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Gestatten: Mosella
ОглавлениеDie Quellnymphe Noviomaga kennt meine Geheimnisse und geizt nicht mit Tipps für Moselfreunde, die die ausgetretenen Pfade gerne mal verlassen. Ich schenkte sie bei Neumagen-Dhron den Archäologen. Lassen Sie sich von ihr auf interessante Umwege geleiten.
Das ist mein ursprünglicher Name, schriftlich bezeugt bei den Römern, die an meinen Ufern als Erste schreiben und lesen konnten. Denn die keltischen Ureinwohner des Mosellandes, die Treverer, haben nichts schriftlich hinterlassen und deshalb weiß niemand, wie sie mich genannt haben.
„Die Mosel kenne ich doch“, werden Sie jetzt vielleicht sagen – aber darauf wetten würde ich an Ihrer Stelle nicht. Denn von den Vogesen bis zum Rhein bietet mein Lauf über etwa 550 Kilometer viele Gesichter und ich komme in mancherlei Gestalt daher.
Als die Römer meine Ufer entdeckten, schlängelte ich mich von den Vogesen bis zum Rhein vorwiegend zwischen riesigen Wäldern hindurch; römische Herrschaft und Zivilisation veränderten meine Landschaften nachdrücklich. Mit den Römern und der Romanisierung auch meines Mosellandes beginnt die Geschichte einer Landschaft, die wie kaum eine andere Ausgangspunkt unserer europäischen Heimat und Kultur geworden ist. Dies zu entdecken und zu erzählen habe ich mir zur Aufgabe gemacht. Kommen Sie mit auf Entdeckungsreise und lernen Sie mich genauer kennen.
Meine Urgeschichte
Bevor mir mein schöner Name gegeben wurde, hatte ich schon eine lange, lange Entstehungsgeschichte durchgemacht. Meine „Flusswerdung“ hat viel Zeit und Energie gekostet, mehrfach musste ich neu beginnen. Das geschah im Pleistozän, einem Abschnitt der Erdgeschichte, der um die 1,8 Millionen Jahre dauerte und mir abwechselnd Kaltzeiten mit Unmengen von Wasser und Geröll bescherte, dann wieder weniger bewegte Warmzeiten mit viel geringeren Wassermengen und ruhigerem Arbeiten an meinem Bett. Auf meinen ersten paar Hundert Kilometern musste ich nicht viel Mühe aufwenden, um meinen Lauf zu finden. In dieser von größeren geologischen Bewegungen wenig berührten Gegend gewährte mir das weite, wellige Profil der lothringischen Landschaft recht freien Lauf, nachdem ich das Vogesengebirge einmal hinter mir gelassen hatte. Enger wurde mein Tal erst da, wo ich zwischen Luxemburg und dem Saarland härtere Buntsandsteinund Kreideformationen durchdringen musste. Dort konnte ich auch schon erstmals über etwa 50 Kilometer recht ansehnliche Steilufer herausbilden, die seit der Römerzeit für den Weinbau genutzt wurden. Mein weiterer Lauf zwischen Trier und Koblenz zeigt dann aber deutlich die Mühe, die mir die gewaltigen Schottermassen und das Hinaufwachsen des Rheinischen Schiefergebirges über einige Hunderttausend Jahre bereitet haben, ehe mein heutiges Bett fertig gegraben war.
