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Im Würgegriff des Schreckens

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Der Wilde Rabe fliegt an

Als über den Finnebergen die Sonne emporstieg, erreichten die Heckenreiter den Waldstreifen, der die Senke umfasste. Vor ihnen lag jetzt Bauernland, lag inmitten von Kornfeldern und Weideplätzen eines der Dörfer, das dem Unhold von der Altenburg zinste. Noch ahnte keiner der Bauernlümmel da unten, dass die Burgmannen aus Rabenswald sie an diesem Morgen im Heumond 1289 rupfen würden.

Vom Rand der Hügelkuppe aus, wo sich die Berittenen im Gesträuch verbergen konnten, blickte Friedrich von Rabenswald-Wiehe auf die bäuerlichen Anwesen in der Senke.

Als dunkler Schattenriss hob sich die Kirche mit dem Glockenturm gegen den dämmrigen Himmel ab. Auch die Umrisse der Gehöfte mit ihren Wohnhäusern, Scheunen, Stallungen und Schuppen, durch welche sich der tief ausgefurchte Dorfweg wand, wuchsen zunehmend deutlicher ins Blickfeld des Burgherrn.

Die Reiter saßen ab und streiften die Tuchlappen von den Hufen ihrer Pferde. Wie immer bei solchen Unternehmungen waren die Hufe damit umwickelt gewesen. Im fremden Lehensgebiet galt es, vor Spähern auf der Hut zu sein.

Für Friedrich von Rabenswald-Wiehe übernahm einer der Burgleute diese Verrichtung. Dessen Augen krallten sich an dem Dorf in der Senke fest, unerbittlich wie die eines Jäger am gestellten Wild.

Das Bauernnest da unten fronte Kuno von Mellingen, dem Herrn der Altenburg über Mallendorf. An diesem unverschämten Fiesling würde er nun Rache üben, Rache üben für die zwei Wochen zuvor erfolgte Brandschatzung der Ortschaft Donndorf, die seit Menschengedenken den Grafen von Rabenswald-Wiehe zinspflichtig war. Nein, er würde sich nicht nur rächen, sondern dem Mordbrenner auf der Altenburg Mores lehren, dass ihm zeitlebens jede Andacht verging.

Ein grausamer Ausdruck kerbte die Mundwinkel des Burgherrn von Rabenswald. Wenn der weimarische Adlige auf der Altenburg in der Finnelandschaft als hartgesottener Dienstmann galt, so genoss er selbst hierzulande schließlich einen noch Furcht einflößenderen Ruf. Um ihn auf eine Stufe mit anderen berüchtigten Strauchrittern zu heben, hatte die Landbevölkerung ihm den bezeichnenden Beinamen der Wilde Rabe verliehen.

Wenn Friedrich von Rabenswald-Wiehe ehrlich zu sich selbst war, dann musste er zugeben, dass er das Bauernnest da unten nicht überfiel, weil er Rachegedanken hegte. Nein, so kurz vor der Ernte war es einfach notwendig geworden, das, was in der Rabenswalder Burg zum Leben gebraucht wurde, irgendwie heranzuschaffen.

Im Augenblick mangelte es in der Grafenburg an allem. Es fehlte an Korn, es fehlte an Vieh, es fehlte an Pferdefutter. Die Vorratshäuser in der Wehranlage gähnten vor Leere, als hätten Sturmböen sie ausgefegt.

Folglich war es das erste Gebot, diesen Mangel auszugleichen. Und deshalb flog er an diesem Junimorgen des Jahres 1289 mit seiner Raubschar an, der Wilde Rabe ...

Vom Dorf her krähte den Reitern aus der Rabenswalder Burg der Morgenruf eines Hahnes entgegen, über der Finne kroch die Sonne glutrot den Himmel hinauf. Ein Windhauch strich über die Senke, aber er kam auf die Lauernden zu, sodass die Hofhunde keine Witterung aufnehmen konnten.

Jetzt saßen alle wieder in den Sätteln. Der Graf drehte den Kopf. Ein Stück weiter zur Rechten schimmerte der Harnisch des Balgstedters durch die Büsche. Im Dämmerlicht kaum zu erkennen, saß er steif wie ein Brett auf seinem schwarzen Hengst.

