Читать книгу Auf den Flügeln meiner Träume - Bernhard Dönhoff - Страница 5

Die Quelle

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Die Geschichte, die ich euch heute erzählen möchte, habe ich von meiner Großmutter gehört, als ich selbst noch ein kleiner Junge war“, begann Onkel Artur : „Es ist eine dieser seltsamen Erzählungen, die zwischen Tag und Traum liegen, und von denen man nicht weiß, ob sie erfunden, oder vielleicht doch wahr sind:

In einem alten, schönen Haus, lebte vor vielen Jahren ein kleines Mädchen. Seine Eltern hatten es Gwendollyn genannt, denn es erinnerte sie an die Tochter des Feenkönigs Maldred, von dem sie einmal in einem Buch gelesen hatten.

Eines Tages weilte die Großmutter zu Besuch bei den Eltern. Die Großmutter war eine alte strenge Frau und Gwendollyn wurde immer von einem unbestimmten Gefühl der Unsicherheit beschlichen, wenn sie da war.

Am letzten Abend des vergehenden Jahres, die Eltern waren ausgegangen, saßen die Großmutter und das Mädchen vor dem Kamin und lauschten dem draußen heulenden Schneesturm. Gewendollyn fürchtete sich so sehr vor dem Unwetter, dass sie die Angst vor der alten Frau überwand und sich zu ihr an das prasselnde Kaminfeuer setzte. Die Alte hatte die Augen geschlossen, und das Mädchen glaubte schon, sie sei eingeschlafen und fühlte Furcht langsam in sich hochklettern, als die Großmutter in die, nur durch das Knacken der Holzscheite im Kamin unterbrochene Stille, hinein zu flüstern begann:

„ In Nächten wie diesen können Dinge geschehen, die man kaum für möglich hält.“

Gwendollyn fragte die Großmama: „ Wie meinst du das?“

„ Diese Nächte, in denen der Sturm wütet und die dunklen Mächte miteinander kämpfen, lassen die seltsamsten Dinge geschehen und die unwirklichsten und längst vergessen geglaubten Erinnerungen lebhaft wiedererstehen.“

Die Greisin beugte sich vor und die flackernde Glut des Feuers tauchte das alte Gesicht der Frau in einen magischen Schein.

Gwendollyn hatte die Großmutter noch nie so erlebt und fragte kaum hörbar:

„ Großmutter, woher weißt du das so genau?“

„Nun“, begann die Großmutter zögernd und ließ ihren Blick lange auf ihrer Enkelin ruhen, „weil ich es schon selbst einmal erlebt habe.“

Sie machte eine lange Pause und an dem Ausdruck ihres Gesichts war zu erkennen, dass sie in eine längst vergangene Zeit zurückkehrte.

„ Ich war damals, vor vielen, vielen Jahren, kaum älter als du, mein Kind. Mein Vater hatte gerade dieses Haus gebaut und ich lief, neugierig wie alle kleinen Mädchen, den lieben langen Tag durch die Wiesen und Wälder, um mein neues Zuhause in Augenschein zu nehmen und zu besitzen.

An einem Spätsommernachmittag lag ich unter der alten, knorrigen Eiche, die mit den seltsam geformten Ästen, und sah den Wolken zu, die am strahlend blauen Himmel, ihre ewig gleiche Bahn zogen.

Plötzlich war mir, als hörte ich ein Knacken im Unterholz. Erschrocken richtete ich mich auf, sah mich um, und erkannte einen jungen Burschen, der sich vorsichtig, immer wieder umschauend, durch das Gebüsch genau auf mich zu schlich. Flugs kletterte ich auf den Baum und versteckte mich tief in seinen Ästen.

Das Herz schlug mir bis zum Hals.

Mittlerweile war der Junge unter dem Baum angelangt. Er blickte sich noch einmal um, so als wolle er auch wirklich sicher sein, dass ihm keiner gefolgt war.

Dann kratze er an einer Stelle zwischen den Wurzeln das Moos ab. Nun erst sah ich, dass ein Stein darunter verborgen war. Er hob ihn, unter der Last stöhnend, hoch und rollte ihn mühsam zur Seite. Dann beugte er sich in das Loch darunter.

