeinsame Erlebnisse, gewonnene Eindrücke, Erfahrungen, Gefühle. All dies prägt uns in unserem Denken und Fühlen, und dies auf jeweils sehr individuelle Weise. Kein Mensch ist mit einem anderen zu vergleichen.

Als ich 15, 16 Jahre alt war, bestanden meine Vorstellungen, was spätere Berufstätigkeit anging, aus drei Optionen: Mediziner, evangelischer Theologe, Lehrer.

Hinsichtlich aller drei Berufe hatte ich echte Vorbilder, tatsächlich lebende Menschen, die ich kannte, denen ich im alltäglichen Leben begegnete, nicht über die Massenmedien verbreitete Idealvorstellungen.

Der Nachbar meiner Eltern, Herr D., war Allgemeinmediziner und Hausarzt.

Ich erinnere mich gut daran, wie er des öfteren nachts mit seinem Porsche zu Notfällen aufbrach.

Er hatte nach aufregenden und hart bis unfair geführten Handballspielen in meiner Jugendzeit des öfteren das zweifelhafte Vergnügen, mich in den Abendstunden von Samstagen oder Sonntagen wegen zahlreicher Fingerbrüche und Verstauchungen medizinisch zu versorgen.

Er hatte mir angeboten, dies im privaten Rahmen vorzunehmen. Ich brauchte also keinen Termin in der Arztpraxis, sondern ging auch zu vorangeschrittener Nachtstunde geradewegs ins Nachbarhaus hinüber. Herr D. versorgte mich und meine Verletzungen mit dem ihn auszeichnenden Gleichmut, er verlor, so zumindest meine Wahrnehmung, nie die Geduld - ein wahres Vorbild.

Der ortsansässige Pastor Dr. A. war ein besonderer Mensch. Er übte auf mich eine anfangs nur schwerlich zu bestimmende Faszination aus. Vielleicht war es die Nähe zu Gott, die für mich, obwohl nicht im Glauben verwurzelt, spürbar war.

Ich ging, und dies war ausschließlich der Verdienst des Pastors, als Jugendlicher sonntags regelmäßig in den Gottesdienst. Ich freute mich auf die Predigten, die mich intellektuell ansprachen und mich über den Sinn des Lebens nachdenken ließen.

Pastor Dr. A. war gleichzeitig als Lehrender in Religion und Philosophie an dem dörflichen Gymnasium tätig, das ich besuchte. Ich habe vieles gelernt, über Weltreligionen, über bedeutende Menschen, auch über Möglichkeiten der Gestaltung schulischen Unterrichts, und dies obwohl Pastor Dr. A. kein Lehrer im eigentlichen Sinne war.

Ich kann mich auch nach 40 Jahren gut erinnern an einzelne Situationen im Religionsunterricht der Unterprima.

Pastor Dr. A. pflegte in der Regel ohne schriftliches Konzept, ohne ausgearbeitete Vorlage zu dozieren. Wir Schüler/​innen folgten ihm gebannt in seinen exzellent formulierten, rhetorisch ansprechenden Ausführungen.

Gleichzeitig beobachteten wir das doch sehr eigentümliche Verhalten des Pastors beim Vortragen.

Er saß vorn, am Pult, auf einem Stuhl, kippelte nach hinten, so daß er seinen Kopf auf der Schwammablage der Wandtafel ablegen konnte. Zudem hielt er die Augen geschlossen.

Ob ihm dies einen besonders innigen Kontakt zu Gott ermöglichte oder ob dies seine ihm eigene Form der Konzentration ausmachte, wußte keiner zu deuten.

Pastor Dr. A. war aufgrund seines Intellekts, der gepaart war mit einem unerschöpflichen Reservoir an menschlichem Einfühlungsvermögen und dem Wunsch, ja dem immer wieder wahrnehmbaren Drang nach verbalen Auseinandersetzungen gehobenen Anspruchs sowie aufgrund seiner eher unkonventionellen, unangepaßten Verhaltensweisen ein wirkliches Vorbild.

Pastor Dr. A., so erzählte er mir in einem von mehreren Gesprächen im privaten Rahmen, war aus innerer Überzeugung Pastor geworden.

Er war aufgewachsen in der Zeit des Nationalsozialismus und hatte sich entschlossen, seinen Beitrag dafür zu leisten, daß sich die Gräueltaten des diktatorischen Hitler-Regimes wie auch der in seinem Namen begangene Völkermord in der Geschichte der Menschheit nicht wiederholen dürften.

Hier war für mich bereits als Heranwachsender eine Verbindung zwischen Beruf und Berufung wahrnehmbar geworden. Pastor Dr. A. war auch deshalb so überzeugend in seinem gesamten Auftreten, da sein Denken, Fühlen und Handeln eine Einheit bildete, die ich als Jugendlicher zwar intellektuell-kognitiv nicht fassen konnte, die dennoch deutlich spürbar war. Pastor Dr. A. war authentisch, er war belesen, er war von herausragenden intellektuellen Fähigkeiten, er war kommunikativ und stets für ein anspruchsvolles, tiefgehendes Gespräch offen. In der Summe machte dies die Faszination aus.

Hinsichtlich des Berufswunsches Lehrer hatte ich als Schüler, der insgesamt 13 Jahre die Grundschule und darauf aufbauend das Gymnasium bis hin zum Abitur besuchte, reichlich und ausgiebig Gelegenheit, abschreckende und nachahmenswerte Vorbilder zu erleben.

