Читать книгу Der Tempelmord - Бернхард Хеннен - Страница 7
3. KAPITEL
ОглавлениеMit klammen Fingern hielt Philippos den warmen Wollumhang, den er um die Schultern geschlungen hatte. Er atmete tief die kühle Meeresluft ein. Es war leicht gewesen, die Tempelwachen zu täuschen. Das war bisher sein einziger Erfolg an diesem lausigen Tag. Sie hatten ihn für einen Römer oder Griechen gehalten. Jedenfalls wurde er nicht mit den Höflingen des Ptolemaios in Verbindung gebracht und hatte ungehindert den Asylbezirk des Artemisions verlassen können.
Den ganzen Tag über hatte eine gedrückte Stimmung auf der Villa gelastet. Die Sache mit der Enthauptung des Mundschenks machte den meisten Höflingen angst. Man hörte kein Lachen mehr im Palast. Die Sklaven schlichen mit gesenktem Haupt durch die langen Flure. Selbst das lautstarke Lärmen der Prinzessin und ihrer Brüder war verstummt. Philippos hätte nicht gedacht, daß er es eines Tages einmal vermissen würde. Die Nachforschungen über Buphagos hatten keinen Hinweis auf eine Verschwörung ergeben. Der eitle Kerl war nur deshalb in den Palast zurückgekehrt, um seine verwischte Schminke zu erneuern. Eine Sklavin hatte ihm dabei geholfen. Danach war er sofort wieder zu den Stufen des Artemisions zurückgeeilt.
Philippos trat gegen einen Stein, der ein Stück weit über die schlammige Straße hüpfte und dann leise platschend in einer Pfütze verschwand. Was hatte er auch von einem Langeweiler wie Buphagos anderes erwarten sollen? Es gab zwar Gerüchte, er habe eine Affäre mit Thais gehabt, doch ähnliche Geschichten erzählte man sich über jeden zweiten Mann bei Hof. Dem nachzugehen wäre reine Zeitverschwendung.
Überhaupt war der Arzt froh, wenn er dieser arroganten, kleinen Hetaire in nächster Zeit nicht mehr begegnen mußte. Er hatte ihre Worte noch nicht vergessen, und sie brannten in seinem Herzen wie Salz in einer offenen Wunde. Heute nacht würde er sich beweisen, daß es noch mehr als genug Frauen gab, die mit Freuden sein Lager teilten.
Mit langen Schritten eilte er die Straße entlang, bis sich vor ihm der gewaltige Schatten des Koressischen Tores erhob. Auf dem Wehrgang neben der Toranlage flackerte das Licht einer einsamen Fackel. Die schweren, bronzebeschlagenen Flügel des Stadttores waren verschlossen. Philippos trat mit seinen genagelten Caligae gegen die dicken Holzbohlen. Dumpf hallte der Klang seiner Tritte im Torgewölbe wider.
Eine Böe traf den Arzt von hinten, zerrte an seinen Kleidern und brachte ihn fast aus dem Gleichgewicht. Gehetzt blickte Philippos über seine Schulter. In Nächten wie diesen waren die Erinnyen auf der Jagd. Das Wetter war viel zu schlecht für diese Jahreszeit. Die Götter zürnten!
Eine kleine Pforte öffnete sich im Tor, und undeutlich erkannte Philippos ein ovales, blasses Gesicht. »Was willst du hier nach Sonnenuntergang, Fremder?«
»Den Sold eines Torwächters aufbessern und ein paar Stunden dieser gräßlichen Nacht an die zarte, warme Haut einer jungen Hetaire geschmiegt verbringen.« Der Arzt zog eine Kupfermünze aus dem Geldbeutel an seinem Gürtel und reichte sie dem Soldaten. Das Gesicht verschwand. Hinter den dicken Torbohlen erklang ein knirschendes Geräusch. Dann öffnete sich eine kleine Mannpforte, und der Wächter winkte Philippos herein.
