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Meine Kinderstube in den südlichen Vogesen
ОглавлениеGanz bescheiden ist mein Anfang in Bussang und bis ich mich zum ersten mal ins offene Land bei Rupt-sur-Moselle begebe, können Sie sehen, wie ich dank vieler kleinerer und größerer Zuflüsse aus den seitlichen Bergen so angewachsen bin, dass Sie mich endlich ein Flüsschen nennen können.
Glasklar ist mein Wasser und lockt Reiher und Angler.
Bei Archettes (nächste Doppelseite) übe ich die erste große Moselschleife, die ich in Deutschland perfekt beherrsche.
Bussang
TIPP: Im Moselort Bussang, wo ich noch kaum mehr als ein Rinnsal bin, finden Sie eine Bildungsstätte und ein kulturelles Zentrum von beachtlichem Rang: Am westlichen Ortsrand öffnet seit 1895 der Holzbau des „Théâtre du Peuple“ seine Bühne für großes Theater und Konzerte, je nach Jahreszeit und Witterung auch mit offener Szene vor der Kulisse des Vogesenwaldes. Schauen Sie mal nach unter der Internetseite www.theatredupeuple. com, was hier alles los ist, von Shakespeare über Feydeau bis zu Offenbach, dazu die Workshops und Seminare zur Talenteschau für Schauspiel und Musiktheater.
Bergwälder, Almweiden, natürliche und auch von den Menschen angelegte Seen bieten eine herrliche Kulisse für jede Art von Bergwanderungen. In der kalten Jahreszeit haben Wintersportler fast unbegrenzte Möglichkeiten. Wanderwege, Mountainbiketrails, Loipen sind zwischen 200 und 1200 m Höhe ausgewiesen und markiert. Zahlreiche „Fermes Auberges“ bieten regionaltypische Bewirtung und Unterkunft.
Bussang, Moselquelle.
Kurz vor dem Örtchen Bussang, gleich unterhalb der Passhöhe des Col de Bussang (727 m), wo es schon zum Elsass hinab geht, beginnt mein Lauf. Meine Quelle haben die Menschen schön eingefasst mit Mauerwerk aus Vogesengestein, in das mein Bild mit den einmaligen Mäandern eingemeißelt ist. Dazwischen auf einer Steinplatte ein Vers – in französischer Übersetzung – aus der berühmten Moselpoesie des Magnus Decimus Ausonius, der neben all meinen landschaftlichen und kulturellen Schätzen auch die Vorzüge der umfassend gebildeten und kriegserprobten Jugend preist, die an meinen Ufern heranwuchs – andere Zeiten, andere Schwerpunkte des Interesses … Allerdings ist Ausonius auf seiner Reise im Jahr 371 v. Chr. gewiss nicht bis zu meiner Kinderstube in den südlichen Vogesen gekommen und seine knapp 500 Verse im klassisch-lateinischen Hexameter beschreiben vor allem meinen Unterlauf, wo der Dichter über zwanzig Jahre als Erzieher und Mentor Kaiser Gratians lebte.
Auf den wenigen Kilometern bis Bussang sammelt mein bescheidener Quellstrom entlang der „Route des sources“ die Wasser der hier reichlich strömenden Mineralquellen. Angeblich hätten die Kühe der Gebirgsweiden diese Quellen entdeckt, weil ihnen das Wasser der Mosel nicht schmeckte! Mein Wasser, und noch ganz oben im reinen Gebirgsbach! Wer das glauben mag …
Wie bekannt ist, haben die Römer diese Quellen nicht genutzt. Sie schwärmten eher für wärmere bis heiße Wasser und haben solche in der Gegend ja etwa 30 milia tiefer gefunden: Die bis zu 80 °C heißen Wasser von Plombières-les-Bains waren viel attraktiver und bequemer zu erreichen.
Dem eisen- und manganhaltigen Wasser hier oben wird eine exzellente Wirkung auf die Verdauungsorgane zugeschrieben und man kann das ein paar Minuten unterhalb meiner Quelle, an dem Kiosk der Source Marie im Dorf, selbst ausprobieren und sein Glas mit dem sprudelnden Heilwasser füllen.