Bei intensivem Nachdenken über Schule und Lehrer/​innen fallen jedem von uns Beispiele ein, die auch nach Jahrzehnten noch im Gedächtnis abgespeichert sind.

Vielfältige Einflüsse im Sinne von Personen und Vertretern/​innen von Institutionen wirken auf uns ein: Eltern, Familie, Geschwister, Freunde, Erzieherinnen, Lehrer/​innen, Trainer, Betreuer, Animateure.

In dem angesprochenen Zusammenhang ist hier der Bereich der schulischen oder auch institutionellen Sozialisation angesprochen. Nicht fachlich geschrieben bedeutet dies: viele unterschiedliche Menschen begegnen uns in den wichtigen Entwicklungsphasen von Kindheit und Jugend. Sie prägen uns, stellen uns ein Bild von Wirklichkeit vor, das wir (noch) nicht hinterfragen, das wir noch nicht mit eigenen Erfahrungen füllen und überprüfen können. Dies wird Aufgabe von spätem Jugendalter und dem Erwachsenenalter sein. Aber wir haben uns auch bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren verstärkt Gedanken um den Sinn des Lebens gemacht.

Ich hatte als 15-Jähriger die Möglichkeit, in einem erlauchten Kreis von Honorationen meines Heimatortes, Bürgermeister, Lehrer/​innen, Mitgliedern des hiesigen Gemeinderates, dem Pastor, an einem regelmäßig stattfindenden Gesprächskreis teilzunehmen. Inhaltlich wurden hier existentiell bedeutsame Themen besprochen: Glauben, Gott, der Sinn des Lebens.

Sowohl damals wie auch heute habe ich mich geehrt gefühlt, in diesem Kreis nachdenklicher Persönlichkeiten einen festen Platz eingenommen zu haben.

Ich war der einzige Jugendliche, der in diese Runde berufen wurde, der ich zu den anstehenden Themen um meine jugendliche Perspektive gefragt wurde. Ich habe mich wahrgenommen und ernst genommen gefühlt. Das war eine besondere Situation, die, von heutiger Sicht betrachtet, in mir schlummernde Talente zum Vorschein brachte: die Fähigkeit zu intensivem Zuhören, zum Mitfühlen, zum Sich-Hineindenken, zum selbstkritischen Reflektieren, zum Austauschen, zum konstruktiven Diskutieren.

Diese Ressourcen waren mir über schulischen Unterricht nicht bewußt geworden. In der Schule, zumindest in den höheren Klassen des Gymnasiums, war überwiegend das Ausprägen intellektueller Fähigkeiten angesagt. Musische, handwerklich-kreative und sportliche Anforderungen wurden auch gestellt, standen jedoch von Umfang und Bedeutung zumeist im Schatten der sogenannten Hauptfächer.

Das Erlernen von Kritik-, Kompromiß- und Konfliktfähigkeit, das Bilden und Vertreten einer eigenen begründeten Meinung, das selbstkritische Nachdenken, wesentliche Bestandteile sozialer Kompetenzen, waren nicht gefragt.

Unabhängig von den inhaltlichen Zielsetzungen schulischen Unterrichts bestand und besteht auch heute noch der sogenannte Heimliche Lehrplan in der Schule.

Während der Sachverhalt als solcher im Jahre 1925 von Siegfried BERNFELD in dem berühmten Buch Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung5 beschrieben wurde, begegnete mir diese Vokabel Anfang der 1980er Jahre in Lehrveranstaltungen des renommierten Kindheits- und Jugendforschers und damaligen Professors für Sozialpädagogik an der Philipps-Universität Marburg Jürgen ZINNECKER6.

Mit dem Begriff Heimlicher Lehrplan, so Hilbert MEYER, würden „Mechanismen beschrieben, die im alltäglichen Schulbetrieb auf die Schüler einwirken und systematisch die hehren Zielsetzungen der Schulgesetze und Richtlinien unterlaufen“7.

Damit würden u. a. Themen verbunden wie die hierarchische Ordnung in der Schule mit Formen der Über- und Unterordnung der Schüler/​innen, konformes und abweichendes Verhalten und deren Sanktionsmöglichkeiten, Themen wie leistungsbezogene Konkurrenz (kollektives Unterrichten, individuelles Zensieren), sprachliche Normierung sowie Maskierung (Vorgeben vermeintlichen Interesses am Unterricht versus Abschweifen in Gedanken)8.

Zurück zu schulischem Unterricht und potentiellen Lehrer-Vorbildern.

Während ich mich an die Grundschulzeit nur schemen- und bruchstückhaft erinnern kann, fallen mir hinsichtlich positiv und negativ wirkender Lehrerinnen und Lehrer im Gymnasium viele Beispiele ein.

Herr W., Deutschlehrer in den Klassen Sexta, Quinta und Quarta, ging in meiner ersten Unterrichtsstunde im Gymnasium, das war Mitte August 1969, durch die Bankreihen, zeigte mit dem Zeigefinder auf jeden einzelnen Schüler und fällt dann sein Urteil: Du schaffst das Abitur, Du nicht. Du schaffst das Abitur, Du nicht.

Woher Herr W. die Kenntnisse nahm, dies einschätzen zu können, bleibt bis heute ein ungelöstes Rätsel. Vielleicht war er im Besitz übersinnlicher Kräfte und konnte Hellsehen?

