Читать книгу Der Tempelmord - Бернхард Хеннен - Страница 6
2. KAPITEL
ОглавлениеSamu! Wach auf!«
Müde blinzelte die Isispriesterin den Schlaf aus den Augen und drehte sich auf der schmalen Kline herum. Neben ihr stand Kleopatra. Obwohl das grauè Morgenlicht noch so schwach war, daß es kaum die Kammer zu erhellen vermochte, war die Prinzessin bereits vollständig angekleidet und geschminkt, ganz so, als sei sie schon seit mindestens einer Stunde auf den Beinen.
»Endlich wirst du wach. Du schläfst wie ein Stein, alte Frau.«
Kleopatra lachte. »Sollst du nicht Isis jeden Morgen bei Sonnenaufgang mit einem Gebet begrüßen?«
»Die Göttin wird es mir nachsehen, denn ich habe bis tief in die Nacht in ihrem Dienst gewacht.« Die Priesterin streckte sich und schlug die dünne Leinendecke zur Seite. »Was treibt dich kleine Furie eigentlich so früh heraus. Hast du wieder einmal Liebeskummer?«
Die Prinzessin machte eine wegwerfende Geste. »Falls du auf Phrygius anspielst, das ist längst vorbei. Ich werde mich nie wieder in einen Sklaven verlieben. Richtige Männer sind wesentlich interessanter und… Doch darum geht es jetzt nicht. Du mußt unbedingt mit mir zum Tempel hinuntergehen!«
Samu musterte die Prinzessin besorgt. Kleopatras Bemerkung über richtige Männer gab ihr zu denken. Nicht, daß sie mit ihren vierzehn Jahren zu jung gewesen wäre, das Lager mit einem Liebsten zu teilen, doch zweifelte die Priesterin daran, daß die Prinzessin schon wußte, wie man sich vor den möglichen Konsequenzen eines solchen Abenteuers schützen konnte. Sie sollte dringend mit Kleopatra über die Wirkungen gewisser Kräuter reden! »Was erwartet mich denn am Tempel? Ist dein neuer Liebster vielleicht ein Priester?«
»Unsinn!« Die Prinzessin schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe die Sklaven heute morgen in der Küche reden gehört. Irgend etwas Unheimliches muß beim Tempel geschehen sein. Man sagt, daß Thanatos, der Todesgott, aus einem der Marmorfriese gestiegen sei und einen Mann enthauptet habe.«
Samu war mit einem Schlag hellwach. »Was für einen Mann? Ist der Mord wirklich direkt vor dem Tempel geschehen?«
Kleopatra zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Die Sklaven haben nur behauptet, daß der Tote wie ein Ägypter gekleidet sei. Hassen uns die Götter dieser Stadt, Samu? Hat mein Vater ihnen ein Unrecht getan?«
Die Priesterin unterdrückte einen Fluch und schwang sich vollends von der Kline. Sie haßte den Moment, an dem sie morgens ihre nackten Füße auf den kalten Steinboden aufsetzte. Rasch schlüpfte sie in ihr langes weißes Priesterinnengewand, verknotete es kunstvoll vor der Brust und streifte dann ihre Sandalen über.
»Wirst du mich mitnehmen?«
»Ich weiß nicht, ob ein toter Mann der rechte Anblick für eine Prinzessin ist.«
»Aber mein Vater hat mir auch schon erlaubt, bei Hinrichtungen anwesend zu sein. Er meint, ich sollte den Anblick des Todes kennen, um auf den Tag vorbereitet zu sein, an dem ich einst als Herrscherin mein erstes Todesurteil fälle.«
Samu nickte nachdenklich. Sie war unsicher, ob die Entscheidung Ptolemaios’ weise war oder ob er seiner Tochter so den Respekt vor einem Menschenleben genommen hatte. Doch jetzt war nicht die Zeit, um in philosophische Grübeleien zu versinken. »Du darfst mich begleiten, Prinzessin. Aber wenn ich dir sage, daß du zurückgehen sollst, dann wirst du dich meinen Worten fügen und nicht lange mit mir über meine Entscheidung diskutieren.«
»Versprochen!«
Vor dem Artemision hatte sich ein ganzer Pulk von Schaulustigen eingefunden, um die lebendig gewordene Statue zu bestaunen. Einige Priester und Tempelwächter versuchten, die Neugierigen zurückzudrängen. Samu mußte energisch darauf pochen, eine Gesandte im Auftrag des Ptolemaios zu sein, um mit Kleopatra überhaupt bis zu den Stufen des Tempels vorgelassen zu werden. Vor dem Eingang zum Pronaos, der Vorhalle des Artemisions, erhoben sich drei Reihen riesiger Säulen, die über ihren Sockeln jeweils mit mannshohen Reliefs geschmückt waren. An der Säule links neben dem hohen Portal zur Tempelvorhalle, hatte sich eine kleine Gruppe von Männern und Frauen um eine am Boden liegende Gestalt geschart.
Nach den Gewändern zu schließen, mußte es sich bei dem Toten um Buphagos handeln. Doch wie, bei den Göttern, mochte er hierhergekommen sein?