Konrad von Balgstedt hielt sich schon seit geraumer Zeit in der gräflichen Burg auf und begleitete den Wilden Raben auf dessen Stegreifritten. Natürlich wusste Friedrich von Rabenswald-Wiehe, dass der Balgstedter seinen Aufenthalt auf der Finneburg nicht deshalb ausdehnte, weil er Lust an den rauen Streifzügen empfand, sondern weil er ein Auge auf seine Tochter geworfen hatte.

Der Graf schürzte die Oberlippe. Nun, der Balgstedter mochte es verstehen, mit einem Schwert umzugehen und ein Ross zu tummeln, aber als Schwiegersohn lehnte er ihn strikt ab.

Um im Geschlecht der Grafen von Käfernburg-Rabenswald willkommen zu sein, bedurfte es mehr zu haben als nur Klepper und Klinge. Und ein eigenes Erbe hatte der Drittgeborene des söhnereichen Herrn von Balgstedt nicht zu erhoffen.

Nein, zuckte es ihm durch das Hirn, diesem Habenichts lege ich Mechthild nicht ins Brautbett. Sie heiratet Graf Hermann von Orlamünde – Ende des Gebets.

Friedrich von Rabenswald-Wiehe nahm sich vor, nach dem Span den ihm lästig werdenden Balgstedter zu verabschieden. Dann, als verursache ihm der Anblick des Ritters Magenschmerzen, schaute er zur anderen Seite.

Hinter dem Buschwerk zur Linken hockte Gelfrad von Heseler auf seinem Wallach. Die grässliche Narbe des Burgvogts, die von seinem Kinn bis hinauf zur linken Schläfe reichte, war aus dem Blickwinkel des Grafen heraus nicht erkennbar.

Das Wundmal bewies die vorzügliche Schärfe der krummen Damaszenerklinge, welche ihm eine Sarazene im Kampfgetümmel durch das Gesicht gezogen hatte. Geschehen war das vor über einem Jahrzehnt im Morgenland, nachdem Gelfrad von Heseler sich zur Teilnahme an einem Kreuzzug – dem siebten in der Reihe der bewaffneten Pilgerfahrten – verpflichtet hatte.

Besser gesagt: Er hatte sich nicht dazu verpflichtet, sondern war von seinem Beichtiger dazu gedrängt worden, um die Vergebung seiner Sünden zu erlangen. Denn in ihm flossen mehr Scheußlichkeiten zusammen als Unrat in einen Pfuhl.

Des Grafen Augen richteten sich auf seinen Burgvogt. Im Gegensatz zu dem Balgstedter schien Gelfrad von Heseler Trübsal zu blasen. Unverkennbar kauerte er äußerst missmutig im Sattel. Vermutlich stand seine Verdrossenheit im Zusammenhang mit der Küchenmagd von der Rabenswalder Burg.

Der Graf setzte ein Grinsen auf. Gewiss hatte es die stramme Magd vor ihren Aufbruch nicht mehr einrichten können, in die Kemenate des Vogts zu schlüpfen, um ihm das Kissen glatt zu klopfen. Nun, als penibler Burgherr musste er über alles Bescheid wissen, was um ihn herum geschah.

Im Übrigen scherten Friedrich von Rabenswald-Wiehe die Gelüste seiner Bedientesten so viel wie das Säubern des Aborterkers in der Burgmauer. Darauf nahm er keine Rücksicht. Insbesondere nicht, wenn es für ihn selbst um etwas Wichtiges ging. Und genau das war an diesem Morgen im Heumond der Fall.

Noch einmal sah sich der Graf um. Gleich würde da unten wie in tausend anderen Weilern im Land die allmorgendliche Geschäftigkeit einsetzen: das Ausmisten, Melken, Füttern und Tränken.

Noch waren sie nicht entdeckt worden, aber lange konnten sie sich hier im Gesträuch nicht mehr verborgen halten. Sie durften keine Zeit mehr verlieren.

Heckenreiter im Dorf

Der Burgherr streckte die Linke mit dem dreieckigen Wappenschild nach vorn zum Zeichen dafür, dass es für ein Drittel der Heckenreiter losging.