Ich kann mich ab hier wohl einen kleinen oder größeren Gießbach nennen, je nach dem Umfang der Schneeschmelze im Frühjahr. Eine gute Viertelstunde talabwärts erreiche ich das Kirchdorf Saint-Maurice-sur- Moselle, das fast 1500 Bewohner zählt. Dieses Vogesendorf zeigt auf besondere Weise, wie humorvoll und nett die Bewohner an meinen Ufern miteinander leben: In ihr Wappenbild haben sie drei große Ameisen gemalt. Die Nachbarn aus Bussang, die an Feiertagen zur Kirche kamen und sich vor dem Heimweg bergauf gewöhnlich auf den Dorfwiesen bei einem Picknick stärkten, waren von den zahlreichen Ameisenkolonien dort so genervt, dass sie schon seit dem 17. Jh. die Einwohner von Saint-Maurice „fremis“ nannten (im hiesigen Dialekt für „fourmis“ = Ameisen). Diese übernahmen den Spitznamen kurzerhand mit ins Wappen der Gemeinde.
Cool, würde ich sagen, wenn ich, gerade dem Berg entsprungen, schon Englisch hätte lernen können.
Wenn Sie mich weiter durch das enge Gebirgstal bergab begleiten, durch Le Thillot und Rupt-sur-Moselle, dann werden Sie sehen, wie ich dank vieler kleinerer und größerer Zuflüsse aus den seitlichen Bergen so angewachsen bin, dass Sie mich endlich ein Flüsschen nennen können. Hier habe ich mein Tal auch im Verlauf von Tausenden Jahren Erosionsarbeit deutlich verbreitert und Platz für ein schmuckes Städtchen geschaffen.
Remiremont
Der Ort Remiremont ist mit knapp 8000 Bewohnern (2016) die einzige richtige, wenn auch kleine Stadt im meist recht engen Tal meines Gebirgsbettes. Aber der Ort dokumentiert eindrucksvoll die lange Kulturgeschichte, die mein Moselland vorzuweisen hat und zeigt uns seit seiner Entstehung geradezu beispielhaft die gemeinsamen Wurzeln und die wechselvollen Beziehungen zwischen den Nachbarländern Frankreich und Deutschland. Hier hole ich deshalb ein wenig weiter aus, um diese Geschichte deutlich für alle zu machen, die sich auf mich und mein Moselland näher einlassen möchten.
Früh im 7. Jh. haben die fränkischen Könige und adeligen Familien entscheidende Weichen für den Erhalt und die Verbreitung der abendländischen Kultur gestellt, begründet im Verbund der Tradition des klassisch antiken Geistes mit dem Christentum. Die fränkischen Eroberervölker waren im Vergleich zur ansässigen, romanisierten Bevölkerung heidnisch und völlig ungebildet. Was Historiker schon mal mit dem Schlagwort „Iroschottische Mission im Frankenreich“ bezeichnen, ist für Remiremont und seine Entwicklung entscheidend geworden.
Tipps für Freunde des Rades, des Inlineskatings oder Rollerskis: Mehr als 50 km „Routes vertes“, Radpisten auf früheren Eisenbahntrassen, führen die Täler von Moselle und Moselotte hinauf. Wer es härter liebt: Es gibt ein Dutzend Passstraßen, darunter der Col du Ballon d‘Alsace, zwei Dutzend Mal im Parcours der Tour de France. Die runden Bergkuppen verehrten meine Ureinwohner, die Gallier, als Sitz ihres Sonnengottes Belenus, den Sie aus den emotionalen Ausrufen der Asterixfiguren gewiss kennen.
Blick von der ehemaligen Befestigungsanlage Fort du Parmont auf Remiremont.
Gegen Ende des 6. Jhs. lud der Merowingerkönig Childebert II. den irischen Mönch Kolumban ein, in seinem austrasischen Herrschaftsgebiet von der oberen Saône bis in das Maas-Mosel-Gebiet mit der Hauptstadt Metz die Christianisierung der weitgehend heidnischen germanischen Landbevölkerung zu beginnen. Er förderte mit großzügigen Landschenkungen zahlreiche Klostergründungen, die nicht nur Stützpunkte der fränkischen Kirchenorganisation wurden, sondern auch Zentren der Pflege und Verbreitung der antiken, besonders der griechischsprachigen Kultur. Indem die fränkischen Könige der Christianisierung den Weg in ihr Reich öffneten, gelang es ihnen, auch ein machtpolitisches Gegengewicht zu der seit einigen Jahrhunderten etablierten Kirchenorganisation der zahlenmäßig weit überlegenen galloromanischen Bevölkerung und deren Führungsschichten herzustellen.