»Wenn du gehst, mußt du noch einmal zahlen.«
»Du willst wohl als reicher Mann sterben!«
Der blasse Soldat spuckte gegen die dunkle Wand des Torgewölbes. »Unsinn! Ich habe die Hälfte meiner Einnahmen an den Hauptmann der Wache abzuführen. Ein Kupferstück kann man schlecht teilen. Wenn du wiederkommst, wirst du noch einmal zahlen.«
»Und wenn ich bis zum Morgengrauen warte?«
Der Soldat lachte heiser. »Du kommst doch vom Tempel. Ich kenne deinesgleichen. Ihr wollt immer vor Morgengrauen wieder im Heiligtum sein, um so zu tun, als hättet ihr die ganze Nacht euer Lager nicht verlassen. Mach mir also nichts vor, Mann.« Das Gelächter des Wächters im Rücken machte Philippos sich davon: Dieser Bastard kannte seine Kunden!
Ärgerlich vor sich hinbrummend durchquerte er das Torgewölbe, folgte dem langen Bau des Stadions und bog dann nach links ab. Hier hatten die mächtigen Handelsherren der Stadt ihre Villen errichtet. Prächtige Häuser mit reich gegliederten, marmornen Fassaden, in denen jetzt Tausende unheilverkündender Schatten zu nisten schienen. Philippos mußte an die Geschichte des Thanatos denken, die man sich überall erzählte, wie er als Marmorbild zum Leichnam des Mundschenks geflogen war. Auch hier gab es überall marmornes Schmuckwerk. Flache Reliefs an Giebeln, die Götter und Heroen zeigten. Nervös blickte Philippos über seine Schultern. Der Wind fing sich an Säulenvorsprüngen und Schmuckgiebeln. Allenthalben war ein Pfeifen und Heulen zu ’hören, als hätten sich die Pforten des Hades geöffnet.
Der Grieche beschleunigte noch einmal seinen Schritt. Fast schon laufend eilte er die Straße entlang, bis er das große, aus dem Felsen gehauene Theater erreichte. Dort bog er auf die lange, gerade Hafenstraße ab. Hier waren Menschen! Gelbes Licht leuchtete durch die Ritzen hölzerner Fensterläden. Hier und da huschte ein später Gast dicht an die Häuserwände gedrückt von einer Taverne in die nächste.
Keuchend verharrte der Arzt, um wieder zu Atem zu kommen. Was für ein Bild wäre es auch, wenn er hechelnd in der Tür seiner Gespielin für diese Nacht auftauchen würde.
Als er sich wieder gefaßt hatte, schlenderte Philippos gelassen die Straße hinab. Es gab Dutzende Läden aller Art, die ihre Auslagen längst geräumt und mit Holzläden geschlossen hatten. Jedes dritte oder vierte Haus aber beherbergte eine Schenke oder ein Bordell. Zielsicher strebte der Grieche auf jenes große Haus in der Mitte der Straße zu, das er so gut kannte. Im Erdgeschoß gab es dort einen Bäcker, der sich auf die Herstellung sehr ausgefallener Köstlichkeiten spezialisiert hatte. Brote, die aussahen wie ein Phallos, oder auch Törtchen, die in ihrer Form weiblichen Brüsten nachempfunden waren. Eine schmale Holzstiege führte zum ersten Geschoß hinauf, wo entlang eines Säulenganges sechs Zimmerchen lagen, in denen erlesene Hetairen ihren Beruf ausübten. An warmen Tagen standen sie oft in ihren durchscheinenden, safranfarbenen Gewändern in den Türen, so daß man sie von der Straße aus gut sehen konnte. Jetzt jedoch waren alle Türen verschlossen.
Mit einem Stoßgebet zu Dionysos auf den Lippen, erklomm Philippos die Stiege. Hoffentlich hatte Neaira keinen Besuch. Sie und keine andere wollte er in dieser Nacht!
Über den Türen hingen kleine Laternen. Sie beleuchteten die Namen der Freudenmädchen, die in geschwungenen roten Buchstaben auf den Türsturz gemalt waren. Daneben standen auch jeweils die Preise, die von den Liebesdienerinnen für die Erfüllung der verschiedensten Wünsche verlangt wurden. Im Vorbeigehen las der Grieche die Namen. Aspasia, Phryne, Lais… Sie alle waren schöne Frauen, doch keine von ihnen reichte an Neaira heran.