Jetzt hörte ich eine Quelle leise vor sich hin murmeln. Nie zuvor hatte ich diese Quelle entdeckt, obwohl ich doch schon, oft stundenlang, unter der Eiche gelegen und meinen Träumen nachgehangen hatte. Angst und Vorsicht waren wie weggeblasen. Die Neugierde siegte und ich sprang dem Jungen aus meinem sicheren Versteck geradewegs vor die Füße. Er wurde bleich vor Schrecken und fragte mich entgeistert:

„ Wo, wo kommst du denn her?“

„ Aus dem Baum, dort oben“, antwortete ich wie selbstverständlich: „ Aber, was hast du denn hier zu suchen? Und wer bist du überhaupt?“

„ Erstens geht dich das gar nichts an und zweitens heiße ich Mordekai.“

„ Oh, doch, Mordekai“, erwiderte ich nun schon etwas selbstbewusster, „das geht mich eine ganze Menge an. Ich bin nämlich Miranda, die Tochter des neuen Besitzers dieses Landstücks.“

Mordekai war plötzlich völlig verstört, er zitterte am ganzen Körper und das Blut war ihm aus dem Gesicht gewichen. Ich sah ihn tröstend an und nickte ihm ermutigend zu. Nachdem er sich gefasst hatte, stotterte er:

„ Bitte, Miranda ! Bitte erzähle niemandem, etwas von unserem Treffen und auch nicht von dieser Stelle!

Ich sah ihn befremdet an: „ Gibt es denn etwas, das keiner erfahren soll? Hast du etwas zu verbergen? Hast du etwas Unrechtes getan? Wirst du womöglich von der Polizei gesucht!“

Meine Stimmlage steigerte sich immer mehr und ich überschlug mich fast in meinen Worten.

Mordekai lachte mir ins Gesicht: „ Ich habe nichts getan, was dich zu beunruhigen braucht. Ich habe noch nie etwas Unrechtes getan und bin auch noch nie von der Polizei gesucht worden Von daher hast du wirklich nichts zu befürchten...“

„Nun“, erwiderte ich etwas beleidigt, denn sein lautes Lachen hatte mich verunsichert: „nun, wenn das so ist, dann hast du ja auch sicherlich nichts dagegen, wenn ich meinem Vater von dir und deinem Fund erzähle!“

Ich drehte mich um, und wollte schon davoneilen, da hielt er mich am Saum meines Kleides fest.

„ Ehe du wegrennst und großes Unglück über uns alle, über dich und deine Familie bringst, hörst du dir erst meine Geschichte an. Wenn ich sie dir erzählt habe, kannst du allein entscheiden, ob sie für alle Zeiten unser Geheimnis bleiben soll, oder nicht!“

Mordekai hatte mich dabei so eindringlich angesehen, dass mein Groll ebenso schnell verschwand, wie er gekommen war. Das strahlende Blau seiner Augen war aschfahl geworden und hatte mir Angst gemacht. Also setzte ich mich wieder unter den Baum, direkt neben die Quelle ins Gras.

Mordekai ging einige Male auf und ab, wohl darauf bedacht, dass ich der Quelle nicht zu nahe komme. Warum, das wirst du noch erfahren.

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, suchte er nach den richtigen Worten, mit denen er seine Erzählung beginnen lassen könne. Dann endlich sah er mir in die Augen und er begann, erst zögernd und stockend:

„ Vor einer langen Ewigkeit, kam ich mit meinen Brüdern hier an diesem Baum vorbei. Wir waren auf der Jagd gewesen und ritten nun müde, erschöpft und mutlos nach Hause, denn der Erfolg bei der Pirsch war uns versagt geblieben. Mein ältester Bruder, Magnus, ritt an der Spitze unseres kleinen Trupps. Er war es auch der die Quelle zuerst entdeckte. Er sprang vom Pferd, lief zum Wasser, kostete davon und rief uns zu: „ Kommt her und trinkt! Das Wasser ist nach einem solch anstrengenden und traurigen Tag eine rechte Erfrischung.“

Mesop, Mantys und ich stiegen ebenfalls von den Pferden. Ermattet und erschlagen gingen auch wir zu der Quelle, legten uns ins Gras und tranken in langen Zügen von dem frischen und kühlen Nass. Als wir genug getrunken, uns erfrischt und ausgeruht hatten, setzten wir unseren Heimweg fort.