Ein Mann in einem bunt bestickten Leinenpanzer löste sich aus der Gruppe und trat Samu in den Weg. »Seid Ihr im Auftrag Eures Königs hier?«
Samu nickte zögerlich. »Sozusagen…«
Der Fremde runzelte die Stirn. »Sozusagen?« Er mochte höchstens dreißig Sommer alt sein. Sein Gesicht war wettergegerbt und wurde von einer gewaltigen Adlernase beherrscht. »Wie darf ich das verstehen?«
»Wer fragt mich das? Ich stehe unter dem Schutz des Tempels und bin allein der Hohepriesterin Rechenschaft schuldig.«
Der Mann trat einen Schritt zurück und verbeugte sich mit übertriebener Geste. »Verzeiht, wenn ich Eure Würde verletzt haben sollte, ägyptische Prinzessin.« Samu hörte, wie Kleopatra hinter ihrem Rücken zu kichern begann. »Man nennt mich Orestes. Ich bin der Eirenarkes von Ephesos, der Beamte, der für die Sicherheit der Stadt zuständig ist. Die Hohepriesterin hat mich hierhergebeten, damit ich mir den Toten ansehe. In der Stadt hat es bereits einiges Gerede wegen des Vorfalls während der Prozession gestern gegeben. Kennst du diesen Mann?«
Samu nickte. »Es ist Buphagos, der Mundschenk des Pharao. Er war es, der gestern die Prozession störte.«
Orestes preßte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und musterte Samu einen Augenblick lang. Dann stieß er einen leisen Seufzer aus. »Ihr habt gesehen, was mit dem Leichnam passiert ist?« Er trat zur Seite, so daß die Isispriesterin jetzt das Relief am Sockel der riesigen Säule betrachten konnte, vor der der Tote lag. Die Steinmetz arbeit zeigte den Todesgott als nackten, geflügelten Jüngling, der mit Mohn bekränzt war und ein Schwert an seiner Seite trug. Er hatte ein ebenso schönes wie unnahbares Gesicht, und ein unbekannter Künstler hatte den Marmor so vollkommen bemalt, daß der braungebrannte Körper glänzte wie der Leib eines Athleten, der sich gerade mit Öl eingerieben hatte. Daneben stand eine schöne Frau in einem langen, himmelblauen Chitonion, zu dem sie einen schön drapierten roten Mantel trug. Erschrocken hatte sie ihr bleiches Gesicht von Thanatos abgewandt und betrachtete den nackten Götterboten Hermes, der links von ihr stand.
»Ihr kennt die Geschichte von Alkestis, die ihr Leben für ihren Mann Admetos gegeben hat? Ich frage mich, ob es ein Zufall ist, daß Thanatos den Leichnam des Mundschenks ausgerechnet hier zurückgelassen hat? Oder ist es ein Zeichen dafür, daß dieser Mann sein Leben für einen anderen gegeben hat?«
»Was willst du damit andeuten?« fragte Samu gereizt.
»Die Priesterinnen sind davon überzeugt, daß Thanatos in die Gestalt des Marmorbildes gefahren ist und den Toten hierher brachte, um uns eine Botschaft zu übermitteln. Seht ihn Euch an! Seine rechte Hand ist noch blutig, ebenso das Schwert an seiner Seite.«
Samu trat über den Toten hinweg und betrachtete das mannshohe Relief. Tatsächlich war die rechte Hand des geflügelten Gottes mit getrocknetem Blut besudelt. Ebenso das Schwert an seiner Seite. Doch das war unmöglich!
Unschlüssig blickte sie auf den Toten hinab. Sein Kopf war mit einem glatten Schnitt abgetrennt worden. Der Schlag mußte mit großer Kraft geführt worden sein. Das sprach dafür, daß ein Gott den Leichnam enthauptet hatte. Aber wie hatte sich Thanatos mit Blut besudeln können? Buphagos war schon seit vielen Stunden tot, als der Gott kam, um ihn zu richten, und das Blut des Mundschenks mußte längst in seinen Adern erstarrt sein. Weder in der Nähe des Leichnams noch auf den hellen Marmorstufen des Tempels waren weitere Blutspuren zu sehen. Nachdenklich strich sich die Isispriesterin über ihr Kinn und versuchte sich vorzustellen, wie der Todesbote aus der Säule gestiegen war und was er dann getan haben mochte.
»Zweimal in nur zwei Tagen hat sich uns das Wirken der Olympier offenbart«, murmelte Orestes düster. »So etwas ist seit dem Zeitalter des Herakles nicht mehr geschehen. Die Hohepriesterin wünscht zur Mittagsstunde Euren König zu sehen, Ägypterin. Sie will mit ihm über die Vorkommnisse reden und darüber, daß beide Ereignisse in Verbindung mit ihm und seinem Hofstaat stehen.«
»Ptolemaios XII., der Neue Osiris, ist ebenfalls ein Gott, und kein Sterblicher kann ihm Befehle erteilen. Er wird die Hohepriesterin aufsuchen, wenn es ihm gefällt.«
Samu konnte sehen, wie dem Eirenarkes das Blut in den Kopf schoß. Einen Moment lang schien es, als würde er die Beherrschung verlieren. Seine Mundwinkel zuckten unruhig. »Ich hoffe, daß der Gott ein Einsehen in die Wünsche der Menschen hat, sonst könnte es sein, daß er allein im Olymp noch auf Asyl zu hoffen vermag.«
»Ich werde dem Neuen Osiris deine Botschaft ausrichten, Orestes«, entgegnete Samu ruhig. »Und ich werde ihm auch deinen Namen nennen, damit er weiß, wie du von ihm redest. Komm, Kleopatra, laß uns jetzt gehen.« Samu hatte sich halb zu der jungen Prinzessin umgewandt, die neugierig das Relief des blutbesudelten Thanatos musterte. Dann stieg sie mit Kleopatra an ihrer Seite stolz die Stufen des Tempels hinab. In der Menge der Schaulustigen bildete sich eine Gasse, so daß die beiden ungehindert passieren konnten. Deutlich hörte Samu das verärgerte Getuschel der Epheser. Sie nannten sie flüsternd eine ägyptische Hexe!