Wie dieses Beurteilen auf die Kinder wirkte, denen er die Fähigkeit absprach, Abitur machen zu können, bleibt ebenfalls bis heute unausgesprochen, läßt sich nur erahnen. Herr W., ein ausgebildeter Lehrer, hatte die Angewohnheit, morgens in den Unterrichtsraum zu kommen, die Schüler/​innen standen zu der Zeit von ihren Stühlen auf, wenn der Lehrer den Raum betrat. Wir mußten uns ihm zuwenden und uns mit seiner Bewegung durch den Raum langsam um die eigene Achse drehen, wenn er ans Pult schritt, so daß wir ihm stets die Brustseite zuwenden konnten. Vorne eingetroffen, skandierte er laut: Guten Morgen, Sexta b, unser Part bestand darin zu antworten Gu-ten Mor-gen, Herr We-we-we. Danach durften wir uns setzen.

Viele Jahre später, als ich meinen Wehrdienst bei der Bundeswehr ableistete, ist mir diese Form der Begrüßung wiederbegegnet. Herr W. hatte die Art und Weise der gegenseitigen Begrüßung von Rekruten im Organisationsverbund von Kompanie oder Zug und Vorgesetzten aus der Bundeswehr im Verhältnis von eins zu eins auf seinen Unterricht übertragen.

In den drei Jahren Deutschunterricht haben wir neben den vielfältigen Erzählungen von Urlaubsfahrten mit dem VW-Bus, der am letzten Schultag vor den Ferien bereits gepackt zur Abfahrt bereit stand, die zehn Wortarten, Konjugieren und Deklinieren gelernt, viel mehr nicht.

Später begegneten mir andere Persönlichkeiten, die meine Schulkollegen und mich zu eher ungewöhnlichen Verhaltensweisen verleiteten. Wir waren keine Störenfriede, keine Randalierer, aber wir haben bisweilen in uns langweilendem Unterricht Käsekästchen oder Schiffe versenken gespielt, vor uns hin geträumt, geschlafen oder auch unsere aus heutiger Sicht im Bereich von Mobbing einzuordnenden Späße getrieben.

So erinnere mich gut an einen Mathematik- und Physiklehrer, Herrn S., der ein gutmütiger Mensch war, fachlich sehr beschlagen, aber er konnte keinen Kontakt zu uns Schülern/​innen aufbauen.

Ich habe in seinem Unterricht nichts gelernt. Daran habe ich ablesen können, daß neben einem interessant gestalteten Unterrichtsthema auch die Art der Beziehung zwischen Lehrendem und Lernendem eine gewiß oftmals unterschätzte Bedeutung einnehmen kann, was die Lernbereitschaft, das aktive Mitarbeiten und den Unterrichtserfolg insgesamt ausmacht.

Herr S. war hörgeschädigt und trug ein Hörgerät, das er je nach vorhandenen Lärmquellen in der Umgebung auf die richtige Sensibilität einstellen mußte. Dies war für sich langweilende Schüler ein gefundenes Fressen. Was taten wir? Wir pfiffen beispielsweise aus den letzten Bankreihen hinter vorgehaltener Hand, in höheren oder auch tieferen Tonlagen, laut und leise, so daß Herr S. den überwiegenden Teil seiner Unterrichtszeit damit beschäftigt war, sein Hörgerät zu regulieren.

Heutzutage würde dieses Verhalten von uns Schülern/​innen als Mobbing gegenüber dem Lehrer bezeichnet. In der Mittelstufe, also in den Klassen Untertertia bis Untersekunda, hatten wir einen Erdkunde-Lehrer, Herrn V. Herr V. war bereits über der Altersgrenze, er war pensioniert, unterrichtete dennoch weiter am hiesigen Gymnasium.

Herr V. machte unglaublich langweiligen Erdkunde-Unterricht, als dessen Grundlage er aus einem handschriftlich ausgearbeiteten Heft vorlas, das so alt war, daß es bereits vergilbt war.

Eigentümlich an diesem Lehrer war die Tatsache, daß er sich mit dem Pausen-Gongschlag noch im Klassenzimmer stehend eine Zigarette anzündete, die ersten Züge genüßlich einsog und sich dann unverhohlen rauchend durch das Schulgebäude gen Lehrerzimmer in Bewegung setzte.

Herr V. war jenseits. Er bewegte sich außerhalb jeglicher gesellschaftlicher Konventionen und Regeln. Ich habe nicht erlebt, daß Herr V. jemals von Schulleitungsseite wegen seines Regelübertretens gerügt wurde.

Konservativ und autoritär, diese Verbindung mußte in Person von Lehrern nicht unbedingt negativ sein. Ein Beispiel dafür war Frau Dr. H. Sie unterrichte weit über die Altersgrenze hinaus, war über ein Studium Generale für viele Unterrichtsfächer qualifiziert und schöpfte aus einem nahezu unbegrenzten Pool an Wissen.

Sie hatte die Fähigkeit, Unterricht so lebendig zu gestalten, daß es uns Schülern/​innen selbst während der schwierigen Phase der Pubertät Spaß machte, ihren Unterricht zu besuchen.

Frau Dr. H. besaß natürliche Autorität, Ansehen, Einfluß, Autorität im ursprünglichen, im positiven Sinne.

Eine wirkliche Giftspritze dagegen war Frau F. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, sie in der Oberstufe im Leistungskurs drei lange Jahre fünf Stunden in der Woche genießen zu dürfen. Das war nicht so ohne.

Druck über Noten, Abfragen des Stoffes der vorangegangenen Unterrichtsstunde, autoritäres Gehabe. Sympathien spielten eine bedeutende Rolle. Sechs Schüler/​innen in dem Kurs, eine Lehrerin, drei lange Jahre, das war intensiv. Ich habe dies überlebt, aber schön war es nicht.