König Chlothar II. ließ 620 auf zwei Berghöhen Remiremonts ein Männer- und ein Frauenkloster gründen. Die karolingischen Nachfolger führten die Tradition fort und bauten beide Einrichtungen weiter aus, bedachten sie überreich mit Grundbesitz und Privilegien. Das Frauenkloster entwickelte sich zu einem herausragenden Ort der Bildung und des Rückzugs von Frauen des karolingischen Hochadels. Viele Besuche von Kaiser Karl dem Großen und seinen Nachfolgern aus dem karolingischen Hause, besonders zu Jagdaufenthalten, sind bezeugt. Im Hochmittelalter stand die Äbtissin im Rang einer Reichsfürstin und war bei Reichstagen oder anderen „Großveranstaltungen“ der Könige des „Heiligen Römischen Reiches“ zugegen. So ist es nicht verwunderlich, dass der Name Remiremont, der auf den adeligen Gründer Romaric zurückgeht, in mittelalterlichen Urkunden und Dokumenten auch in deutscher Variante als „Rümersberg“ oder „Rimelsperg“ erscheint.
Heute lädt ein schmuckes Städtchen zu entspanntem Flanieren in den blumengeschmückten Straßen oder durch die Läden unter den Arkadengängen der rue Charles de Gaulle ein. Der einheitlich gestaltete Straßenzug ist ein „sympathisches Zeugnis urbaner Architektur des 18. Jahrhunderts“, wie der Guide Vert Michelin „Lorraine“ anmerkt.
Die rechtliche Ausnahmestellung der Abtei, außerhalb der kirchlichen und administrativen Oberhoheit der Bischofssitze, der reiche Grundbesitz des Klosters und vielerlei Nutzungsrechte an Wäldern, Weiden und Gewässern weckte bald die Gier der Herzöge von Lothringen. So eigneten sie sich als Vögte – im Mittelalter Gerichtsherren im Abteigebiet – über Jahrhunderte kontinuierlich Ländereien, Waldnutzungsrechte, Jagd- und Fischrechte an, oft auch durch Gewalt oder Nötigung der Abtei, die als kirchliche Einrichtung Gerichtsbarkeit und Rechtsprechung der weltlichen Macht überlassen musste.
Die geographische Lage inmitten des Fränkischen und später des Heiligen Römischen Reiches, in der Nähe der großen Römerstraße von Metz nach Basel und unmittelbar an dem schon erwähnten, niedrigen römischen Übergang entlang des Moseltals über die Vogesen ins obere Rheintal, verlieh dem Ort zusätzliche strategische Bedeutung.
Diese bezeugt noch heute das Fort Parmont auf den Bergen im Süden, das nach dem „Französisch-Preußischen Krieg von 1870“, wie ihn die Franzosen nennen, errichtet wurde und noch im letzten Krieg abwechselnd von französischen und deutschen Soldaten besetzt war.
Die deutsche Besatzung hat traurige Spuren hinterlassen: Wie überall in den von der Wehrmacht besetzten Ländern hat die Naziherrschaft auch in Remiremont die seit etwa 1800 stetig gewachsene jüdische Gemeinde mit eigenem Rabbinat zu vernichten versucht. Über vierzig jüdische Bürger der Stadt sind der furchtbaren Strategie „Endlösung“ zum Opfer gefallen und die wenigen Überlebenden und zurückgekehrten Familien haben keine eigene Gemeinde mehr. Die Synagoge in Épinal ist heute Kulturzentrum. Dort dienen auch erhaltene Gebetsbänke aus Remiremont den Besuchern des Gotteshauses. Remiremonts wechselvolles Schicksal zwischen den lange so genannten „Erbfeinden“ (frz.: „ennemies héréditaires“) ist exemplarisch für andere Städte und Dörfer an meinen lothringischen Ufern.
Die Kirche Saint-Pierre der ehemaligen Abtei, ein bewusst schlicht gehaltener gotischer Bau des frühen 14. Jhs., und nebenan der prächtige Palastbau der hochadeligen Äbtissinnen, im Barockstil des 18. Jhs. erbaut, dient heute als Justizpalast. Beide Bauwerke lohnen den Besuch, ebenso die erhaltenen Wohnhäuser hochrangiger Kanonissinen. Zwei davon beherbergen Museen mit bemerkenswerten antiken Handschriften, Zeugnissen der lothringischen Handwerkskunst wie sie insbesondere auch in der Abtei gelehrt und gepflegt wurde: Tapisserien, Spitzenklöppelei, Glasmalkunst, Fayencen, dazu eine Anzahl wertvoller Gemälde und gotischer Skulpturen aus Lothringen.
Ich bin jetzt, da die Moselotte zu mir gestoßen ist, schon ein rechtes Flüsschen und beeile mich, aus dem Gebirge hinaus in das sanftere lothringische Hügelland zu gelangen. Im Frühsommer können Sie mich blumengeschmückt erleben, wenn der Wasserhahnenfuß über große Flächen seine Pracht entfaltet. Hier bei Remiremont.