Mit einem Schnalzlaut brachte Gelfrad von Heseler seinen Wallach in Bewegung, fünf Burgleute folgten ihm. Sie sollten einen Bogen schlagen und dann von der entgegengesetzten Seite her an das Dorf heranreiten. Der Burgvogt und seine Leute würden verhindern, dass die Dörfler nichts Brauchbares in Sicherheit bringen konnten.

Pferdewiehern durchschnitt die Morgenstille. Noch immer schienen die Dorfbewohner von der Gefahr, in der sie schwebten, nichts zu ahnen.

Aber Schwierigkeiten befürchtete Friedrich von Rabenswald-Wiehe ohnehin nicht. Mit den anderthalb Dutzend Bewaffneten, über die er verfügte, würde der Beutezug ein Vergnügungsritt werden. Den paar armseligen Dorfkötern würden sie schon das Gebiss richten.

Der Graf wartete, bis der sich entfernenden Hufschlag seiner Burgleute verklungen war. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie der Balgstedter das Helmvisier herunterließ.

Er selbst ersparte sich die Mühe. Sein Dreieckschild und die Reiterschilde seiner Männer, die einen blauen Wappenlöwen im goldenen Feld zeigten, würden den Fronbauern des Altenburgers ohnehin verraten, wer sie waren.

Der Wilde Rabe stieß die rechte Faust in die Luft. Das Gros der Burgleute sprengte los.

Im Nu hatten die Heckenreiter die kurze Wegstrecke bis zum Dorf bewältigt. Irgendwo gellte Geschrei auf, zugleich ertönte aufgeregtes Hundegebell. Einzelne Gestalten, von dem Lärm aufgeschreckt, kamen aus den Häusern.

Die Eindringlinge schwangen sich von den Pferden. Nur Friedrich von Rabenswald-Wiehe blieb im Sattel. Er lenkte seinen Vierbeiner zur Dorflinde, um

Die Eindringlinge schwangen sich von den Pferden. Nur Friedrich von Rabenswald-Wiehe blieb im Sattel. Er lenkte seinen Vierbeiner zur Dorflinde, um von hier aus zu verfolgen, was geschah.

Drei, vier Hunde stürzten sich auf die Eindringlinge, knurrend und mit gefletschten Zähnen. Schwertklingen wirbelten durch die Luft, das Kläffen und Heulen verstummte.

Von der gegenüberliegenden Seite stoben nun auch die Reiter des Burgvogts in das Dorf und saßen ab. Danach teilten sich die Burgleute aus Rabenswald in Gruppen auf und drangen in die Häuser ein. Die Plünderung begann.

Die Bauernhäuser füllten sich mit Gewappneten, die alle Winkel durchstöberten. Was ihnen brauchbar erschien, trugen sie nach draußen: Krüge, Töpfe und Kannen mit Nahrungsmitteln. Aus den Scheunen schleppten sie Hafersäcke, in den Ställen ergriffen sie alle Gänse und Hühner.

Die Dörfler ließen alles über sich ergehen. Niemand setzte sich zur Wehr, jedenfalls noch nicht.

(04) Brutaler Überfall: Raubritter plündern ein Bauerndorf. Die Landplacker nahmen mit, was ihnen brauchbar erschien, aber zu Reichtum kamen sie dabei nicht. Bilderhandschrift aus dem 15. Jahrhundert.

Von seinem Standplatz aus konnte Friedrich von Rabenswald-Wiehe das Geschehen gut überblicken. Sein Vierbeiner scharrte unruhig mit den Hufen, weil unweit vor ihm ein von Schwertklingen zerfetzter Hofhund blutüberströmt am Boden lag. Mit geöffneten Rachen und ausgestreckten Pfoten lag er da. Doch was sich sonst seinen Augen bot, stellte ihn zufrieden.

Halbwüchsige Bauernlümmel, schreiend unter den Fausthieben und Fußtritten der Eindringlinge, schoben Lastkarren neben das angehäufte Beutegut. Diese mussten sie beladen. Um das Geraubte in die Burg zu schaffen, würden die Plünderer später die Kaltblüter und Zugochsen der Dörfler vor die Karren spannen.

Plötzlich schnitt der Graf jedoch ein Gesicht, als hätte er eine Wespe verschluckt. Seine anfängliche Zufriedenheit wich aufkeimender Wut.