Die Priesterin und die Prinzessin hatten schon fast den Eingang der Villa erreicht, als Kleopatra stehenblieb, um noch einmal zu dem mächtigen Tempel zurückzublicken. »Warum sind die Götter der Griechen so wunderlich, Samu?«
Erstaunt blickte die Priesterin das Mädchen an. »Wie meinst du das?«
»Thanatos muß seine Schwertscheide benutzt haben, um Buphagos zu köpfen. Wollte er damit seine Stärke demonstrieren?«
»Wovon redest du?«
»Das Blut… Es war an der Schwertscheide. Hast du denn nicht genau hingesehen? Thanatos hat sich nicht die blanke Waffe umgegürtet. Sie steckte in einer Scheide.«
Samu mußte sich eingestehen, nicht so sehr auf diese Kleinigkeiten geachtet zu haben, weil sie sich über die arrogante Art des Eirenarkes geärgert hatte. Das Schwert des Gottes war blau angemalt gewesen. Mitunter wählten Künstler diese Farbe auch, um den Schimmer von poliertem Eisen nachzuahmen. Viel mehr hatte die Priesterin sich über die Tatsache gewundert, daß überhaupt Blut an der Waffe war. Doch auch diese Beobachtung paßte zu dem Bild, das sie sich von den nächtlichen Ereignissen gemacht hatte. Hoffentlich kamen nicht die Priesterinnen der Artemis zu demselben Schluß, zu dem sie gekommen war! Kleopatra würde sie auf keinen Fall in ihr Wissen einweihen.
»Wir Sterblichen werden das Wesen der Götter nie vollends erfassen können, Prinzessin. Auch wenn uns manchmal ihr Handeln sehr vertraut vorkommt, so tun sie doch schon im nächsten Augenblick wieder etwas, das uns völlig unbegreiflich ist. Betrachte nur Zeus, den Mächtigsten aller Olympier. Immer wieder gelüstet es ihn danach, das Lager mit Menschenfrauen zu teilen, doch kann er sie, obwohl er der erste aller Götter ist, nur selten vor dem Zorn seines eifersüchtigen Weibes, Hera, beschützen.«
»Kann es nicht auch sein, daß die Göttinnen in Wahrheit mächtiger sind als ihre Männer?«
Samu lächelte. »Ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis du selbst die Erfahrung machst, welche Macht Frauen über Männer haben. Dann wird dir die Antwort auf diese Frage klar werden.«
Laute Stimmen im Atrium und ein ständiges Kommen und Gehen hatten Philippos aus dem Schlaf gerissen. Er konnte zwar nicht verstehen, worüber gesprochen wurde, doch ließ sich eine unbestimmte, nicht in Worte zu fassende Angst aus den Gesprächsfetzen heraushören, die zu ihm drangen. Offenbar beherrschte das rätselhafte Ende des Mundschenks am gestrigen Tage noch immer die Gemüter der Sklaven und Höflinge.
Eine Zeitlang blieb der Grieche unter seiner warmen Wolldecke liegen und lauschte auf die Geräusche in der großen Villa. An ihm hatte offenbar niemand Interesse. Keiner kam herein, um ihn zu wecken… Man brauchte ihn nicht! Ob dies schon die ersten Konsequenzen aus dem Gespräch mit dem König waren? Es hatte ihn bisher immer gewundert, wie schnell die sonst so oberflächlichen Höflinge bemerkten, wer in Ungnade gefallen war. Es war fast so, als sei man gestorben. Niemand nahm mehr Notiz von einem. Und wenn man hinging und einen der Hofbeamten ansprach oder auch nur mit einer der Tänzerinnen plauderte, mit denen sich der Herrscher gelegentlich vergnügte, dann schien es, als bereite es dem Gegenüber körperliche Qualen, mit einem zu reden. Jede Ausflucht war willkommen, um vor einem solchen Gespräch zu fliehen. Zweimal hatte Philippos in seiner kurzen Zeit am Hof des Königs erlebt, was es hieß, ausgestoßen zu sein. Er hatte es beobachtet und keine besondere Teilnahme für das Schicksal der Betroffenen gezeigt. Jetzt war es vorbei mit seiner Rolle als unbeteiligter Beobachter!