Der Vater stand schon unter der Tür vor der Hütte und war sehr erbost, dass wir schon wieder mit leeren Händen ankamen. Am nächsten Tag ritt er mit zur Jagd aus, und seit langer Zeit hatten wir wieder einmal Glück und konnten mit reicher Beute heimwärts ziehen. Auf dem Rückweg rasteten wir wieder an der Quelle und tranken davon. So ging es Tag um Tag und Jahr um Jahr.

Die Mutter war die erste, der es auffiel. Die Zeit ging an ihr nicht vorüber. Sie wurde immer älter, während wir anderen kaum zu altern schienen. Zunächst nahmen wir keine Notiz davon. Aber mit der Zeit bemerkten wir doch die Veränderungen. Unsere Nachbarn und Freunde wurden älter und älter. Wir jedoch nicht. Vorderhand beneideten sie uns darum und führten es auf unsere einfache und ärmliche Lebensweise zurück. Doch bald änderten sie ihr Verhalten uns gegenüber. Sie bedachten uns mit feindlichen Blicken und schränkten den Umgang mit uns mehr und mehr ein. Zum Schluss vertrieben sie uns aus unserem Haus, zündeten es an und hetzten ihre Hunde auf uns. Wir konnten nur mit knapper Not entkommen und mussten uns lange Zeit versteckt halten, glaubten doch alle, wir hätten einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und unsere Seele unserer Unsterblichkeit geopfert. Kein vernünftiges Wort war mehr möglich. Sie stellten uns nach und jagten uns, wie gefährliche Tiere.“

Hier unterbrach ich Mordekai: „ Sag mir doch, was mit eurer Mutter geschah!“

Mordekai sah mich mit einem langen traurigen Blick an:

„ Sie hielt natürlich nichts von den Hassreden der Freunde und Nachbarn und stand bis zum Ende fest zu uns. Aber letztlich starb sie ganz einfach in den Armen des Vaters.“

„ Oh“, flüsterte ich betroffen und fügte nach einer Weile hinzu: „ Aber habt ihr der Mutter denn nichts von dem Wasser der Quelle gegeben?“

„ Hör zu!“, sagte er und sah mich dabei durchdringend an:,

„ unterbrich mich nicht und du wirst schon verstehen.

Kurz bevor uns die Anlieger von unserem Grund und Boden verjagten, es war gerade die Zeit der beginnenden Herbststürme, hatte mein Bruder Mesop ein schreckliches Traumgesicht. Gerade als der Sturm am Schlimmsten um die Hütte tobte, erwachte er schweißnass, sprang aus dem Bett und rief mit angsterfüllter Stimme nach der Mutter. Die hatte noch am Feuer gesessen und bei dem spärlichen Schein Strümpfe gestopft. Sie eilte zu ihm, nahm ihn in den Arm, tröstete und beruhigte ihn. Dann fragte sie: „ Nun, mein Sohn, was hat dich so zu Tode geängstigt?“

Mesop antwortete, noch ganz unter dem Eindruck des Alptraum stehend, völlig verängstigt:

„ Mutter, ich hatte einen schrecklichen Traum. -

Du kennst doch die Quelle, aus der wir jedes Mal trinken, wenn wir von der Jagd kommen.

Im Traum nun, saß ich eines Tages in der alten Eiche, die mit ihren knorrigen und bizarren Ästen über der Quelle steht, so als wolle sie sie vor unerwünschten Eindringlingen schützen. Ich saß also in ihren Zweigen und wartete auf die Rückkehr des Vaters und der Brüder, als ich direkt neben der Wasserstelle zwei Trolle sitzen sah, die sich gegenseitig von ihren Streichen erzählten, die sie den Menschen spielten. Der eine berichtete nun, unter brüllendem Gelächter: „ Hier - mit dieser Quelle ist mir mein Meisterwerk gelungen. Ich habe das Wasser verzaubert und nun wird jeder, der daraus trinkt, unsterblich.“

„ Oh, das ist wirklich mehr als teuflisch“, grunzte der andere und schlug sich dabei vor Vergnügen auf die prallen Schenkel, dass es nur so klatschte, „ aber sag! Hat der Zauber denn schon irgendeine Wirkung gezeigt?“

„Das ist ja gerade mein Meisterstück! Ich habe mir gewünscht, dass vielleicht der ein oder andere ins Netz geht. Aber, dass es gleich fünfe sind, das übertrifft doch alle meine Vorstellungen.“

Nun berichtete Mesop weiter, wie der eine Troll dem anderen Unhold von unserem Schicksalsschlag berichtete.