Die Frau mittleren Alters, die eben in der Tür eines Hauses erschien, war drall und ansehnlich. Ihre Brüste, die sich wie überreife Früchte unter dem Kittel abzeichneten, wippten bei jeder Bewegung. Einen der Burgleute schien dieser Anblick sehr ins Auge zu stechen.

Obwohl der Burgherr vorher jeden einzelnen von ihnen eingeschärft hatte, dass er im Verlauf des Beutezugs erst der Dienstpflicht und dann dem Vergnügen nachzukommen habe, konnte sich der Heckenreiter nicht beherrschen.

Die Lüsternheit war in diesem Augenblick stärker als die Furcht vor dem Burgherrn. Seiner Ansicht nach musste man die Früchte pflücken, wenn sie reif waren und nicht irgendwann. Vor Gier lodernd wie ein brennender Strohdiemen sprang er auf die Dralle zu.

Gierig und geil grapschte der Kerl der Frau in den Halsausschnitt, um ihr den Kittel vom Leib fetzen. Doch dazu kam er nicht.

Denn wie aus dem Boden gewachsen ragte unvermittelt ein Hüne von einem Mann vor dem Heckenreiter auf. Der Bauer wollte nicht in hilfloser Wut zusehen, wie seine Frau von diesem Kerl und womöglich von noch anderen Haderlumpen vergewaltigt wurde. In den Fäusten hielt er eine langstielige Axt.

Der Heckenreiter schnaufte unwillig und griff nach seinem Schwert. Aber bevor er die Klinge auch nur halb aus der Scheide gezogen hatte, wirbelte das Axtblatt bereits über seinem Kopf und sauste herunter.

Kein Schrei brach mehr über seine Lippen. Eisenspäne aus den Helmpartien, Knochensplitter, Haarsträhnen und das rechte Ohr mit sich reißend, verschwand die Schneide zwischen den Nackenmuskeln.

Die Axt spaltete den Rumpf des Unholds bis zum Gurt. Blutüberströmt sank er dem Bauern vor die Füße.

Dann jedoch waren die Eindringlinge zu fünft über ihm. Schwerthieb um Schwerthieb hagelte auf den Hünen herab.

Obwohl er schon unter den Schlägen taumelte, grub er noch einem Plünderer die Axt in die Stirn. Der Kerl brach in ein viehisches Gebrüll aus und stürzte wie ein gefällter Baum rücklings um. Auch der Bauer brach zusammen.

Friedrich von Rabenswald-Wiehe bebte vor Zorn, als er sah, wie mehrere Burgleute die dralle Bäuerin zu einer Hausecke schleiften. Zwei Kerle warfen sie nieder, zerrten ihr den Kittel vom Leib, spreizten ihr die Beine und hielten sie fest.

Sechs, sieben Männer befriedigten sich an ihr wie die Tiere. Anfangs versuchte sie noch, sich zu wehren. Sie schrie, spuckte und biss. Doch irgendwann ließ sie alles stumm über sich ergehen.

Dem Grafen fiel es schwer, seinen Zorn zu zügeln. Doch das Treiben zu unterbinden, wäre ein noch gröberer Fehler gewesen.

Seine Augen schweiften über die toten Waffenknechte. Die musste er nun in die Burg zurückkarren, damit der Burgkaplan ein Gebet für ihre armen Seelen murmeln konnte, bevor sie verscharrt wurden. Über den von zahllosen Schwertklingen bis zur Unkenntlichkeit aufgeschlitzten Bauern glitt sein Blick hinweg wie über einen Sack Lumpen.

Der Wilde Rabe atmete tief ein und aus. Nun, wenn das Geschäft blühte, so konnte man ja gönnerhaft den Wünsche der Knechtschaft entsprechen. Wer freilich nach Ende des Spans aufmucken sollte, den würde er nicht mit Samthandschuhen anfassen, sondern selbst die Schlinge um den Hals legen.

Mit einer herrischen Handbewegung winkte er seinen Burgvogt heran und befahl ihm, das Beladen der Bauernwagen zu beenden und sich in Bewegung zu setzen. Gelfrad von Heseler sollte mit der Hälfte der Leute das erbeutete Gut zur Burg Rabenswald schaffen.

Er selbst würde mit der anderen Hälfte über einen Umweg folgen.