Beklommen blieb er liegen und beobachtete, wie der schmale Streifen Sonnenlicht, der durch ein kleines, hochgelegenes Fenster in sein Zimmer fiel, langsam über den Boden wanderte. Wenn das Licht seine Sandalen erreichte, dann würde er aufstehen. Er konnte sich nicht ewig unter seiner Decke verkriechen! Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren! Wenn er ein Geächteter war, dann würden sich auch daraus noch Vorteile für ihn ergeben! Er mußte nur lange genug darüber nachdenken. Fast jedes Problem ließ sich allein durch Nachdenken bewältigen!
Wenn die Epheser sich gegen Ptolemaios und die anderen ägyptischen Flüchtlinge erhoben, weil sie in dem Vorfall während der Prozession ein schreckliches Omen sahen, dann mochte es Philippos vielleicht sogar das Leben retten, wenn er beim König in Ungnade gefallen war. Geistesabwesend starrte der Grieche auf die kleinen Staubkörner, die in dem goldenen Sonnenstrahl auf und nieder tanzten, der das graue Zwielicht seiner Kammer durchschnitt. Nicht mehr lange, und der Lichtstreifen auf dem Boden hätte seine Sandalen erreicht. Dicht neben den Schuhen lag seine zerknüllte Toga. Er hätte sich gestern abend nicht so gehen lassen dürfen! Er hatte das Kleidungsstück einfach zusammengeknüllt und von sich geworfen. Sie war hoffnungslos zerknittert. In diesem Zustand war es unmöglich, die Toga noch einmal so zu drapieren, daß ihr Faltenwurf seinen Vorstellungen vom korrekten Sitz dieses unbequemen Kleidungsstücks entsprechen würde. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zum Waschen zu geben, damit das Leinentuch frisch gestärkt wurde. Er würde also heute eine Tunica statt des unbequemen Staatsgewandes tragen.
Im Atrium war lautes Reden und das Tappen vieler Füße zu hören. Offenbar verließ eine Abordnung den Palast. Ob Ptolemaios schon zu dem Gespräch mit der Hohepriesterin des Artemisions aufgebrochen war? Als der Lärm im Innenhof verklungen war, ließ sich auch im übrigen Haus kaum noch ein Geräusch vernehmen. Es war, als sei die riesige Villa ausgestorben. Nur ganz selten waren die leisen Schritte der Sklaven zu hören. Offenbar hatte fast der ganze Hofstaat das Gebäude verlassen. Das war die Gelegenheit, um den Plan, den er letzte Nacht geschmiedet hatte, in die Tat umzusetzen.
Einen Moment lang spähte Philippos von der säulengerahmten Loggia ins Atrium. Niemand ließ sich auf dem Innenhof sehen. Nicht, daß er etwas Verbotenes plante, doch war es ihm lieber, keine Zeugen zu haben. Mit einem Schritt war er an der Hauswand und stieß die Tür zum Zimmer des Mundschenks auf. Der Arzt huschte durch den schmalen Spalt in den Baum und schloß die rotbemalte Holztür sofort wieder hinter sich. Das Zimmer, das Buphagos bewohnt hatte, war auch nicht größer als seine eigene Kammer, stellte der Grieche zufrieden fest. Potheinos, der die Räume der weitläufigen Villa an die Mitglieder des Hofstaates aufgeteilt hatte, hatte sie beide also als gleichbedeutend eingeschätzt. Nun, Buphagos hatte nicht mehr viel von dieser Ehre.
Das kleine Zimmer war sauber und ordentlich aufgeräumt. Nirgends lag ein zerknülltes Wäschestück oder eine achtlos zur Seite gelegte Schriftrolle. Es gab keine Blumen oder versteckte Hinweise darauf, daß der Mundschenk hier einmal eine Frau empfangen hätte. Es war das Zimmer eines Langeweilers, dachte Philippos spöttisch. Genau das, was er vorzufinden erwartet hatte! Und doch mußte es um den Mundschenk ein Geheimnis geben, denn sonst würde er gewiß noch unter den Lebenden weilen.
Während er sich langsam um die eigene Achse drehte, musterte der Grieche das Zimmer. An der Wand, rechts neben der Tür, stand eine niedrige Kline und daneben ein kleines Tischchen auf schlanken Beinen. Neben einer Öllampe mit sorgsam zurückgestutztem Docht lag, in eine Lederhülle geschoben, eine Pergamentrolle. Was der Mundschenk wohl gelesen haben mochte? Neugierig nestelte Philippos am Verschluß der Hülle herum und zog das Pergament heraus. Aufgeregt überflog er die ersten Zeilen des Dokuments.
»Da bewaffnete sich Athene, legte den schimmernden Ägispanzer an, in dessen Mitte das Gorgonenhaupt mit den feurigen Schlangenhaaren starrte, und faßte eines der Geschosse des Vaters. Dann ließ sie den Olymp von Donnerschlägen erheben, goß Wolken rings um die Berge und hüllte Meer und Land in Finsternis. Hierauf schickte sie ihre Botin Iris zu Aiolos hinab, dorthin, wo in den Abgründen der Erde die Höhle der Winde sich befindet, an welche die Wohnung des Aiolos stößt. Der Fürst der Stürme vernahm…«
Nachdenklich kratzte sich Philippos seinen kurzgeschorenen Bart. Er kannte diesen Text. Er stammte aus dem letzten Buch von Homers Ilias. Es war die Stelle, an der die heimkehrenden Griechen der Zorn der Athene traf, weil der Lokrer Aias die schöne troische Seherin Kassandra vom Altar der Athene hinweggezerrt hatte, um ihr Gewalt anzutun. Dabei war das Bildnis der Göttin zu Boden gestürzt. Es hieß, daß Kassandra in ihrer Jugend eine für ihre Keuschheit berühmte Priesterin des Apollon war. Gab es hier eine Verbindung zum Tod des Buphagos? Hatte der vorgeblich so langweilige Mundschenk vielleicht ein heimliches Verhältnis zu einer der Artemispriesterinnen unterhalten? Nachdenklich rollte der Arzt das Pergament zusammen und schob es sich in den Gürtel.