Sie kam des öfteren zu spät in den Unterricht, überzog dann in die Pausen hinein mit der Begründung, wir hätten nicht so mitgearbeitet, daß sie in der vorgegebenen Zeit ihren Stoff habe durchbringen können.

In diesen Situationen konstruktiv Widerstand zu leisten oder gar Protest anzumelden, war für uns, die wir nun wahrlich nicht unmutig waren, kaum möglich. Wir haben es erduldet.

Herr M., Englischlehrer in der Oberstufe, kam regelmäßig zehn bis fünfzehn Minuten zu spät in den Unterricht, hörte dafür aber zehn Minuten früher auf.

So entwarfen wir als Schüler das folgende Bild: Würde Herr M. 20 Minuten später kommen und 25 Minuten früher als das offizielle Unterrichtsende gehen, würde er sich selbst im Schulflur begegnen.

In der 11. Klasse habe ich im Rahmen der sogenannten Reformierten Oberstufe einen Grundkurs Deutsch belegt. Hier stand eine schriftliche Klausur zu dem Thema Mittelhochdeutsch an, was nicht gerade als eines meiner Lieblingsthemen zu bezeichnen war.

Der Lehrer, Herr G., schloß in der letzten Sitzung vor der Klausur Themengebiete aus, die nicht in der Klausur abgefragt werden würden, die wir folglich auch nicht vorbereiten mußten.

Was passierte tatsächlich in der Klausur?

Genau die Bereiche, die Herr G. zuvor ausgeschlossen hatte, waren Gegenstand der Klausur, ausschließlich diese. In diesem Kurs waren wir zehn Schülerinnen und Schüler, alle 16 oder 17 Jahre alt.

Wir waren erstaunt, als wir die Klausuraufgaben lasen, denn Herr G. war keinesfalls als ein Unmensch bekannt. Wir verständigten uns daraufhin per Blickkontakt und legten allesamt die Stifte beiseite, verschränkten demonstrativ die Arme vor der Brust. Wir leisteten also offenen Widerstand. Wir rebellierten.

So saßen wir zu zehnt 90 Minuten über unseren geöffneten Heften und schrieben kein Wort. Ergebnis: Bei der Rückgabe der Klausuren erhielten wir eine Sechs, 0 Punkte, ein Ungenügend, jeweils mit der schriftlichen Begründung von Herrn G. versehen, die Aufgaben der Klausur seien nicht angegangen worden.

An diesem Beispiel werden verschiedene Themen deutlich. Zum einen habe ich bis heute hin nicht verstanden, warum ein Lehrer, in diesem Beispiel Herr G., in der Vorbereitung Themen für eine anstehende Klausur ausschließt, um genau diese dann in der Klausur als Aufgaben zu stellen.

Dies war damals und ist heute nicht nachvollziehbar. Ist dies pädagogisch sinnvoll oder gar wertvoll? Was sollte da abgeprüft werden? Die Leidensfähigkeit, die Anpassungs- oder Widerstandsfähigkeit von 16-Jährigen?

Zum zweiten, und dies ist eine von damaliger wie von heutiger Sicht durchaus als sehr positiv zu beurteilende Beobachtung, haben wir uns über den Weg nonverbaler Kommunikation auf ein gemeinsames Vorgehen, Verweigerung, einigen können. Niemand ist ausgeschert.

Zum dritten, und dies ist in diesem Zusammenhang besonders bedeutsam, haben wir uns miteinander solidarisch erklärt und offenen Widerstand gegen das von uns als ungerecht empfundene Vorgehen des Lehrers geleistet.

Wir hatten zwar alle eine Sechs erhalten, aber wir waren innerlich standhaft geblieben und wir hielten zusammen.

Und dies ist auch im Abstand von 40 Jahren immer noch der Punkt, an dem ich auf uns alle stolz bin. Wir haben uns nicht verbiegen lassen. Wir haben nicht das Beste aus der Situation gemacht in dem Sinne, daß wir irgendetwas auf die Fragen geantwortet hätten, um wenigstens auf eine 5, ein mangelhaft, statt eines ungenügend, zu kommen. Dies wäre auch möglich gewesen.

Herr B., Safti mit Spitznamen, war unser Klassenlehrer von der Quinta bis Obertertia. Er war aus damaliger und heutiger Sicht einer der strengsten und am stärksten autoritär auftretenden Lehrer, die ich jemals in der Schule kennengelernt habe.

Safti war die Verkörperung von Angstmacherei.

Ich erinnere mich gut an Situationen im Biologie-Unterricht, in denen wir das Lehrbuch von Diesterweg Das Tier, Band 1 durchnahmen.

Wir, die 11- und 12-jährigen Schülerinnen und Schüler, waren von der einen auf die andere Unterrichtsstunde angehalten, den Inhalt von ausgewählten Kapiteln dieses Lehrbuches zu lernen.

In der nächsten Stunde, und dies war nicht nur im Nachhinein eine erschreckende Beobachtung, saßen wir noch im dem Moment, in dem Safti sein Notenbuch zückte, um einen Schüler auszuwählen, der nach vorn kommen sollte, mit aufgeschlagenen Biologie-Büchern, hektisch das Wichtigste noch einmal überfliegend, in unseren Bankreihen.

Wenn Safti dann seinen Blick auf dieser, von ihm aufgeschlagenen Seite seines Lehrerkalenders, auf dieser Höhe, verweilen ließ, ohne weiter zu blättern, hatte er ein Opfer gefunden. Das wußten alle in der Klasse.