Zwischenfall auf der Strata Regia

Während der Burgvogt den Weg zur Hohen Schrecke nahm, lenkte Friedrich von Rabenswald-Wiehe seinen Vierbeiner in die entgegengesetzte Richtung. Konrad von Balgstedt und ein Dutzend Burgleute schlossen sich ihm an.

Der Graf beabsichtigte, vor der Rückkehr in seine Burg die Strata Regia auszuspähen. Der Ritt sollte ihm die Erkenntnis vermitteln, ob es sich lohne, den Span auf einen Kaufmannszug zu planen oder nicht.

Speck hin, Speck her. Ein Burgherr brauchte eben nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch gemünztes Silber. Gemünztes Silber für die Begleichung von Schulden, für ausgefallene Wünsche der gräflichen Sippe, für besondere Gefälligkeiten der Dirnen, für den Unterhalt der Waffenknechte und die Instandsetzung der Burganlage.

Silbermünzen vermochte ein mittelloser Burgherr freilich nur herbeizuschaffen, wenn er einen Handelsszug überfiel und die Planwagen rupfte wie feiste Mastgänse. Oder er hielt die Pfeffersäcke im Burgverlies fest, um für deren Herausgabe ein sattes Lösegeld zu erpressen.

Doch alles das war schneller gesagt als getan. Denn die einträglichen Zeiten des Interregnums, als die Pfeffersäcke ihre mit Kaufmannsgut beladenen Frachtwagen noch einzeln losgeschickt hatten, waren vorbei.

Gegenwärtig durfte ein verarmter Adelsherr bestenfalls davon träumen, einen Handelszug zu schröpfen. Kaufleute, die mit ihren Planwagen allein auf den Handelswegen reisten, entdeckte man nur noch in Ausnahmefällen.

Heutzutage fanden sich die Pfeffersäcke zusammen und bildeten Geleitzüge. Ihre Waren rumpelten in Kolonnen von bis zu zwei Dutzend Planwagen, jeder von vier oder sechs Pferden gezogen, über die Fernstraßen. Und zu beiden Seiten der Fuhrwerke gingen oder ritten bewaffnete Kriegsknechte, manchmal 50 Mann an der Zahl.

Doch nicht nur das war es, was einem Burgherrn die Luft zum Atmen nahm. Mehr noch beschwor Unheil herauf: Denn seit anderthalb Jahrzehnten gab es nun wieder einen König im Heiligen Römischen Reich.

Um den Griff des unerwünschten Böhmenkönigs Ottokar Przemysl nach der Krone zu verhindern, hatten die sieben deutschen Kurfürsten am 1. Oktober 1273 in Frankfurt am Main den wenig begüterten und einflusslosen Grafen Rudolf von Habsburg zum König gewählt. Dafür war zuvor dem böhmischen Königreich das Kurrecht entzogen und dem Herzogtum Bayern zuerkannt worden.

Vor der Wahl hatte Rudolf von Habsburg den sieben Kurfürsten freilich in die Hand schwören müssen, dass er im Verlauf seiner Herrschaft das seit der Stauferzeit eingebüßte Reichsgut zurückführen, das Raubrittertum beseitigen und die Vielzahl unangemessener Zölle tilgen würde. Und der Habsburger hielt Wort.

Auf dem Hoftag zu Nürnberg im August 1281 verkündete er, dass alles nach der Absetzung Friedrichs II. usurpierte Königsgut wieder herauszugeben sei. Anschließend ging der König daran, die deutschen Territorien von einer Landplage zu befreien – von den Raubrittern.

Zunächst setzte Rudolf von Habsburg dem Treiben der rheinischen Ritter ein Ende, die von ihren geschützten Burgen aus Frachtschiffe und Kaufmannswagen überfielen und ausplünderten und eigensinnig am Grundruhrrecht als legitimierten Warenraub festhielten. 1282 erschien er mit einem Heerbann im Rheingau.

Burg Sooneck fiel, der Burgherr – ein Edler von Waldeck – geriet mit seiner Bemannung in Gefangenschaft. Trotz des Einspruchs der Adelssippe von Waldeck, die nicht zu fassen vermochte, dass ein Familienangehöriger schimpflich erhängt werden sollte, ließ Rudolf von Habsburg die Raubgesellen an den Bäumen entlang des Rheinufers aufknüpfen.