Würde ein Mann, der genau wußte, daß man ihn für den Umgang mit einer Priesterin mit dem Tod bestrafen würde, einen so verräterischen Text offen herumliegen lassen? So leichtfertig würde doch niemand sein, der seine Sinne noch beieinander hatte! Aber waren Verliebte noch bei Sinnen? Nachdenklich setzte der Arzt die Durchsuchung des Zimmers fort. An der Wand links von der Tür stand eine mit schönen Schnitzereien versehene Truhe. Der einzige Ort, an dem man in dieser winzigen, übersichtlichen Kammer etwas verstecken konnte. Der Deckel knirschte leise, als Philippos ihn öffnete, und ein Duft nach Zedern und Wacholder schlug ihm entgegen. In der Truhe lagen einige ordentlich gefaltete Gewänder, an denen noch der Geruch der Öle haftete, mit denen sich Buphagos zu Lebzeiten gesalbt hatte. Vorsichtig hob der Grieche die Gewänder aus der Truhe und stapelte sie neben sich auf dem Boden. Ganz zu unterst fand er einen Papyrusbogen, der um einen mit Löwenköpfen geschmückten Holzstab gewickelt war. Hatte er gefunden, was er suchte?
Vor Erregung zitterten die Finger des Arztes, als er die purpurne Wollschnur löste, die die Schriftrolle zusammenhielt. Um so größer war seine Enttäuschung, als er auf dem Papyrus nichts als eine Auflistung von Möbeln, Stoffen, Schmuck und Salbölen fand. Wieder nichts! Verdrossen rollte Philippos den Papyrus zusammen, legte ihn in die Truhe zurück und stapelte die Kleider wieder darüber. Was war das für ein Mann, dessen größtes Geheimnis eine langweilige Liste von Tributgeschenken an den Pharao war!
Ziellos schweiften die Blicke des Griechen durch das Zimmer. Dicht neben dem Fenster, an der Wand gegenüber der Tür, stand ein Tisch, auf dem ordentlich aufgereiht die Schminkutensilien des Toten verteilt waren. Philippos schlenderte hinüber und betrachtete kopfschüttelnd die kleinen Töpfchen und Tiegel. Was für merkwürdige Gefäße! Der Arzt griff nach einer kleinen Holzstatue, die einen knienden Sklaven im Lendenschurz zeigte. Auf dem Rücken trug der Mann einen riesigen Korb, der sich mit einem hölzernen Deckel verschließen ließ. Neugierig schob der Grieche den Deckel zur Seite. Eine schwarzsilberne Salbe glänzte darunter. Das Zeug, das sich diese ägyptischen Narren unter die Augen strichen.
Philippos verschloß das Gefäß wieder und stellte es auf den Tisch zurück. Dicht daneben lag eine schwarze Schieferpalette, die mit Kranichköpfen verziert war. Ein kleiner Rest von grüner Paste klebte in einem Winkel der Palette. Hinter ihr stand ein geöffnetes Holzkästchen, aus dem drei schlanke Alabasterphiolen ragten. Vermutlich Behältnisse für Duftöl. In einer flachen Schale aus Bronze lagen zwei fingerdicke, rötliche Stifte. Sie waren aus Bienenwachs und rotem Ocker, der Farbe, die die Ägypter für Wangen und Lippen verwendeten. Daneben waren einige Spatel und langstielige Löffel aus Elfenbein sauber nebeneinander aufgereiht. Instrumente, die man zum Anrühren und Auftragen der Schminken brauchte. Alle Gefäße überragend stand mitten auf dem Tisch ein Handspiegel. Sein Griff, der in einen breiten Sockel mündete, zeigte eine fein modellierte Frauengestalt in einem langen, vor der Brust verknoteten, Gewand. Zwischen den langen Haaren der Gestalt wuchsen seltsame Tierohren hervor, und ein Hörnerpaar umrahmte die große, leicht ovale Silberscheibe, die aus dem Haupt der Frau wuchs.
Philippos betrachtete sein Antlitz in dem polierten Silber. Die grauen Haare an seinen Schläfen waren dichter geworden, seit er zum letzten Mal in einen Spiegel geblickt hatte. Vielleicht sollte er sie färben? Sie machten einen alten Mann aus ihm. Der Metallgriff des Spiegels lag kalt in der Hand des Griechen. Diese Ägypter! Alle ihre Götter hatten irgend etwas von Tieren an sich. Was für ein merkwürdiges Volk! Philippos spreizte seinen Daumen zur Seite und blickte der Götterfigur ins Gesicht. Tierohren… Sein Atem stockte. Jetzt, von nahem, erkannte er, aus welchem Metall der Griff gefertigt war. Es war keine polierte Bronze, wie er zuerst angenommen hatte, sondern lauteres Gold! Erschrocken stellte er den Spiegel auf den Tisch zurück. Woher beim Zeus hatte Buphagos das Geld, sich einen solchen Spiegel zu leisten?