Philippos dachte an den lauen Nachmittag vor ein paar Wochen, als er Neaira zum ersten Mal gesehen hatte. Es war wie eine Vision gewesen. Wie vom Schlag gerührt war er stehengebbeben und hatte zu ihr hinaufgestarrt, bis sie ihm schließlich zuwinkte. Die zarte Thrakerin erinnerte ihn an Daphne, die Tochter des Amphorenhändlers, die er seine ganze Jugend hindurch angebetet hatte. Doch als Sohn eines armen Töpfers war er bei ihrem Vater nie gerne gesehen gewesen. Der Arzt seufzte leise. Er hatte gemeint, daß Daphne seine Gefühle erwidert hatte. Trotzdem hatte sie den dicken Weinhändler geheiratet, den ihr Vater für sie aussuchte. Sie war der Grund dafür gewesen, daß er zur Legion gegangen war. Er hatte es in Athen nicht mehr ausgehalten. Sie in den Armen dieses geilen, fettbäuchigen Silens zu wissen, das war ihm unerträglich gewesen.
Mehr als zwanzig Jahre waren seitdem vergangen. Längst hatte er die Erinnerung an Daphne in seinem Herzen begraben, bis hin zu jenem Nachmittag, an dem er Neaira begegnet war. Sie war Daphne wie aus dem Gesicht geschnitten.
Zögernd lauschte der Arzt an der Tür der Hetaire. Dionysos schien ihn erhört zu haben! Es war still! Er klopfte und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Neaira kauerte mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl, vor dem ein flaches Feuerbecken stand. Ein Windstoß wehte durch die offene Tür und ließ die Kohlen aufglühen.
»Sperr die Aiolosboten aus, mir ist kalt«, murmelte die Thrakerin verdrossen. Philippos gehorchte. Bewundernd glitt sein Blick über die schlanken Glieder der Hetaire. Sie trug einen safranfarbenen Chiton, dessen warmes Gelb das Licht des Sommers eingefangen zu haben schien. Um die Schultern hatte sie ein leuchtend rotes Himation geschlungen. Der Umhang war aus dicker Wolle gefertigt und reichte, so wie sie auf dem Stuhl kauerte, bis zum Boden hinab. Das gelbe Untergewand jedoch war knapp geschnitten, bedeckte kaum die Hälfte ihrer Schenkel und war so zart und durchscheinend, als sei es nicht aus Leinen, sondern aus Sonnenstrahlen gewoben.
Das schmale Gesicht der Hetaire war von dunklen, bis zu den Schultern herabfallenden Locken gerahmt. Das übrige Haar hatte sie kunstvoll hochgesteckt und mit roten Bändern umschlungen.
Überall im Zimmer waren kleine Öllämpchen aufgestellt. Gemeinsam mit der Feuerschale verbreiteten sie eine schwüle Hitze in dem kleinen Zimmer, dessen Wandmalereien ausschweifende Liebesszenen zwischen bocksbeinigen Satyrn und Nymphen zeigten.
Draußen rannte eine Sturmböe gegen das Haus an, und ein eisiger Luftzug wehte durch den Spalt unter der Tür herein. Zitternd zog Neaira das Himation enger um die Schultern. »Du bist der erste, der mich in dieser Nacht besucht, Philippos. Man munkelt, daß die Götter wegen des ägyptischen Frevlers erzürnt seien und daß Zeus den Sturm geschickt hat, um uns zu warnen.«
Philippos ließ seinen Umhang von der Schulter gleiten und strich sich durch das zerzauste Haar. »Ich weiß nicht, vielleicht ist es auch einfach nur ein Sturm, und morgen scheint wieder die Sonne.«
Neaira nickte. »Hoffentlich hast du recht!« Ihre großen, dunklen Augen ruhten auf ihm. »Du begibst dich in Gefahr, wenn du mich besuchst. Die Gefolgsleute des Ptolemaios sind zur Zeit in der Stadt nicht gerne gesehen.«
Der Arzt lächelte. »Ich denke, ich sehe nicht gerade aus wie ein Ägypter. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen. Und was den Zorn der Götter angeht… Komm in meine Arme, und du wirst ihn vergessen.« Philippos trat an die breite, gut gepolsterte Kline der Hetaire und ließ sich darauf nieder. Er löste den Gürtel mit dem Geldbeutel daran und hängte ihn über das Lager.