Wie meine schönen Schleifen entstanden
Am westlichen Ausgang des Trierer Moselbeckens, wo heute Schweich und Longuich an meinen Ufern liegen, begann jene lange und mühselige Arbeit im Rheinischen Schiefergebirge durch die meine einzigartige Mäanderlinie über etwa 100 Kilometer zwischen Mehring und Cochem entstand: Nach der ersten großen Eis- oder Kaltzeit, mit gewaltigen Wasser- und Geröllmassen auf meinem Weg, bescherte mir vor ungefähr einer halben Million Jahren die Erdgeschichte eine längere Warmzeit. Da war ich beträchtlich kleiner und schmaler und bekam auch Zeit, mich 50–60 m tief in meine eigenen Ablagerungen hineinzuwühlen und auch noch tiefer in das darunter liegende Schiefergestein. Damals spülte ich das von den Geologen so genannte Moselhochtal aus, in dem ich mich ein paar Hunderttausend Jahre lang auf einigen Kilometern Breite ziemlich frei bewegen konnte. Das Klima wechselte noch mehrfach; während weiterer drei Kaltzeiten brachte ich neue, über 20 m mächtige Geröllmassen herbei und legte sie rechts und links ab, sägte mich in den Warmzeiten weiter hinunter ins Gestein. Währenddessen verstärkte sich die Heraushebung des Rheinischen Schiefergebirges und wölbte sich in der Gegend von Cochem. Diese Kombination von extremen Klimawechseln und der unregelmäßigen Heraushebung des Rheinischen Schiefergebirges hatten entscheidende Auswirkungen auf die Arbeit an meinem Bett: Im gesamten Lauf durch das Schiefergebirge grub ich mich ungefähr noch 120 Meter tiefer ins aufwachsende Gestein und bildete mein endgültiges Engtal. Bis Cochem, wo die höchste Aufwölbung erfolgte, floss ich weniger schnell und hatte noch viel Energie übrig für Seitenbewegungen: Meine bekannten Flusswindungen entstanden. Flussabwärts von Cochem beschleunigte größeres Gefälle meinen Strom und meine Arbeit in die Tiefe. Von hier ab bis zur Mündung ist mein Lauf deshalb deutlich gestreckter. Am Ende dieser Erosionstätigkeit war ich eingezwängt in das enge Tal, das ich nicht mehr verlassen habe bis auf den heutigen Tag.
Ein geologisches „Highlight“ meines Moseltales ist der Geisberg, ein Umlaufberg auf meinem rechten Ufer zwischen Brauneberg und Mülheim. Schön zu erkennen ist das Moselurstromtal, das sich 30–40 m höher gelegen über Burgen und Veldenz um den Geisberg herum zieht. Und gleich gegenüber sind etwa 200.000 Jahre später zwei weitere Umlaufberge entstanden, der Noviander Hüttenkopf und der Maringer Berg, von dem au s da unten abgebildete Foto aufgenommen wurde.
Während die geduldige Arbeit an meinem Bett ein paar Hunderttausend Jahre in Anspruch nahm, kamen vor knapp 70 Jahren die erst seit lächerlichen drei- bis viertausend Jahren an meinen Ufern hausenden Menschen auf die Idee, mir ein neumodisches Korsett zu verpassen, das zu meiner allmählich gewachsenen Natur so gar nicht passen will. Sie haben mich mit Stauwehren aus Stahl und Beton wie hier bei Wintrich sehr gebremst und meinen Wasserstand beträchtlich erhöht, um größere Lastschiffe darüberzuschicken.
Lothringen – La Lorraine: Kulturgeschichtlicher Hintergrund des Mosellandes
In Deutschland denken Sie ganz selbstverständlich an ihre deutsche Mosel, das herrliche Weinland mit seinen Fachwerkdörfern, den steilen Rebhängen, den einzigartigen Moselschleifen. Dabei lassen Sie unbeachtet, dass Mosella französischer Herkunft ist und ich die ersten 300 Kilometer im französischen Lothringen verweile, einer ganz besonderen Landschaft im Herzen Europas.
Nicht weit entfernt von meiner großen Schwester, der Maas – von den Römern „Mosa“ genannt –, fließe ich durch eine Großlandschaft, die im Römischen Reich zum größten Teil der Provinz „Belgica“ zugeordnet war, bevor ich meinen Lauf mehr und mehr nach Nordosten wende. Auf den letzten 40 bis 50 „milia“, also ungefähr den letzten 80 Kilometern meines Laufs, erreichte ich die „Germania inferior“, zu der die römische Verwaltung das mittlere und untere Rheinland seit den Eroberungen Caesars im 1. Jh. v. Chr. rechnete.