Derjenige, den es erwischt hatte, wurde nach vorn, vor die Klasse zitiert. Er wurde stehend abgefragt. Nach allen Regeln der Kunst.

Safti schien es Spaß zu bereiten, seine Schüler von einer in die andere für sie unangenehme Situation zu treiben.

Diejenigen, die versagten, und dies waren nicht wenige, wurden als abschreckende Beispiele dafür vorgeführt, wie wir es nicht machen sollten.

Niemand, ausnahmslos niemand von uns traute sich, in dieser Atmosphäre aufzubegehren, Widerstand zu leisten.

Die Situation, in der wir uns befanden, war beklemmend.

Wir hatten Angst vor Safti, vor der mit großer Wahrscheinlichkeit eintretenden Befürchtung, vor der Klasse und damit vor uns selbst bloß gestellt zu werden.

Wenn ich mich rückerinnere an diese Zeit, so fällt mir wieder ein, daß ich in dieser angstbesetzten Zeit von durchaus interessanten Inhalten kaum oder nichts gelernt hatte, was die nächste Unterrichtsstunde bei Safti überdauert hätte.

Vier lange Jahre mußten wir durchhalten, was schwierig war, da Safti uns in Erdkunde, Biologie und später zusätzlich in Chemie unterrichtete.

Dann verließ Safti die Schule. Endlich, darauf hatten wir nicht einmal zu hoffen gewagt. Er hatte sich an eine Schule in Süddeutschland versetzen lassen.

Die Liste der skurrilen, der befremdlichen, der abschreckenden Lehrer und Lehrerinnen ist fortsetzbar. Jede/​r von uns wird dies kennen.

Auf der anderen Seite sind mir aber auch Lehrer begegnet, die uns Schülern/​innen völlig anders entgegengetreten sind, die uns als Individuen, als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen haben, die in uns Heranwachsenden nicht nur Schüler, sondern Menschen gesehen haben, die uns nicht ausschließlich auf der Ebene des Intellekts, sondern auf der Ebene des sozialen Miteinanders anzusprechen suchten.

Trotz einzelner abschreckender Beispiele ließ sich in dieser Zeit, Anfang bis Mitte der 70er Jahre, eine sich fast unmerklich einschleichende Veränderung bis dahin anerkannter, nicht oder kaum hinterfragter Erziehungs- und Unterrichtsstile beobachten.

Die unnachgiebigen, streng autoritären Lehrer mit dem gewählten Credo und dem verinnerlichten Grundprinzip von Befehl und Gehorsam waren im Aussterben begriffen.

Es waren diejenigen, die während des Tausendjährigen Reiches, das lediglich zwölf Jahre sein Unwesen mit verbrecherischen Machenschaften hatte treiben können, geboren und durch die Jugendorganisationen der Nationalsozialisten geschleust wurden.

Diese Erklärung für die Präferenz eines stark autoritären, mitunter einzelne Schüler auch unterdrückenden Unterrichtsstils greift natürlich, so mag der berechtigte Einwand an dieser Stelle lauten, viel zu kurz, dennoch steckt für mich ein wahrer Kern darin.

Autorität ist nicht gleichzusetzen mit autoritär. Dies wurde mir bereits als Heranwachsender bewußt über eigene Erfahrungen mit Lehrerinnen und Lehrern an meiner Schule. Diese Einsicht wurde zudem genährt durch Gespräche mit einem weiteren Geistlichen, die ich gemeinsam mit Axel, einem meiner Sandkasten-Freunde, mit dem pensionierten Probst Röhl während eines Ferienaufenthaltes an der Nordsee, in St. Peter-Ording, führte.

Probst Röhl prägte den Ausspruch Keine Freiheit ohne Autorität, eine Aussage von wahrhaft tiefgründiger philosophischer Bedeutung, die uns heranwachsende Jugendliche über Wochen und Monate gedanklich beschäftigen sollte.

Die 68er Zeit, eine Phase des Aufbegehrens von Studenten und älteren Schülern gegen bestehende Autoritäten, gegen das sogenannte Establishment, gegen die unbewältigte nationalsozialistische Vergangenheit, gegen die Notstandsgesetzgebung, gegen Imperialismus und Vietnamkrieg, ging an dem kleinen Provinzgymnasium nicht spurlos vorbei.

Ich erinnere mich daran, daß 1970, in meinem zweiten Jahr in der weiterführenden Schule, in der Aula des Gymnasiums eine unangemeldete, damit zugleich ungenehmigte Kundgebung der Roten Zellen, einer damals in Flensburgs Hochschulen bestehenden, marxistisch ausgerichteten Studentengruppe, mit Polizei-Gewalt aufgelöst wurde.

Als elfjähriger Quintaner war ich damals nicht in der Lage gewesen, die Hintergründe dieses Szenarios, eines für dörfliche Verhältnisse riesengroßen, überdimensionalen Aufgebots an Polizei- und Ordnungskräften, zu verstehen.

Der damalige, sich als uneingeschränkte Autorität sehende, unnachgiebige Direktor Dr. P. löste die Protestversammlung auf und verwies die damaligen Unter- und Mittelstufen-Schüler der Aula.

Ein zweites Erlebnis, das mir als Heranwachsender aus diesen bewegten politischen Zeiten im Gedächtnis bleiben sollte, war die Abstimmung des Deutschen Bundestages über das konstruktive Mißtrauensvotum gegen den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt am 27. April 1972.

Die Opposition unter Führung ihres Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel wollte den amtierenden Kanzler Brandt, Friedensnobelpreisträger des Jahres 1971, wegen der umstrittenen Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition, die im Zuge von Egon Bahrs Konzept Wandel durch Annäherung auf Versöhnung ausgerichtet war, stürzen. Barzel scheiterte.