Ein Geräusch an der Tür ließ Philippos herumfahren. Eine schlanke, junge Frau war in das Zimmer getreten. Philippos kannte sie nur zu gut. Thais, die einflußreichste Dame am Hof des Ptolemaios. Auf Wunsch des Königs mußte sie mit allen Ehren behandelt werden, doch war sie in den Augen des Griechen nichts weiter als eine Hetaire. Niemand wußte, woher sie kam, und sie selbst hatte mindestens ein Dutzend widersprechender Gerüchte über ihre Herkunft verbreitet. Soweit Philippos wußte, war sie vor der Flucht aus Alexandria an den Hof des Königs gekommen und hatte mit ihrem kunstfertigen Flötenspiel seine Gunst errungen. Wie Aspasia, die einst das Herz des Perikles gewonnen hatte, so verstand sich auch Thais durchaus auf mehr als nur die Künste der Liebe. Trotz ihrer Jugend war sie erstaunlich gebildet, kannte die Schriften der Philosophen, beherrschte mehrere Sprachen und Instrumente und war ein steter Quell der Kurzweil. Doch obwohl sie nicht allein dem König ihre Zuneigung schenkte, hatte sie sich Philippos bislang immer verweigert.
Thais schien einen Augenblick lang nicht minder überrascht als er zu sein. Dann hoben sich drohend ihre Augenbrauen.
»Bist du hierhergekommen, um einen Toten zu bestehlen?«
»Du solltest nicht von dir auf andere schließen, schöne Tochter der Nacht«, entgegnete Philippos. »Darf ich erfahren, was mir die Ehre verschafft, dir hier zu begegnen?«
»Allein die Tatsache, daß ich nicht um deine Anwesenheit wußte, alter Bock. Ich hoffe für dich, daß du dich nicht zu irgendwelchen Dummheiten hinreißen läßt. Ich weiß sehr wohl, was Buphagos in seinem Zimmer verwahrte, und wie ich sehe, hast du seinen Homer bereits an dich genommen.«
Philippos räusperte sich. »Ich bin im Auftrag des Königs hier. Ich soll mich um die…«
»Im Auftrag des Neuen Osiris?« Thais lachte schallend. »Du solltest nicht Götter in deine Lügen verstricken, Grieche. Ich selbst habe den ganzen Morgen an der Seite des Göttlichen verbracht. Hätte er dir irgend etwas befohlen, ich wüßte es!«
»Meine Befehle sind von gestern abend.« Philippos spürte kalten Angstschweiß seinen Nacken hinunterrinnen. Es war wirklich nicht klug gewesen, sich auf Ptolemaios zu berufen. Dieses kleine Flittchen hatte zu viel Einfluß auf den Herrscher, und es wäre ihr ein leichtes, seine Lügen aufzudecken. Die Hetaire lächelte böse. »Gestern abend? Wir werden sehen, ob der Neue Osiris sich erinnert. Er ist ein Gott, und Götter vergessen nichts!«
Der Arzt zuckte mit den Schultern und versuchte, möglichst gelassen zu wirken. »Frage ihn ruhig nach mir. Übrigens schätze ich, daß ihn deine Anwesenheit hier nicht minder interessieren wird als die meine. Was macht eine Frau mit deinem Ruf im Zimmer eines Toten? An einem Ort also, an den sich kaum jemand freiwillig begeben wird. Könnte es sein, daß schon bald noch jemand durch diese Türe treten wird? Einen ungestörteren Ort dürfte es innerhalb der Mauern dieser Villa kaum geben.«
»Du interessierst dich eindeutig zu sehr für Dinge, die nicht die Sache eines Arztes sind, Philippos! Wenn du darauf bestehst, können wir gerne hier warten, und du wirst sehen, wie wenig Wahrheit in deinen ehrlosen Unterstellungen liegt. Übrigens, stimmt es, was man sich von dir erzählt? Teilen Frauen wirklich nur noch dann mit dir das Lager, wenn du ihnen Geld dafür bietest?«
Philippos errötete. Dieses Weib hatte eine Zunge wie ein Gladius! Er durfte sich jetzt keine Blöße geben! Mit Mühe zwang er sich zu einem Lächeln. »Ich denke, diese Geschichten sind genauso wahr wie das, was man sich über dich erzählt. Oder stimmt es etwa, daß du dich vor ein paar Tagen, auf Wunsch unseres göttlichen Königs, so wie Europa den Liebesbezeugungen eines Stieres hingegeben hast?« Natürlich war die Geschichte erfunden, doch war der Grieche sicher, daß man sie, in Anbetracht all der anderen Gerüchte, die um die Hetaire kursierten, bei Hof begierig aufnehmen würde.