Um Burg Reichenstein zu bezwingen, bedurfte es mehr Zeit. Sturmangriff um Sturmangriff wehrte der Burgherr Dietrich von Hohenfels mit seinen neun Söhnen und der restliche Besatzung ab.

Vier Jahre lang mussten die königlichen Dienstleute Reichenstein belagern, ehe die ausgehungerte Burgmannschaft aufgab. Zumindest Dietrich von Hohenfels schaffte es, sich der Gefangennahme durch Flucht zu entziehen.

Die Landplacker von Burg Reichenstein erlitten das gleiche Schicksal wie die Raubgesellen von Burg Sooneck. Beide Befestigungsanlagen wurden geschleift.

Die Zerstörung der Raubnester am Mittelrhein hatte gezeigt, dass König Rudolf I. entschlossen war, die Landplackerei mit der Wurzel auszurotten. Und schon schwirrten Gerüchte umher, er habe vor, in Franken und Schwaben und Thüringen gleichermaßen zuzupacken ...

Friedrich von Rabenswald-Wiehe presste die Zähne aufeinander. Bei der Vorstellung, dass auch seine Burg geschleift werden könnte, bildete sich ein Eisklumpen in seinem Magen. Doch dann schüttelte er den behelmten Kopf, als wollte er die trüben Gedanken verscheuchen.

Nach wie vor ritt er an der Spitze der Schar. Auf einer von Wasserfurchen durchsetzten Wagenspur ging es nach Süden. Hinter dem ausgeplünderten Dorf änderte sich die Landschaft. Jetzt schlängelten sich die Spurrillen durch gewelltes Hügelland, das den Heckenreitern bessere Sichtverhältnisse bot. Gelegentlich säumten Waldstreifen oder Baumgruppen den Weg.

Die Wagenspur führte nicht geradewegs zur Strata Regia, sondern verband die Bauerndörfer der Umgebung miteinander. Wenn eine solches in der Ferne heraufwuchs, bog Friedrich von Rabenswald-Wiehe in die Wiesenflur ein, um die Siedlung zu umreiten.

Später mussten sich die Heckenreiter eine Zeit lang im Grün nahe dem Weg verstecken, da sich ihnen Berittene näherten. Der Graf suchte zu vermeiden, dass Kuno von Mellingen auf der Altenburg zu früh Näheres darüber erfuhr, was in seinem Zinsdorf geschehen war und wo sich die Plünderer aufhielten.

Dann strebten sie wieder der Strata Regia zu. Als die Sonne schon hoch am Himmel stand, erreichte die Reiterschar die Fernhandelsstraße unweit jener Stelle, an der sie die von Süden kommende Kupferstraße kreuzt.

Friedrich von Rabenswald-Wiehe blieb auf der nördlichen Seite der Strata Regia und führte seine Burgleute ein Stück parallel zu dem Handelsweg in Richtung Buttelstedt, bis sie zu einem dicht mit Baumgruppen und Gebüsch bewachsenen Hügel gelangten.

Zwischen den Bäumen zügelten sie ihre Pferde und stiegen aus den Sätteln. Der Handelsweg lag jetzt wie auf der flachen Hand vor ihnen, die Entfernung bis zum Straßenrand betrug keine Pfeilschussweite. Die Strata Regia war die bedeutendste europäische Überlandverbindung, die von Santiago de Compostela in Spanien über Paris, Mainz, Frankfurt, Erfurt, Leipzig und Breslau bis nach Kiew am Dnjepr führte.

(05) Viel bereist: Eine der bedeutendsten Fernhandelsstraßen des Mittelalters war die „Strata Regia“ oder „Hohe Straße“. Außerhalb der Städte besaß sie keinen festen Unterbau. Die Pflasterung von Überlandwegen setzte erst im 18. Jahrhundert ein.

Von der Hügelkuppe aus konnten sie den Fahrweg beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. In den Mittagstunden herrschte dort wenig Leben. Erst geraumer Zeit später, aus Buttelstedt kommend, rumpelte ein Wagenzug in Richtung Finnehochfläche.