Das Einsehen in die Unterlagen und das Aufarbeiten der Stasi-Akten nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands in den Jahren nach 1989 brachten unter anderem die Erkenntnis zu Tage, daß mindesten zwei Stimmen aus der damaligen Opposition von der Staatssicherheit der damaligen DDR gekauft worden waren.

Barzel scheiterte mit seinem Antrag wegen zwei Stimmen weniger als den erforderlichen 249 Stimmen.

Es war das einzige Mal, daß während meiner Zeit im Gymnasium in der Schule Fernseher aufgebaut wurden, und die Schüler sämtlicher Altersstufen aufgerufen waren, diese aktuelle politische Entscheidung live am Bildschirm zu verfolgen. Dafür fielen sogar die laut Plan vorgesehenen Unterrichtsstunden aus.

Zwei Lehrer aus dieser Zeit sollten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung in meiner Persönlichkeitsbildung und meiner Lebensplanung einnehmen.

Der eine, ein strenger, konservativen Werten anhängender Latein- und Geschichtslehrer, der seine Schüler, darunter auch mich, lebendige Geschichte fernab jeglicher Zahlenauswendig-Lernerei nahe brachte, dem es auch gelang, mich zu einem begeisterten Anhänger der lateinischen Sprache und römischen Kulturgeschichte zu formen.

Herr P. besaß das unnachahmliche Talent, bei seinen Schülern ein echtes Interesse für das Alte Rom zu wecken, das er als Grundlage der abendländischen Kultur schlechthin betrachtete.

Zudem war es Herrn P. in seinem Unterricht jederzeit ein besonderes Anliegen, ausgehend von Texten der lateinischen Literatur einen Bezug zu der aktuellen Bedeutung existentieller Themen oder gesellschaftlicher Probleme herzustellen.

Ob es nun um geschichtliche Hintergründe, religiöse Grundlagen, politische Strömungen, kulturelle Errungenschaften, sportliche Ereignisse oder philosophische Fragestellungen ging, Herr P. diskutierte mit uns auch stets über aktuelle Entwicklungen.

Latein war das Fach, was mir am meisten lag. Es war der Lehrer, keine Frage, der mich faszinierte, andererseits aber auch das Fach selbst, die Sprache Latein, die eine klare Struktur, einen logischen Aufbau besaß, zudem interessierten mich die Originaltexte von römischen Philosophen. So wählte ich, was zu dieser Zeit eher ungewöhnlich war, Latein zu meinem vierten Abiturfach, zu meinem mündlichen Prüfungsfach.

In dieser mündlichen Abitur-Prüfung wollte Herr P. mich auf 15 Punkte, also auf eine glatte Eins, prüfen. Das war unausgesprochen, aber für mich deutlich spürbar. Ich war, und dies soll sich keineswegs überheblich anhören, der Primus in Latein. Wir waren zu sechst in diesem Kurs, ich schrieb mit die besten Klausuren und war mündlich sehr aktiv, was ich zu einem großen Teil der besonders intensiven Beziehung zu Herrn P. zu verdanken habe. Auch hier wird das Thema Beziehung zwischen Menschen deutlich sichtbar, was das Wecken von Interesse und das Lernen als solches angeht.

Thema der Abitur-Prüfung, von mir vorgeschlagen, mit Herrn P. im Vorfeld abgesprochen, war Lucius Annaeus Seneca, seine Schriften sowie die philosophische Richtung der Stoa, die Max POHLENZ, seinerzeit Professor für Klassische Philologie an der Universität Göttingen, als geistige Bewegung umschrieben hatte9.

In dieser Prüfung waren neben dem Prüfungsvorsitzenden, Herrn P., auch der zweite an der Schule tätige Latein-Lehrer, Herr T. als Beisitzer anwesend, sowie, als interessierte Gasthörer, Pastor Dr. A. und Frau Dr. H., die ich aus dem Deutsch-Unterricht kannte.

Zudem gesellte sich eine Freundin von mir, Katharina, als Gasthörerin in die Prüfung. Sie wollte einmal den Ablauf einer mündlichen Abitur-Prüfung miterleben, sie war zwei Klassen unter mir. Zusätzlich wollte sie mir, auch wenn dies von ihr nicht ausgesprochen wurde, Mut machen und mir zur Seite stehen.

Ich habe mich sehr intensiv auf diese Abschlußprüfung vorbereitet, wollte ich doch die Gelegenheit, die sich mir hier bot, nutzen, um Herrn P. etwas von dem zurückzugeben, was ich in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlichen Latein-Unterrichtes bei und von ihm gelernt hatte.

Aber nicht nur das. Ich wollte über den Weg einer möglichst gut verlaufenden Prüfung Herrn P. auch danken für die durchgängige Betreuung und die vielen gedanklichen Anstöße während meiner Schulzeit.

Die Prüfung war ein wirkliches Erlebnis. Die Fragen zu beantworten, fiel mir leicht. Ich war gut vorbereitet, die Fragen luden mich zu einer intensiven Auseinandersetzung ein.

Ausgehend von den konkreten Aufgabenstellungen im Rahmen der knapp bemessenen Zeit entwickelte sich eine interessante, kontrovers geführte, intellektuell anspruchsvolle Diskussion um bedeutsame Aspekte philosophischer Betrachtungsweisen, in die sich auch Pastor Dr. A. mit seinen umfassenden Kenntnissen aus der philosophischen und theologischen Ideengeschichte einschaltete. Diese Prüfung hätte aus meiner Sicht gern drei Stunden gehen können, war aber zeitlich, leider, auf eine halbe Stunde begrenzt.