»Hüte deine Zunge, du Bock! Wen mein Zorn trifft, den ereilt schon bald die Strafe des Gottes. Außerdem, wer sollte schon deinen verrückten Geschichten Glauben schenken?«
»Mag sein, daß man mir nicht glaubt. Vor allem der König wird wissen, was die Wahrheit ist und nicht. Doch womöglich bringe ich ihn mit meiner Geschichte auf eine Idee. Du weißt doch, wie aufgeschlossen er allem Neuen gegenüber ist? Vielleicht würde es ihm ja wirklich gefallen, dich in der Rolle der Europa zu sehen. Auch wenn man dir nachsagt, du seiest in deinen Künsten sehr bewandert, so bist du doch nur eine Hetaire, und Frauen wie dich findet ein König und Gott jederzeit aufs neue. Ich meine nur, falls du einen Unfall mit dem Stier erleiden solltest… Übrigens kannst du dich natürlich darauf verlassen, daß ich unseren Streit längst vergessen haben werde, wenn du nach deinem Abenteuer als Europa einen Arzt brauchen solltest.«
Thais erbleichte. Einen Augenblick lang herrschte beklommenes Schweigen zwischen ihnen. Dann warf sie ihm aus ihren großen, dunklen Augen einen Blick zu, als sei sie so rein und unschuldig wie die Artemispriesterinnen. »Ich denke, du bist der am meisten unterschätzte Mann am Hof des Pharaos. Es wäre töricht, wenn wir beide uns im Streit trennen würden. Vielleicht sollten wir erwägen, uns bei etwas gemeinsamer Zerstreuung besser kennenzulernen?«
Der Grieche räusperte sich. Dieser Blick! Ihm wurde ganz anders. »Was mich angeht, so lege ich wesentlich mehr Wert darauf, mit dir in Freundschaft und mehr verbunden zu sein, als mit dir eine Fehde auszufechten, bei der wir nur beide verlieren können.«
»Du sprichst mit der Weisheit eines Philosophen. Gerne würde ich noch weiter mit dir plaudern, doch meine Pflicht ruft mich zurück in die Gemächer des Pharaos.« Mit einer knappen Verneigung verschwand Thais durch die Tür. Ob sie ihn wirklich in Frieden lassen würde? Sie hatte ihm nicht einmal gesagt, weshalb sie hierher gekommen war! Resignierend blickte sich Philippos noch einmal im Zimmer des Toten um. Es gab einfach nichts, was ihm weiterhelfen konnte. Das einzige, was nicht recht in das Bild des biederen Hofbeamten paßte, war die Tatsache, daß die Hetaire des Königs offenbar Interesse an den privaten Dingen des Mundschenks hatte. Oder war sie wirklich nur gekommen, um zu stehlen?
Noch einmal durchsuchte der Grieche gründlich das Zimmer, aber er entdeckte nichts Neues. Jetzt blieben nur noch die Haussklaven, die vielleicht gesehen haben mochten, was Buphagos getan hatte, als er am Vortag kurz vor dem Eintreffen der Prozession noch einmal in die Villa zurückgeeilt war. Außerdem sollte er Thais noch einmal befragen. Es waren gewiß nicht allein melancholische Gedanken an einen aufrechten Toten, die sie in das Zimmer des Mundschenks geführt hatten.
Samu sah den Vögeln zu, die im Atrium des Hauses der Hohepriesterin durch das flache Wasser des Impluviums hüpften. Fast wie spielende Kinder tollten sie herum und tauchten die Flügel ins Wasser, so daß es schien, als wollten sie sich gegenseitig naßspritzen.
»Ein Bild des Friedens, nicht wahr?«
Die Isispriesterin blickte ungläubig in das verhärmte Gesicht des Eunuchen Potheinos. Es war kein halbes Jahr her, daß er ihren Tod gewünscht hatte, und jetzt sprach er zu ihr von Bildern des Friedens. Potheinos hatte den Kopf auf seine Hände gestützt und schaute unverwandt zu dem Becken.
»Ich weiß, daß du mir nicht glauben wirst, Samu, doch ich habe mit dem Tod des Mundschenks nichts zu tun. Ich weiß so wenig wie du, und mein einziges Interesse ist es, Unheil vom Neuen Osiris und den Seinen abzuwenden.«
Die Priesterin wußte nicht, was sie sagen sollte. Schweigend blickten sie zu den Vögeln, die ihr nasses Gefieder der Sonne entgegen reckten. Wie es wohl wäre, ein Vogel zu sein und frei durch die endlosen Weiten des Himmels zu reisen. Samu legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den breiten, dunklen Wolkenbänken, die sich vor die sengende Mittagssonne geschoben hatten. Frei! Als Vogel wäre ihre einzige Sorge der Falke, der vom Himmel herabstieß. Doch hier… Sie wußte nicht, wer in dieser fremden Stadt ihr Freund und wer ihr Feind war. Nicht einmal am Hofstaat vermochte sie, zwischen beidem zu unterscheiden. Wie konnte dieser Mann von Frieden sprechen? Sie wußte, daß er in die Intrigen der Verräterin Berenike eingeweiht war. Die Prinzessin war nicht davor zurückgeschreckt, ihren eigenen Vater vom Thron zu vertreiben und schon nach wenigen Monaten gemeinsamer Herrschaft ihre Schwester Kleopatra Tryphaina ermorden zu lassen. Und Potheinos? In Italien hatte er den Tod vieler Menschen in Kauf genommen, um es Ptolemaios unmöglich zu machen, mit Hilfe römischer Waffen wieder an die Macht zu kommen.