»Hast du Zeit?«
Der Arzt lächelte. »Viel Zeit…«
»Gut.« Neaira warf ihm einen scheuen Blick zu. Vorsichtig schob sie das Kohlenbecken dichter an die Kline heran. »Ich möchte, daß du mich zuerst einfach nur in die Arme nimmst. Ich weiß, daß du nicht wirklich mich liebst, sondern daß du zu mir kommst, weil ich deiner Daphne ähnlich sehe. Sei in dieser Nacht so zu mir, wie du zu ihr gewesen wärst, wenn du sie hättest trösten wollen. Sei zärtlich und…«
Philippos legte den Finger auf seine Lippen und gebot ihr zu schweigen. Dann winkte er Neaira zu sich. Die Hetaire ließ das Himation von ihrer Schulter gleiten und erhob sich. Die Spitzen ihre Brüste zeichneten sich dunkel unter dem Stoff des Chiton ab. Anders als die Barbarenweiber und Sklavenmädchen der Legionsbordelle war sie rasiert. Kein dunkles Haar verunzierte ihre Kteis, wucherte unter ihren Achseln oder auf ihren schlanken Beinen. »Komm zu mir, meine Geliebte.«
Neaira streifte den Chiton ab. Sie trug jetzt nur noch ihre silbernen Armreife und ein schmales, rotes Lederband, das um ihren linken Oberschenkel geschlungen war. Daran baumelte ein flaches Elfenbeinamulett, halb so groß wie ein Frauenfinger, das einen erigierten Phallos zeigte. Philippos lächelte. Das Amulett würde den Segen der Aphrodite beschwören, wenn sie beieinanderlagen, und verhindern, daß seine Kraft vor der Zeit erlahmte.
Er schloß sie in seine Arme und zog Neaira zu sich auf das Lager herab. In ihren Armen konnte er die Welt vergessen. Es war, als hätte es die zwanzig Jahre bei der Legion nicht gegeben. Noch einmal war er der verliebte Jüngling, der die unerreichbare Tochter des Amphorenhändlers anbetete.
Neairas hochgesteckte Haare hatten sich gelöst und strichen ihm durchs Gesicht. Sie dufteten nach Myrte, dem Kräuteröl, das auch die Göttin Aphrodite bevorzugte. Philippos’ Finger gruben sich in das lange Haar der Hetaire, streichelten ihre blassen Wangen und glitten dann tiefer zu ihren straffen Brüsten. Seine Lippen suchten die ihren. Sie waren rot wie frisch vergossenes Blut. Gierig tastete seine Zunge nach ihren Lippen. Sie schmeckten noch nach dem Maulbeersaft, den sie zum Färben benutzt hatte.
Ihre schlanken Finger fanden ihren Weg unter den Saum seiner Tunica und glitten über seine Schenkel langsam höher. Philippos stöhnte vor Lust. Ungeschickt mühte er sich, das lästige Kleidungsstück loszuwerden, bis Neaira ihm schließlich half, die Tunica über seinen Kopf zu streifen.
Sie ließ sich auf seinem Schoß nieder. Ihre Finger strichen ihm zärtlich durch den Bart, doch ihr Blick wirkte plötzlich traurig.
Philippos hielt inne. »Was ist mit dir, meine zarte Nymphe?«
Sie lächelte verlegen. »Nichts. Ich dachte nur…« Sie schüttelte den Kopf. »Wirst du mir einen Wunsch erfüllen?«
»Was immer du willst! Du bist mein schönster Traum, das Licht meines Lebens… Was immer du wünschst, ich werde es dir erfüllen.«
»Dann nenne mich Daphne, solange ich in deinen Armen liege.«
»Aber, was soll…«
Neaira strich ihm über die Lippen. »Wirst du mir meinen Wunsch erfüllen?«
Philippos fing ihre Fingerspitzen mit den Lippen ein und hauchte leise: »Ja, meine Liebste… Daphne.«
Samu war schon fast eingeschlafen, als ein scharrendes Geräusch sie aufhorchen ließ. Draußen tobte der Sturm mit unverminderter Wut. Pfeifend strich der Wind um die prächtige Villa, und irgendwo in der Finsternis erklang das Schaben von dürren Ästen, die über einen der hölzernen Fensterläden schrammten. Hatte sie sich getäuscht? War es nur der Sturmwind gewesen, den sie gehört hatte?