Friedrich von Rabenswald-Wiehe verzog das Gesicht, als hätte er sich die Zunge verbrannt. Gut, dass er die Entscheidung über einen Span nicht vorschnell getroffen, sondern die Gegebenheiten dafür noch einmal an Ort und Stelle überprüft hatte. Sonst hätten sie ihr Vorgehen womöglich mit einer durchschnittenen Gurgel bezahlt.

Denn was er sah, bestätigte seine Vermutung, dass das Angehen eines Handelszugs momentan jeder Vernunft widersprach. Mit seinen Burgleuten eine stark bewaffneten Wagenkolonne zu überfallen, kam einem Selbstmord gleich. Dazu hätte ihm die doppelte Anzahl von Gerüsteten zur Verfügung stehen müssen, als er aufbieten konnte.

Etwa anderthalb Dutzend Frachtwagen waren es, deren Räder durch die tief ausgefahrenen Furchen der Überlandstraße holperten. Das Knarren und Quietschen der schwer beladenen Fuhrwerke strich über dies Hügelkuppe, in dessen Buschwerk sich die Heckenreiter verbargen.

Gewiss stapelte sich unter den prall gespannten Planen wertvolles Handelsgut. Deshalb wohl flankierte den Wagenzug ein Geleit von drei Dutzend Bewaffneten. Bald darauf verhallte das Gepolter in der Ferne.

Bis auf zwei Bettelmönche blieb die Strata Regia in der Folgezeit menschenleer. Während Friedrich von Rabenswald-Wiehe Ausschau ins Land hielt, sann er über das andere Problem nach, vor dem er stand: Wie schaffte er sich den Balgstedter vom Hals? Sollte er ihn geziemend verabschieden oder kurzweg aus der Burg jagen?

Neuerliches Knarren und Quietschen riss ihn aus seinen Gedanken. Und plötzlich glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können.

Er blinzelte, als störe ihn ein Staubkorn. Narrte ihn ein Spuk? Nein! Aus der entgegengesetzten Richtung holperte ein Fuhrwerk heran.

Wenig später konnte er Einzelheiten erkennen. Der tonnenförmig überwölbte Wagen war mit vier Pferden bespannt. Auf dem Kutschbock saßen zwei Männer. Bei einem schien es sich um den Fuhrknecht zu handeln, die erlesene Tracht des anderen entsprach der eines Pfeffersacks. Kein bewaffneter Fußgänger begleitete den Wagen, kein Berittener trottete hinterher.

Der Graf blickte in die Runde. Die Strata Regia war so leer wie der Beutel eines Bettlers.

Er zwang sich, seine Gedanken zu ordnen. Eigentlich hatte er nur erkunden wollen, wie die Dinge an der Strata Regia lagen. Einen Pfeffersack zu rupfen, hatte er nicht vorgehabt, jedenfalls nicht heute.

Aber durfte er sich diese Gelegenheit ... diese einmalige Gelegenheit entgehen lassen? Die Kiefer des Wilden Raben mahlten, als kaue er ein zähes Bratenstück.

Dann stand sein Entschluss fest. Mit einer Handbewegung gebot er den Leuten: Aufsitzen! Die Heckenreiter warteten noch ab, bis sich der Planwagen in Höhe der Hügelkuppe befand, dann sprengten sie hangabwärts.

In das Gesicht des Fuhrknechts malte sich Entsetzen, als er die Wegelagerer heranpreschen sah. Bestürzt zügelte er die Gespannpferde. Im Nu war der Wagen umringt, links und rechts neben dem Kutschbock brachte je ein Heckenbruder sein Pferd zum Stehen.

Der zweite Mann auf dem Bock, unter dessen Federbarett feuerrote Haare hervorquollen, unterschied sich nicht nur durch seine Tracht von dem Fuhrknecht, sondern sah auch alles andere als verängstigt aus. Wie durch Zauberei hielt er plötzlich einen Dolch in der Faust und rammte die Klinge bis zum Heft in den Oberschenkel des Wegelagerers, der neben ihm auftauchte.

Schmerzvolles Gebrüll, der Schenkel klaffte auf, Blut strömte aus der Wunde. Der Heckenbruder rutschte aus dem Sattel, wälzte sich im Staub der Straße und wimmerte zum Gotterbarmen.