Seit dem 5. nachchristlichen Jahrhundert drangen die germanischen Franken von jenseits des Rheins ins zerfallende Weströmische Reich vor und gründeten eigene Königreiche. König Chlodwig aus der Adelsfamilie der Merowinger schob die Grenzen des fränkischen Reiches bis zum Mittelmeer und den Pyrenäen vor. Er trifft eine politische Entscheidung von großer Tragweite: Anders als die meisten anderen germanischen Reichsgründer, die das arianische Christentum annahmen und sich von der Mehrheitsbevölkerung isolierten, wählte Chlodwig eine bessere Strategie: um das Jahr 500 n. Chr. tritt er, angeblich mit 3000 seiner fränkischen Gefolgsleute, zum Christentum über und nähert sich damit der römisch-katholischen Kirche und dem römischen Papsttum an, mit weitreichenden Folgen. Er schafft die Voraussetzungen dafür, dass sich die nicht nur zahlenmäßig, sondern auch kulturell weit unterlegenen fränkischen Eroberer mit den christlichen, galloromanischen Bewohnern verbinden und schließlich in ihnen aufgehen können. Die fränkischen Adelsfamilien machen sich die hochentwickelte Zivilisation der römischen Provinzen zunutze, besetzen die Schlüsselstellen der politischen Macht und gewinnen die römisch-katholische Kirchenorganisation als Verbündeten bei der Sicherung der Macht. Wir werden an der Geschichte von Remiremont im oberen Moseltal das Erfolgsmodell fränkischer Herrschaftsbegründung beispielhaft nachvollziehen können.
Rosette in der Pfarrkirche zu Gorze , dem ältesten Bauwerk mit gotischer Gewölbearchitektur in Lothringen.
Um die Mitte des 8. Jahrhunderts erkämpfte die karolingische Familie die Herrschaft und brachte mit Karl dem Großen eine überragende Führungspersönlichkeit hervor, die im fränkischen Reich nicht nur flächendeckende und effiziente Verwaltungs- und Rechtsstrukturen aufbaute, sondern mit der sogenannten „Karolingischen Reform“ eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung unserer europäischen Kultur schuf. Karl der Große errichtete und förderte Bildungs- und Schulungszentren innerhalb bischöflicher und klösterlicher Einrichtungen – Priester und Mönche waren die einzigen „gebildeten“, des Lesens und Schreibens, der wissenschaftlichen Arbeit kundigen Zeitgenossen, und Karl rief sie aus Italien, aus Irland und England an die kirchlichen Schulen, in denen die geistliche und politische Führungselite des Frankenreiches herangezogen wurde. Das Reich Karls des Großen umfasste den größten Teil des heutigen Europas. Ein freches französisches Kinderlied erinnert noch an ihn, an den „verflixten Charlemagne“, der die Schulen erfunden habe. Diese langfristig angelegte kulturelle Reform „veredelte“ gewissermaßen die christlich-germanische Herrschaft mit den Kulturwerten der griechisch-römischen Spätantike und leistete so einen unschätzbaren Beitrag für den Fortbestand jener Werte, die wir heute mit Schlagworten wie „abendländische Kultur“ oder „europäische Grundwerte“ apostrophieren. Die Erneuerung des erloschenen weströmischen Kaisertums und seine Bindung ans Fränkische Reich war folgerichtig der Glanzpunkt dieser Politik.
In Nancy kündet der Eingang der ehemaligen Residenz der Herzöge von Lothringen von einer traditionsreichen Vergangenheit. Schön anzusehen ist das Eingangstor mit einem eindrucksvollen Reiterstandbild des Erbauers, Herzog Antoine.