Angestrengt versuchte sie, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Sie hätte das Öllämpchen neben ihrer Kline nicht löschen dürfen! Da war das Geräusch wieder, und jetzt wußte sie auch, was es war! Jemand hatte die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet und nach einem Moment des Verharrens leise wieder geschlossen.
»Wer ist dort?« Samu versuchte, ihrer Stimme einen unerschrockenen, fordernden Klang zu geben, was kläglich mißlang. Es hörte sich mehr wie das heisere Krächzen eines Geiers an. Ihr Mund war staubtrocken.
»Ich, Batis«, ertönte es aus der Finsternis.
Der Priesterin schlug das Herz bis zum Hals. Der Leibwächter des Pharaos! Sollte Philippos mit seinen düsteren Prophezeiungen etwa recht behalten? War der Nubier gekommen, um sie auf Befehl des Neuen Osiris zu ermorden, weil ihre aufrührerischen Reden dem Pharao lästig geworden waren?
»Du mußt mir helfen, Priesterin.«
»Helfen?« Samu hatte sich halb auf ihrem Lager aufgerichtet und drückte sich ängstlich gegen die Wand. Sie traute dem Krieger nicht und überlegte fieberhaft, wie sie aus dem Zimmer entkommen könnte.
»Du bist die einzige…« Die Läden am Fenster des Zimmers klapperten leise. Von draußen kratzten Aste über das Holz.
»Er ist hier!« Batis’ Stimme verstieg sich in schrille Höhen, so daß er jetzt fast wie ein aufgeregter Eunuch klang. »Hörst du es auch?«
»Wer ist hier?« Die Priesterin versuchte vergeblich, den Nubier in der Finsternis auszumachen, bis sich plötzlich etwas Schweres auf ihre Kline niederließ. Ein unangenehmer, süßlicher Geruch lag jetzt in der Luft. Leichengeruch! Eisige Schauer jagten Samu den Rücken hinunter. Was geschah hier?
»Nur du kannst mir noch helfen, Priesterin«, wimmerte der Krieger leise. »Ich weiß nicht, wie ich ihm entkommen soll!«
»Wem, verdammt nochmal! Von wem sprichst du?« Langsam hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie erkannte die massige Gestalt des Nubiers. Batis beugte sich jetzt weiter zu ihr vor. Gleichzeitig wurde der Leichengeruch noch intensiver.
»Er«, flüsterte der Nubier leise, und die Priesterin spürte seinen warmen Atem auf ihrer Wange. »Der geflügelte Gott. Thanatos!«
Unter anderen Umständen hätte Samu die Furcht des Nubiers mit einer spöttischen Bemerkung abgetan. Warum hätten sich die Götter ausgerechnet für ihn interessieren sollen? Doch der süßliche Verwesungsgeruch, der schreckliche, nicht enden wollende Sturm… Waren all das nicht deutliche Zeichen dafür, daß etwas Unfaßbares geschah? Vielleicht stand der Todesgott schon unmittelbar hinter dem Leibwächter des Pharaos? Kalter Schweiß perlte von ihrer Stirn. »Hast du den Gott gesehen?«
»Ich kann ihn hören. Sein Flügelschlagen. Es kommt immer näher. Lausch nur!«
Samu hielt den Atem an und öffnete sich ganz den tausend Geräuschen der Nacht. Dem schrillen Pfeifen des Windes, der durch den Säulengang vor ihrem Zimmer toste. Dem Klappern der Fensterläden. Dem Rauschen der Bäume. Ganz schwach war sogar die Meeresbrandung zu hören. Das Geräusch der Wellen, die sich in weißen Gischtwolken donnernd an den Klippen brachen. Flügelschlagen jedoch konnte sie nicht vernehmen. Doch was hieß das schon? Wenn Thanatos wirklich Batis verfolgte, warum sollte er sich dann gleichzeitig auch ihr offenbaren? »Was hast du getan?«
»Ich habe den Befehl des Gottes befolgt. Ich… ich konnte nicht anders«, stammelte der Nubier heiser. »Ich hatte Angst, …doch ich mußte es tun. Er ist doch ein Gott.«
»Und dafür verfolgt dich Thanatos nun?« Samu begriff nicht, was der Krieger ihr sagen wollte. Hatte die Angst seinen Verstand verwirrt?