Durch Mesops Schrei waren auch wir anderen aufgeweckt worden und in die Küche geeilt. Wir wagten kaum zu atmen, während wir dem Ende der Traumgeschichte unsres Bruders lauschten. Der Vater lehnte am Türpfosten und jeder spürte das Entsetzen in sich hochkriechen, als er nahezu tonlos die Mutter hilfesuchend ansah und verzweifelt fragte: „ Was können wir noch tun?“

Nie werde ich für den Rest meiner Tage das unbeschreibliche Mitleid in ihrem Blick vergessen, mit dem sie uns lange und eindringlich der Reihe nach anblickte, die Hände faltete und flüsterte : „ Gott sei euren armen Seelen gnädig.“

Magnus warf sich der Mutter weinend zu Füßen und rief: „ Warum bist du nicht ebenso verflucht auf ewig zu leben, wie wir? Womit haben wir das verdient? Was haben wir getan, dass wir so ins Verderben gestürzt werden?“

Er sprang, wie von Sinnen auf, und wollte auf die Mutter losgehen, aber der Vater war schneller und hielt ihn mit eisernem Griff zurück. Ehe sich die Situation weiter verschärfen konnte, stand die Mutter auf und legte ihm den Arm um die Schulter und blickte ihm tief in die Augen. Sie erkannte gleichermaßen sein Entsetzen und die maßlose Trauer, die sich in seinem Ausdruck widerspiegelte. Nach beinahe unerträglich langer Zeit antwortete sie: „Oh, mein Sohn! Wie wenig kennst du doch das Herz einer Mutter. Glaubst du, wenn ich auch nur einen Hauch der Verwünschung geahnt hätte, die auf dieser Quelle liegt, hätte ich jemals zugelassen, dass ihr so in euer Unglück rennt?“

Von neuem sah sie uns der Reihe nach an und fuhr mit brüchiger Stimme fort:

„ Nur Er allein weiß, wie schwer es mit gefällt ist, wieder und immer wieder nicht von dem Wasser zu trinken, das kühl und klar in der Flasche funkelte, wenn ihr mir davon etwas mitbrachtet. Oft habt ihr mich bedrängt. Oft wurdet ihr alle verärgert oder traurig, wenn ich ablehnte davon zu trinken. Eine innere Stimme warnte mich jedoch jedes Mal davor. Ich habe euch nie von meinen Vorahnungen erzählt, denn ich fürchtete, ihr hieltet es für das Geschwätz einer alten Frau und würdet mich auslachen. Heute weiß ich es leider besser.“

Magnus löste sich vom Vater, ging auf die Mutter zu, umarmte sie und bat sie um Verzeihung.

Von Stund an mieden wie die Quelle, ja sogar den Weg, der dorthin führte, in der Hoffnung, dass Mesops Traum halt eben doch nur ein Traum war, aber tief im Innersten unseres Herzens wusste doch ein jeder von uns, dass die Trolle Recht hatten.

Und mit der Zeit erkannten auch wir die stärker werdenden Zeichen der Vergänglichkeit. Verwandte, Freunde, Bekannte und Nachbarn zogen sich mehr und mehr von uns zurück. Sie fühlten, dass wir anders geworden waren. Anders als sie alle. Während sie und die Mutter von Tag zu Tag älter wurden, hinterließ die Zeit an uns keinerlei Spuren. Anfangs beneideten uns viele um den Zustand, doch nach und nach nahmen Neid und Missgunst mehr und mehr zu. Letztendlich blieb nur noch Hass, nichts als Hass zurück.

Wir befolgten Mutters Rat, brachen alle Brücken hinter uns ab und zogen in einen anderen Teil des Landes.