Die wichtigsten zusammenhängenden Grundherrschaftsgebiete, Bischofssitze und Abteien der karolingischen Königs- und Adelsfamilien, konzentrierten sich immer schon in dem Raum, in dem wir beide, „Mosa“ und „Mosella“, zuhause sind. Mir liegt sehr daran, Ihnen ein wenig nahe zu bringen, wie mein Moselland in den zurückliegenden zwei Jahrtausenden immer wieder Schauplatz für die Fortentwicklung dieser karolingischen Reform wurde und ebenso für die Beziehungen der Völker und Staaten um mich herum, für die Entstehung und Ausbreitung unserer abendländischen Kultur, für Europa.
Karl der Große regierte bis 814 und vererbte das Reich noch ungeteilt seinem Sohn Ludwig. Kaiser Ludwig vererbte 840 dem ältesten von drei Söhnen, Lothar, die Kaiserwürde und den zentralen Teil des Karolingerreiches.
Er hat der Region den Namen gegeben, den sie in einem großen Teil des Maas-Mosel-Raumes bis heute trägt: „Lotharingia“ in der ursprünglichen, lateinischen Urkundensprache, „Lothringen“ im deutschen Sprachraum, „La Lorraine“ heißt sie bei unseren französischen Nachbarn.
„Lotharingia“ lag langgestreckt zwischen einem westlichen und einem östlichen fränkischen Teilreich: Vom Rheindelta an der Nordsee umfasste es den Maas-Mosel-Raum, setzte sich fort durch Burgund, die Flusssysteme von Saône und Rhône über die Provence, die Westalpen bis nach dem nördlichen Italien mit Rom, dem Herzen der spätantiken, christlichen Kultur und nun auch Mittelpunkt des christlichen Kaisertums.
Der Maas-Mosel-Raum war und bildet bis heute die wichtigste Nord-Süd-Achse des Handels und des Kulturaustauschs zwischen Nordeuropa und dem Mittelmeerraum, damals der zentrale Wirtschaftsraum der bekannten Welt. Beste Voraussetzungen für ein beständig florierendes fränkisches Kaisertum – dachte man. Die Geschichte verlief ein wenig anders und die wirtschaftlich und machtpolitisch hochinteressanten Landschaften des „Mittelreiches“ wurden bei einer Reihe von weiteren Reichsteilungen Objekte großer Begehrlichkeit der jeweiligen Erben, so dass im Verlauf des 9. Jhs. unser ursprüngliches „Lotharingia“ teils zum westfränkischen, teils zum ostfränkischen Reich geschlagen wurde, teils zu fast selbstständigen Herrschaftsgebieten im Rhônegebiet und in ein „Königreich Italien“ zerfiel. Auch das erneuerte Kaisertum erlosch wieder am Ende des 9. Jhs.
Es bestanden aber seit dem 10. Jh. unter den Bezeichnungen „Herzogtum Niederlothringen“ und „Herzogtum Oberlothringen“ bedeutende Herrschaftsgebiete fort, die über Jahrhunderte fester Bestandteil des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“ waren und immer der Begierde und den Angriffen mächtiger Königs- und Fürstenfamilien ausgesetzt waren. Trotz vieler Aufteilungen blieb der Name durch alle Wirren hindurch erhalten und im 18. Jh. gelang der französischen Krone ein „großer Coup“: Durch geschickte Diplomatie und Heiratspolitik „erbte“ der französische König Louis XV das Herzogtum (Ober)Lothringen und fortan hatten das Königreich Frankreich und „Le Saint-Empire“ – so heißt das schon erwähnte „deutsche“ Kaiserreich bei unseren Nachbarn – ihre gemeinsame Grenze an Oberrhein und Pfalz.
Fast dreißig Jahre dauerte die Regierungszeit des Stanislaus I. Leszczyński, dem „ungeliebten Polen“, wie man ihn hier in Lothringen zunächst nannte. Er ist eine der schillerndsten und interessantesten Persönlichkeiten seiner Zeit, und Sie können sein wunderbares Wirken in Nancy, seiner Hauptstadt, und in Lunéville, seiner königlichen Residenz, bewundern; dieses Schloss war nichts weniger als der Versuch, Versailles zu kopieren.