»Nicht Thanatos! Der Neue Osiris hat mir den Befehl gegeben, den Kopf des Mundschenks abzuschlagen. Ich sollte ihn wegschaffen und das Ganze so aussehen lassen, als habe es der Totengott mit dem Schwert getan. Begreifst du? Sie wollten, daß ich den Kopf verschwinden lasse, damit die Priesterinnen sich nicht davon überzeugen konnten, daß Artemis Buphagos getötet hat…, daß ihre Pfeile ihn durchbohrten, ohne auch nur eine Wunde zu hinterlassen. Aber ich konnte den Befehl des Gottes nicht zu Ende führen. Ich konnte den Kopf nicht ins Meer werfen. Ich habe im Mondlicht gesehen, wie mich die Augen des Toten vorwurfsvoll anstarrten. Buphagos hat mich verflucht, und jetzt verfolgt mich dieser geflügelte Gott.«
»Und was hast du mit dem Kopf getan? Wo ist er jetzt?«
»Hier.« Der Nubier drückte ihr etwas in die Hände. Klebriger Leinenstoff streifte ihre Finger. Eine neue Welle von Verwesungsgeruch schlug Samu entgegen. Mit einem spitzen Schrei schob sie das unaussprechliche Bündel zu Batis zurück. Fassungslos rang die Priesterin nach Worten.
»Du… du hast es die ganze Zeit aufgehoben?«
»Ich habe den Kopf in meinem Zimmer versteckt. Ich habe einen Sack darüber gestülpt, aber es nutzt nichts. Er verfolgt mich, und seine Augen sehen mich durch das Leinen hindurch an. Ich… er will meinen Tod. Er hat den geflügelten Gott gerufen. Er ist immer in meiner Nähe. Aber ich habe doch nicht anders gekonnt… Verstehst du? Mir hat ein Gott befohlen, mich an einem Gott zu vergehen! Was sollte ich tun? Ich habe das Bildnis des Flügelmannes mit Hundeblut beschmiert, damit es so aussah, als habe er Buphagos enthauptet und den Kopf des Mundschenks mit sich in sein Götterreich genommen. Ich hatte keine Wahl… Wie auch immer ich mich entschieden hätte, ich hätte auf jeden Fall einen der Götter beleidigt, und ich habe mein Leben dem Neuen Osiris geweiht. Ich mußte es tun… Bitte, Samu, du mußt mich beschützen! Wenn ich mit meinem Leben für meine Taten bezahlen muß, so sei es. Es ist nicht der Tod, den ich fürchte. Es ist die ewige Finsternis. Der Flügelmann wird kommen und mich hinwegzerren in seine dunkle Geisterwelt. Ich… Du bist Priesterin. Hilf mir, dem zu entgehen. Du bist der einzige Mensch, der mich noch retten kann.«
Fassungslos hatte Samu der wirren Geschichte des Nubiers gelauscht. Sie war nicht sicher, ob der Krieger wirklich vom Totengott verfolgt wurde, doch murmelte sie vorsichtshalber leise eine Schutzformel und schlug mit der Linken ein Zeichen, das böse Geister abwehrte. Sie mußte an die Ereignisse in Italien denken. Daran, daß sie sich geschworen hatte, dem Nubier nie mehr zu helfen. Doch konnte sie es riskieren, ihn jetzt einfach hinauszuwerfen? Der Krieger war kurz davor, den Verstand zu verlieren. Was würde geschehen, wenn sie ihn aus ihrem Zimmer vertrieb? Womöglich würde Batis durch irgendeine unbedachte Handlung den ganzen Hofstaat in Gefahr bringen. Nicht daß ihr soviel an Ptolemaios und seinen Speichelleckern gelegen war, doch Kleopatra galt es um jeden Preis zu schützen. Die junge Prinzessin war etwas Besonderes! Sie würde vielleicht einmal eine Herrscherin werden, wie Ägypten seit Jahrhunderten keine mehr gehabt hatte.