Nervös trommelten die Finger des Eunuchen auf die glatte Marmorbank. »Was sie wohl so lange besprechen? Sie müssen doch schon über eine Stunde dort drinnen sein. Meinst du, die Epheser wollen uns wegen dieser dummen Sache vertreiben?«
»Sprichst du von der dummen Sache mit dem Kopf des Mundschenks?«
»Wie meinst du das, Priesterin? Was weiß ich schon von den Bräuchen fremder Götter! Sie haben den Toten bestraft, so wie es auch die Große Schlingerin getan hätte.« Potheinos sah zu Samu herüber. Sein Blick war wie die glühenden Kohlen eines Feuerbeckens. Brennender Haß lag in seinen Augen. Ob er wohl glaubte, daß das, was ihm an Männlichkeit fehlte, durch Macht ersetzt werden könnte?
»Falls jemand anderer als Thanatos seine Hand an den Mundschenk gelegt hat, so könnte dies für uns alle schreckliche Folgen haben. Man muß kein Ränkeschmied bei Hof sein, um zu erkennen, wie gelegen das ungewöhnliche Eingreifen des Gottes dem Neuen Osiris gekommen ist.«
»Willst du damit andeuten…« Von einem Augenblick zum anderen war das Gesicht des Eunuchen zu einer leblosen Maske erstarrt. Er verneigte sich und murmelte unterwürfig: »Ich grüße Euch, Göttlicher.«
Ptolemaios war ins Atrium getreten, und auch Samu verbeugte sich jetzt vor dem Pharao. Hinter dem Herrscher war die zarte Gestalt der Hohepriesterin zu sehen. Sie war ungewöhnlich klein und wirkte zerbrechlich wie eine schlanke Statue. Sie mochte vielleicht fünfunddreißig Sommer gesehen haben und erschien Samu sehr jung für das wichtige Amt, das ihr die Göttin übertragen hatte.
Wortlos durchquerte der Pharao den Hof. Der Eunuch und die Priesterin folgten ihm. Erst als sie das Haus der Hohepriesterin verlassen hatten, machte der Herrscher schnaubend seiner Wut Luft. »Sie hat uns gewarnt! Uns, einen König und Gott! Wir sollen das Gelände des Artemisions nicht verlassen, weil sie sonst nicht für unsere Sicherheit garantieren kann. Das gleiche gilt auch für euch und alle anderen Mitglieder des Hofstaates. Bei Serapis, was hält das Schicksal noch für Schläge für uns bereit? Wir, der rechtmäßige Herrscher beider Ägypten, sind eingesperrt und der Gnade eines Weibes ausgeliefert! Dabei haben meine Ahnen einst sogar über diese stolze Stadt geherrscht.«
»Sollen wir Ephesos verlassen und an einem anderen Ort Asyl suchen, Göttlicher?«
Der Herrscher blieb stehen und hob seine Hände zum Himmel.
»An einen anderen Ort gehen? Wohin denn? Wo sind wir denn vor den Meuchlern unserer treulosen Tochter sicher? Selbst die Götter haben sich doch gegen uns verschworen. So wie die Dinge stehen, wäre es sogar gefährlich, vom Artemision bis zum Hafen zu gehen. Die Hohepriesterin behauptet, das Volk der Stadt sei außer sich wegen des Frevels, den Buphagos begangen hat, als er die Prozession störte. Diese Priesterin hat die Orakel befragt und glaubt nicht, daß die Göttin es war, die den Mundschenk gerichtet hat. Zu guter Letzt glaubte uns dieses respektlose Weib sogar die Warnung mit auf den Weg geben zu müssen, dafür zu sorgen, daß die Machtkämpfe des Hofes nicht an diesem heiligen Ort ausgetragen werden sollen. Angeblich würden wir das Asylrecht der Göttin durch unser schändliches Treiben verhöhnen. Was denkst du dazu, Potheinos? Gibt es jemanden, der das Asylrecht verletzt und weitere Morde plant?« Die Stimme des Pharao hatte bei den letzten beiden Sätzen einen drohenden Ton angenommen.
»Nein, Göttlicher! Es war Artemis, die den Frevler gerichtet hat. Daran kann nicht der mindeste Zweifel bestehen.«
»Und Thanatos?« Samu blickte von einem zum anderen. Die beiden Männer schwiegen. Schließlich machte der Pharao eine wegwerfende Geste. »Was wissen wir schon von den Göttern dieses Landes. Du bist Priesterin, Samu. Es ist deine Aufgabe, dich um uns zu kümmern. Wenn du glaubst, wir sind durch Thanatos in Gefahr, dann rufe Isis zu unserem Schutz an!«
»Die Zauberreiche beschützt nur jene, die ihr Respekt erweisen. Einen Gott zu verhöhnen, ist eine gefährliche Sache. Ich hoffe, Ihr wißt dies, Göttlicher.«
Ptolemaios schnaubte verächtlich. »Wir sind selbst ein Gott, Sterbliche. Vergiß das nicht! Für uns gelten deine Gesetze nicht!«
Dunkle Wolken verfinsterten den Himmel. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es zu regnen anfing. Die drei beschleunigten ihre Schritte, während von der See her Donnergrollen ertönte.