Ich hatte vor, während und nach dem Prüfungsgespräch ein ausgesprochen gutes Gefühl, was durch das Ergebnis von 15 Punkten, also einer glatten Eins, der Höchstnote, auch bestätigt wurde.

Es ging mir hier keineswegs um die Note. Noten in Form von nackten Zahlen haben in meinem Schulleben für mich keine wirkliche Bedeutung gehabt. Wichtig war, daß ich das zeigen wollte, was ich gelernt und worüber ich mir im Vorfeld intensiv Gedanken gemacht hatte. Dieses Vorhaben gelang.

Ich bin mir, von heute aus betrachtet, nicht sicher, ob ich Herrn P. jemals gedankt habe. Nicht nur dafür, daß ich sehr viel gelernt habe, was die lateinische Sprache, Geschichte und Kultur angeht, sondern ich habe im Rahmen seiner ihm eigenen Form von Unterrichtsgestaltung Denken gelernt, kritisches Hinterfragen, das Verbindung-Herstellen von historischen Ereignissen zu aktuellen Entwicklungen in der Gegenwart.

Allmählich bildete sich in mir die Einsicht heraus, daß Menschen zum einen als aktive Gestalter, als selbstverantwortliche Akteure ihres eigenen Lebens und damit als handelnde Subjekte, zum anderen aber auch als die Summe ihrer eigenen Geschichte, ihrer Biographie und damit als das Ergebnis der ihnen angediehenen Erziehung und Sozialisation angesehen werden können.

Die sogenannten Junglehrer mit Bart, Zitat Frau F., wie sie Herrn W. und Herrn V. gewiß nicht ohne eine gehörige Portion an Neid und Eifersucht wegen deren Beliebtheit bei uns Schülern/​innen ausdrückend bezeichnete, legten auf durchweg andere Aspekte Wert.

Hier war ein völlig anders gearteter Zugang möglich, Beziehungen aufzubauen, die es ermöglichten, im Unterricht miteinander zu arbeiten.

Das war nicht ausgesprochenes, dennoch wahrnehmbares Gedankengut. Wir sollten uns mitverantwortlich fühlen für Erfolg und Nicht-Erfolg von Unterricht. Selbständiges Denken und aktives Mitarbeiten waren angesagt, nicht pures Auswendiglernen und Rezipieren. Die Meinungen und begründeten Einschätzungen von uns Schülern/​innen waren explizit gefragt. Das war eine wirkliche Herausforderung, und dies ausschließlich im positiven Sinne.

In solch einer Atmosphäre hatten wir alle Möglichkeiten, zu sozial kompetenten Persönlichkeiten heranzuwachsen, die Verantwortung für ihr eigenes Denken, Fühlen und Handeln übernehmen konnten.

Diese beiden Lehrer, Herr W. und Herr V., haben ihre Hochschulsozialisation in den bewegten und bewegenden 68er Jahren erfahren, der eine an der Philipps-Universität Marburg, der andere an der Freie Universität Berlin, beide Hochschulen damals anzusiedeln in reformerischrevolutionär-linkem Milieu.

Beide Lehrer kamen zu Beginn der 1970er Jahre an das ländliche Gymnasium. Sie waren anders als die alteingesessenen, konservativen Kräfte, und dementsprechend modern war auch ihr Unterricht.

Anfangs war dies für uns, die wir nicht daran gewöhnt waren, einen aktiven, mitgestaltenden Part am Unterricht einzunehmen, eine Überforderung. Mit zunehmender Zeit jedoch und näherem Kennenlernen stellten diese beiden Lehrer mit ihrem fortschrittlichen Unterricht ein wirkliches Gegengewicht zu den konventionell-reaktionären Lehrmethoden der 1950er und 1960er Jahre dar.

Die zweite Persönlichkeit neben Herrn P., die auf mich von Beginn an auf gänzlich andere Weise Faszination ausübte, war einer dieser beiden Junglehrer mit Bart, Herr V.

Die Umgangsformen, die er mit seinen Schülern pflegte, unterschieden sich von allen bisher bekannten. So lud er uns Schüler der von ihm betreuten Oberstufen-Kurse zu sich nach Hause ein. Wir lernten ihn also auch als Menschen außerhalb des Schulbetriebes, als Privatperson im vertrauten Kreis seiner Familie kennen.

Er war von seinen Unterrichtsmethoden, von dem von ihm gewählten didaktischen Vorgehen, aber auch von seinem persönlichen Umgang mit den Schülern grundverschieden zu allen bisher erlebten Lehrern.

Hier zog ein neuer Wind von Unterricht in dem Dorfgymnasium ein. Frontalunterrichtssituationen wurden wiederholt aufgelöst. Aufgaben wurden in Arbeitsgruppen angegangen. Wir Schüler wurden verstärkt in die Verantwortung für das unterrichtliche und soziale Geschehen einbezogen. Vor allem aber, und dies vermittelte Herr V. uns nicht über den offiziellen Lehrplan, sondern im täglichen Miteinander, begegnete er uns, seinen Schülern/​innen, als Begleiter, als gleichwertiger Partner in einem umfassenden Lern- und Entwicklungsprozeß, und nicht, wie sonst üblich, als bestimmende Person mit der alleinigen Macht des Beurteilens und Sanktionierens.

Herr V. sollte sich zu einem der mich am stärksten beeinflussenden Menschen in meinem Leben entwickeln10.