Mit vielem hatten die Straßenräuber gerechnet, aber nicht damit, dass sie auf Widerstand stoßen würden. Ein paar Atemzüge lang schienen sie völlig überrascht zu sein.

Diese Zeitspanne genügte dem Rothaarigen. Er sprang auf den Fahrweg, schlüpfte durch den Ring der Berittenen und rannte wie von einer Hundemeute gehetzt über die abfallende Wiese am Südrand der Überlandstraße.

Etwa 50 Klafter vom Wegsaum entfernt wuchs ein Waldstück auf. Wenn die Heckenreiter nicht unverzüglich aus ihrer Erstarrung erwachten, konnte er es bis dorthin schaffen und sich in der urwaldartigen Dickung verstecken.

Friedrich von Rabenswald-Wiehe stieß einen gotteslästerlichen Fluch aus. Mit einem Blick erfasste er, dass der Kaufherr das Waldstück eher erreichen würde als seine Leute. Wenn die Hundsfotte den Feuerkopf festgehalten hätten, wäre sicherlich ein beträchtliches Lösegeld zu erwarten gewesen.

Als sich zwei, drei Burgleute aufrappeln wollten, den Flüchtigen zu verfolgen, winkte der Graf schroff ab. Den Rothaarigen in der Dickung aufzustöbern, kostete Zeit – viel Zeit.

Doch genau die hatten sie nicht. Im Gegenteil, sie mussten die Strata Regia unverzüglich verlassen. Die Gefahr, dass bewaffnete Geleitreiter oder Gewappnete des Mellingers auftauchen würden, bestand immer.

Wenn die Burgmannen geglaubt hatten, jetzt die Wagenladung untersuchen zu dürfen, so sahen sie sich getäuscht. Stattdessen blaffte der Graf sie an, sich zu sputen, damit der Wagen von der Straße komme. Irgendetwas Brauchbares würde unter der Plane schon zu finden sein.

Zwei Burgleute kümmerten sich um den verwundeten Heckenbruder. Einer zog den Dolch aus dem Oberschenkel, der am Boden Liegende heulte auf wie ein geprügelter Burghund.

Der andere verband die Wunde mit Stoffstreifen, die er aus dessen Kleidung riss. Danach hoben sie den Verletzten auf den Kutschbock, dorthin, wo zuvor der Pfeffersack gehockt hatte.

Vor den Augen des Fuhrknechts blitzte eine Schwertklinge auf. Der an seiner Seite verbliebene Reiter fauchte ihn an, er solle das Gefährt in den Seitenweg lenken, der unweit voraus nach Norden abbog. Schicksalergeben ließ der Kutscher das Gespann angehen.

Da niemand ihn verfolgte, war der Rothaarige am Rand des Waldstücks stehen geblieben, um den Fortgang des Geschehens zu beobachten. Als er sah, dass die Heckenreiter mit seinem Planwagen das Weite suchten, kochte der Zorn in ihm wie siedendes Wasser.

Mit geballten Fäusten schrie der Fernhändler den Davonreitenden drohende Worte hinterher. Doch kein Wegelagerer drehte sich nach ihm um, keiner nahm die Drohungen zur Kenntnis. Der Feuerkopf schwor bei allen Heiligen, er werde nicht eher ruhen, bis das Raubnest des Wilden Raben als Trümmerhaufen vor ihm läge.

Mit ergiebiger Beute beladen ritten die Raubgesellen nordwärts. Die Rückkehr der beiden Streiftrupps nach Burg Rabenswald verlief ohne Zwischenfälle.

Von dem Kutscher erfuhren die Burgleute, dass es sich bei dem ausgepochten Pfeffersack um einen Fernhändler aus Nordhausen gehandelt habe. Dass sie nicht unter Geleitschutz hätten reisen können, wäre durch einen Achsbruch verschuldet worden.

Später, als die Gefahr gebannt zu sein schien und sie nun doch die Wagenladung in Augenschein nahmen, erlebten sie eine Überraschung: Wein! Sie hatten einen Frachtwagen voller Weinfässer erbeutet.

Am folgenden Tag beauftragte Graf Friedrich von Rabenswald-Wiehe seinen Burgvogt damit, den in der Anlage unerwünschten Ritter von Balgstedt vor das Burgtor zu setzen.

Blut, Beute und Bittgebet

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