Bald danach rief sie uns zu sich und als wir uns alle um sie versammelt hatten sagte sie: „ Für mich wird es nun Zeit Abschied zu nehmen. Ich kehre in den Schoß der Väter zurück.“ Eine energische Handbewegung von ihr ließ jeden Widerspruch ungesagt.

„ Schwört mir, dass ihr die Hoffnung auf ein gemeinsames Wiedersehen niemals aufgeben werdet und bleibt treu und ehrlich zueinander.“ Wir gaben ihr stumm nickend das Versprechen. Als der Vater an ihr Bett trat, flüsterte sie ihm zu:

„ Ich liebe dich und werde euch beschützen, solange wir getrennt sind.“, das waren ihre letzten Worte.

Mit dem Tod der Mutter schienen alle Brücken zu unserem alten Leben zerbrochen zu sein und eine namenlose und lähmende Trauer nahm von uns Besitz.“

An dieser Stelle unterbrach ich wiederum Mordekai: „ Wenn ihr diesen Ort der Verzweiflung doch so sehr hasst und fürchtet, wie konnte es dann passieren, dass ich dich hier fand?“, fragte ich ihn teilnahmsvoll.

Er sah mich an und antwortete: „ Ja, Miranda, diese Frage habe ich erwartet. Doch höre weiter zu und du wirst die Antwort erfahren.

Lange Zeit des ruhelosen und gehetzten Umherstreifens lag hinter uns, als wir, wie durch einen magischen Zwang, erneut an diese Stelle des namenlosen Entsetzens zurückkehrten, denn obwohl die Quelle Ursache unserer Qual war, gab uns die Eiche ein Gefühl der Geborgenheit und des Vertrautseins, der schönen Erinnerungen und des verlorenen Glücks ferner Tage.

Wir setzte uns also in den Schatten des Baumes und kurze Zeit später waren wir auch schon eingeschlafen, als plötzlich unsere jüngster Bruder Mantys aus dem Schlaf aufsprang , uns weckte und mit tränenerstickter Stimme schluchzte:

„ Ich habe die Mutter gesehen.“ Wir schauten uns alle an. Keiner, nicht einmal der starke Vater, brachte den Mut auf; Mantys etwas entgegen zu halten, spürten doch alle, dass er bis ins Innerste seine Seele aufgewühlt war.“ Ich habe die Mutter gesehen“, fuhr er fort, und während er uns berichtete, was er gesehen und gehört hatte, schöpften wir alle wieder ein Fünkchen Hoffnung.

„ ... sie saß unter der Eiche, genauso wie wir hier jetzt sitzen, und als sie mich kommen sah, stand sie auf und kam lächelnd auf mich zu, nahm mich in den Arm, und sagte zu mir: „ Nun, mein Sohn, dir fällt ein wichtiger Auftrag zu!“ Und geheimnisvoll fuhr sie fort: „ Sorge dafür, dass einer von euch jedes Jahr, am Tag meines Todes hier ist. Irgendwann einmal und zu irgendeiner Zeit, wird ein Mädchen, das ihr hier trefft, auf euch warten und euch den Weg zu eurer Befreiung zeigen:“ Mantys fragte die Mutter: „ Wie soll das geschehen, woran werden wir erkennen, ob sie die richtige ist,....? Im aufkommenden Nebel verschwindend, rief ihm die Mutter zu: „ Wenn die richtige kommt, werdet ihr es wissen und sie wird euch den Weg zeigen, der euch zu mir bringt!“

Erschöpft hielt Mordekai hier mit seiner Geschichte inne. Ich bettete seinen Kopf in meinen Schoß und wir schwiegen eine Zeit lang. Dann stand er auf, blickt mich an und schien meine Gedanken lesen zu wollen. Auch ich erhob mich, fasste seine Hände und fragte ihn: „ Was kann ich tun, um dich und deine Familie zu erlösen?“

Kaum hatte ich jedoch die Frage gestellt, kannte ich schon die Antwort. Mordekai bückte sich und verschloss mit dem Stein wieder die Quelle. Unendlich traurig sah er mich an, drehte sich um und ging, ohne ein Wort des Abschieds den Weg zurück, den er gekommen war.