Er war Lehrer, er war Begleiter, er war später auch Freund. Mein Verständnis von Lehrer-Dasein wandelte sich mit dem Kennenlernen von Herrn W. und Herrn V., es nahm eine völlig andere Qualität an.

Mein Bild von Lehrern veränderte sich. Sie waren nicht von Amts wegen Autoritätspersonen, wobei ich von einem Verständnis von Autorität ausgehe, das Autorität im neutralen Sinne, entsprechend der Übersetzung aus dem Lateinischen, auctoritas, als Ansehen, Einfluß, aber auch Würde, Beispiel, Vorbild sowie Macht, Gewalt ansieht.

Autorität kann so auf drei Säulen basierend beschrieben werden: die sogenannte Amtsautorität, Einfluß und Macht aufgrund der (beruflichen) Stellung, fachliche Autorität im Sinne von besondere Kenntnisse und Begabungen in einem oder mehreren Fachgebiet(en), und personale Autorität, Menschen, die eine besondere Ausstrahlung besitzen, die Eigenschaften auf sich vereinen wie Geduld, Empathie, Einfühlungsvermögen, Verständnis.

Herr W. und Herr V. waren für mich Autoritäten im Sinne von Vorbildern. Sie verkörperten eine neue Generation von Lehrern, die sich neben Fachlichkeit und didaktischem Können als Lehrkunst vor allem durch personale Kompetenzen auszeichneten. Es machte Spaß, Unterricht bei ihnen zu haben. Ich habe mich wahrgenommen und wertgeschätzt gefühlt. Ich war nicht ausschließlich Schüler, sondern Mensch.

Der Unterricht war interessant, er setzte unmittelbar an den Bedürfnissen und Interessen von uns Jugendlichen und Heranwachsenden an. Ich konnte Erkenntnisse gewinnen in fachlicher, aber auch in übergeordneter philosophisch und lebensgeschichtlich relevanter Hinsicht.

Hier paßte der Ausspruch Für das Leben lernen: Verantwortung übernehmen, Kommunikation herstellen und aufrechterhalten, ein soziales Miteinander leben, gemeinsam zu einem Ergebnis kommen.

Inhaltlich lernte ich sehr viel in den jeweiligen Fächern, weil wir einen persönlichen Draht zu den Lehrern aufbauen konnten. Wir erwarben neben dem reinen Fachwissen, neben Fakten auch und vor allem Kompetenzen wie systematische Herangehensweisen an und methodische Zugänge zu Problemstellungen sowie kreatives Entwerfen von Lösungswegen11.

Diese beiden Lehrer waren für mich der Gegenentwurf zu den konservativ-autoritären Lehrern, die sich auf ihre Sanktionsmacht zurückzogen und versuchten uns Schülern/​innen über die Androhung schlechter Noten Angst zu machen, uns klein zu halten und damit Widerspruch und aufbegehrenden Protest bereits im Keime zu ersticken.

Bei diesen eher autoritär im negativen Sinne zu bezeichnenden Lehrern stand nicht Selbstbestimmung, Verantwortung, das Bilden einer eigenen Meinung und soziales Lernen im Vordergrund, sondern der aktuelle Stand abfragbaren Wissens, der über Noten beurteilt werden konnte. Leistung und die Beurteilung von Leistung in Form von Noten im Vergleich von Schüler zu Schüler waren bei diesen Lehrern/​innen Mittelpunkt schulischen Unterrichtens.

Ich bin mir bis heute nicht wirklich sicher, warum die Lehrer solch einen Druck aufgebaut haben. Sie mußten doch bemerkt haben, daß wir nicht gelernt haben, weil es uns interessierte oder wir damit in unserem Leben etwas anzufangen wußten. Wir haben gelernt, zum Teil auswendig gelernt, damit wir uns nicht am nächsten Tag beim Abgefragtwerden vor der Klasse blamieren oder in der kommenden Klausur schlecht da stehen würden. Dies war, einmal fachlich ausgedrückt, keineswegs intrinsische Motivation.

Was sollte über den Weg des massiv aufgebauten Druckes dauerhaft bei uns an Wissen und Kompetenzen angelegt werden? Wer oder was sollte in diesem Sinne herangezogen werden?

Duckmäuser, Angsthasen, Mitläufer, Abhängige, Jasager, Kriecher, Diener, Unterwurfe, Schleimer, Knechte, Untertanen, Opportunisten, Sklaven? Gewiß nicht Menschen, die verantwortungsvoll handeln, sich ihrer eigenen Stärken bewußt sein, eine eigene Meinung bilden und diese auch gegen Widerstände in begründeter, argumentativ nachvollziehbarer Weise behaupten konnten. Die Fähigkeiten zu sozialem Denken, zu selbstkritischem Reflektieren und zum Ausloten der eigenen Potentiale, welchen Beitrag wir zu einem friedvollen, gerechten Miteinander der Menschen leisten konnten, wurden so gewiß nicht gefördert.

Es wäre einmal interessant, die Lehrer von früher auf diese Fragen anzusprechen. Da mein Schulabschluß aber zeitlich gesehen im Jahre 1979 angesiedelt ist, seitdem bereits 36 Jahre vergangen sind, weiß ich nicht, wer von den damals aktiven Lehrern/​innen heute noch lebt. Auch wird die Frage unbeantwortet bleiben, ob diese Spezies von Lehrern/​innen zu einem solchen klärenden Gespräch bereit wären. Dies wage ich zumindest zu bezweifeln.

Interaktives Lehren an der Hochschule

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