Ich wollte ihm nachlaufen, doch eine unbekannte Kraft hielt mich zurück. Lange nachdem er schon fort war, es begann bereits dunkel zu werden, konnte ich mich aus der Erstarrung lösen, und da wusste ich, dass ich nicht die richtige war, die ihn retten konnte, denn ich hatte ihn um Rat gefragt, statt selbst die Entscheidung zu treffen.

Ich musste noch lange über diese seltsame Begegnung an der Eiche nachdenken. Doch mit den Jahren verblasste die Erinnerung. Ich lernte deinen Großvater kennen, heiratete ihn und schenkte deinem Vater und seinen Geschwistern das Leben. Jetzt aber, da ich alt bin und nicht mehr viele Tage vor mir habe, kehrt die Erinnerung an Mordekai immer stärker zurück. Wo mag er all die Jahre gewesen sein und was werden er, sein Vater und seine Brüder alles erlebt haben. Werden sie sich an das der Mutter gegebene Versprechen haben halten können. Oder ist nur noch Verbitterung, Feindschaft und Hass da?

Die Großmutter schwieg und sah in Gedanken versunken in die langsam verglimmende Glut des Feuers.

Gwendollyn sah die alte Frau erstaunt und ehrfürchtig an. Sie spürte, dass die Großmama ihr die Geschichte ihres Lebens anvertraut hatte und ein Band seltsamer Vertrautheit begann die beiden zu umschließen.

In die wachsende Stille hinein fragte Gwendollyn die Großmutter mit flüsternder Stimme: „ Was ist mit der Quelle geschehen?“

„ Sie ist noch immer bei der Eiche“, antwortete die Großmutter, „ ich habe bis zum heutigen Tag niemandem davon erzählt, aus Angst das Schicksal könnte sich wiederholen.“

Von diesem Tag an schien sich das Mädchen zu verändern. Immer und immer wieder ging sie durch den Park zu der alten Eiche. Wind, Regen, Hagel, Schnee, ja selbst die schrecklichen Stürme des Herbstes und die klirrende Kälte von Frost und Eis hielten sie nicht davon ab, oft viele Stunden des Tages bei der Quelle zu verharren.

Oftmals, wenn sie von den langen Gängen zur Quelle zurückkehrte, die Großmutter sie fragend an. Doch Gwendollyn schüttelte jedes Mal mit einem traurigen Lächeln den Kopf.

Als sich die Zeit der Sommersonnenwende näherte, überfiel das Mädchen eine seltsame Unruhe. Es gelang ihr kaum ruhig zu sitzen. Auch schien sie sich für nichts und niemanden mehr zu interessieren. Allmählich fiel auch den Eltern das seltsame Verhalten ihrer Tochter auf, aber jedes Mal, wenn sie Gwendollyn zur Rede stellen wollten, beruhigte sie die Großmutter: „ Lasst das Kind! Sie erinnert mich an meine Kindheit. Ich war damals ebenso wie sie. Das gibt sich mit der Zeit.“ Und rätselhaft fügte sie leiser werdend und mehr mit sich selbst flüsternd hinzu: „ Bald ist es vorbei! Da bin ich mir ganz sicher. Gwendollyn weiß, was sie tut. Sie ist es, die die Zeit in Händen hält. Geduldet euch noch ein paar Tage und ihr werdet alles erfahren und verstehen.“ Dem Vater genügte die Antwort nicht, aber die alte Frau hatte ihn so eindringlich und keinen Widerspruch duldend dabei angesehen, dass er sich umwandte und nichts mehr zu entgegnen wagte.

Als der Tag der Sommersonnenwende gekommen war, machte sich Gwendollyn, kaum dass die ersten Sonnenstrahlen sie geweckt hatten, auf den Weg zur alten Eiche. Sie verharrte den ganzen Tag dort in einem Zustand der angespannten Erwartung. Schon brach die Dämmerung herein und die letzten Sonnenstrahlen übergossen den ganzen Schauplatz wie mit flüssigem Gold.

Gwendollyn spürte die maßlose Enttäuschung, die langsam in ihr hochkroch.

„Was hatte die Großmutter ihr denn da erzählt? Waren das alles nur die unerfüllten Wünsche, Träume und Hoffnungen einer alten Frau, geboren aus einem langen Leben? Oder war es einfach nur eine Geschichte, die ihr die Großmama erzählt hatte, um ihr den langen, trostlosen Winterabend, der wie eine Ewigkeit hinter ihr lag, zu verkürzen.?“ Diese und andere Fragen gingen ihr noch durch den Kopf, als sie langsam aufstand und sich entmutigt auf den Heimweg machen wollte.

Da hörte sie ein Geräusch in den Büschen. Sie wandte sich um und sah in der untergehenden Sonne einen Jungen auf sich zu kommen. Sie blickte ihm ins Gesicht, und wusste, dass die Geschichte der Großmutter Wahrheit zu werden begann.

„ Hallo, Mordekai“, sagte sie, „du kommst spät. Du weißt, es bleibt uns nicht mehr viel Zeit.“

Der Junge sah sie an. Er war keineswegs darüber erstaunt, dass Gwendollyn ihn beim Namen nannte.

Mordekai sagte zu ihr: „ Für das, was zu tun ist, bleibt noch ausreichend Zeit, Gwendollyn! Sag uns, was wir tun sollen!“

Und ohne großartig nachdenken zu müssen, fuhr das Mädchen fort: „ Rufe deinen Vater und deine Brüder! „Kaum hatte Gwendollyn ausgesprochen, hörte man schon im Dickicht um die Quelle herum knackende und knarrende Zweige und Äste und mit einem Mal waren der Vater und die Brüder um die Quelle versammelt.

Gwendollyn sah ihnen allen einzeln tief in die Augen und ihre Stimme nahm einen leicht zitternden Tonfall an, als sie sagte: „ Heute ist der Tag gekommen, an dem euer langer Weg sein Ziel findet. Fasst euch bei den Händen, schließt die Augen und folgt mir.“

Sie taten es. Das Mädchen führte sie alle hinab zur Quelle und als das Wasser sie berührte, fühlte Gwendollyn, wie sie immer tiefer und tiefer versanken. Seltsamerweise spürte sie weder Angst nach Furcht. Unvermutet spürte sie, wie sich die Hände des Vaters und der Söhne von ihren Händen lösten. Sie hörte eine außergewöhnliche, kaum zu beschreibende Musik, die Trauer und Freude, Leid und Glück gleichermaßen in sich zu vereinen schien.

Das Mädchen wusste nicht, wie lange es so dagelegen hatte, sie spürte nur eine unaussprechliche Dankbarkeit.

Plötzlich wurde ihr kleiner Körper sanft aber bestimmt hin und her gerüttelt. Als es ihr mühevoll gelang die Augen zu öffnen, sah sie in das gleißende Licht einer Laterne. Als sie sich daran gewöhnt hatte, erkannte sie hinter dem Licht der Lampe das sorgenvolle und ängstliche Gesicht der Großmutter. Die hob das frierende Kind auf und trug es nach Hause.

„ Großmama, es ist vorbei“, waren Gwendollyns letzte Worte, bevor sie in einen tiefen und erfrischenden Schlaf fiel.

Am anderen Morgen erwachte sie erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Sie entdeckte auf dem Nachttisch, neben ihrem Bett eine kleine Spieldose. Die Melodie, die erklang, als sie das zierliche Wunderwerk öffnete, erinnerte sie sehr an die Musik, die sie in der Quelle gehört hatte. Sie sprang aus dem Bett und eilte sofort durch den Wald, um nachzusehen, was aus der Quelle geworden war. Atemlos erreichte sie die alte Eiche und wälzte mühevoll den schweren Stein bei Seite, der die Quelle vor den Augen der Menschen verborgen hatte. Ein Gefühl der Befreiung und des Glücks durchströmte sie, als sie feststellte, dass die Quelle nun versiegt und ausgetrocknet dalag.

Lachend, tanzend, singend und springend kehrte sie zur Großmutter zurück, warf sich ihr in die Arme und rief:

„ Alles hat ein glückliches Ende gefunden, Großmama! Den Ort des Unheils gibt es nicht mehr. Die Quelle, die so viel Leid über Mordekai und seine Familie gebracht hat, ist endlich von ihrem Fluch befreit und kann nun keinen Schaden mehr anrichten!“

Die alte Frau drückte das Mädchen fest an ihr Herz und auch ihr liefen Tränen der Freude und des Glücks über die zerfurchten Wangen.


Auf den Flügeln meiner Träume

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