»Ich werde sehen, was ich für dich tun kann, Batis. Doch du solltest wissen, daß ein langer, beschwerlicher Weg vor dir liegt. Du wirst dich von den Übeln reinigen müssen. Deine Taten haben dich besudelt. Es ist ein Schmutz, der nicht an deinem Körper haftet, von dem du dich reinigen mußt. Er zieht die bösen Geister an, die dich quälen. Du hast das Unsterbliche in dir besudelt. Ich kann dir nicht versprechen, daß ich dich vor dem Zorn eines fremden Gottes retten kann. Doch ich werde versuchen, was in meiner Macht steht. Zunächst einmal brauchen wir jetzt Licht.«
»Danke, Herrin. Ich hatte kaum zu hoffen gewagt…« Er versuchte, ihre Beine zu umklammern und ihr die Füße zu küssen, doch Samu entwand sich seiner Zudringlichkeit.
»Kannst du etwas sehen?«
»Kaum.«
»Neben meiner Kline steht ein kleiner Tisch. Dort findest du Feuerstein und Stahl. Es steht auch eine Öllampe auf dem Tisch. Entzünde sie. Ich werde mich inzwischen ankleiden.«
Samu stand auf und tastete sich mit vorgestreckten Armen durch das Zimmer. Hinter sich konnte sie Batis herumhantieren hören. Um in ihr Priesterinnengewand zu schlüpfen und es vor der Brust zu verknoten, brauchte sie kein Licht. Durch ihre jahrelange Übung fand sie sich blind zurecht.
Als sie sich umdrehte, sah sie einen winzigen Funken in der Dunkelheit, der binnen eines Atemzugs zu einer kleinen Flamme anwuchs, die den Docht der Öllampe hinaufleckte. Jetzt endlich konnte sie den Nubier sehen. Er trug ein Leopardenfell um die Hüften, das von einem Gürtel gehalten wurde, in dem ein langes Messer steckte. Halb im Schatten verborgen erkannte sie den in Leinentücher eingeschlagenen Kopf, der hinter dem Krieger auf der Kline lag.
»Glaubst du, dich damit gegen einen Gott verteidigen zu können?« Sie zeigte auf die gebogene Klinge des Messers, die golden im Lampenlicht glänzte.
»Ich weiß, daß kein Mensch gegen einen Gott bestehen kann. Doch bin ich auch Krieger. Ich würde nie aufgeben, ohne gekämpft zu haben. So wie der Löwe in der Wüste, der sich trotz aller…«
»Schon gut.« Samu kannte die Angewohnheit des Nubiers, sich in seltsame Metaphern zu versteigen. Dazu war jetzt keine Zeit. »Komm mit der Öllampe hier zum Tisch herüber.«
Stumm gehorchte der Krieger. Seine mit Öl eingeriebenen Muskeln glänzten matt im Schein des Lämpchens. Er roch nach Nüssen und säuerlichem Angstschweiß. Ihn so dicht neben sich zu haben, weckte in der Priesterin längst verdrängte Erinnerungen. Sie biß sich auf die Lippen. Es war vorbei! Er hatte sie betrogen und war ein Mörder.
Nervös kramte Samu in einer kleinen Schmuckschatulle. Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie zog ein kleines Amulett aus Karneol hervor, das an einem Lederband hing. Es zeigte das Udjat, das Auge des Horus. Angeblich war das Amulett sehr alt. Samu hatte es von einem Osiris-Priester geschenkt bekommen. Wenn es überhaupt eine Macht gab, die Batis vor dem Zorn des Thanatos schützen konnte, dann war es der falkenköpfige Horus, der Bezwinger des Seth.
»Beuge dein Haupt, Batis.« Der Nubier gehorchte und blickte zweifelnd auf das Amulett.
»Möge der Blick des Horus auf dir ruhen! Möge der Herr der Harpunierstätte deine Feinde mit seinem Speer durchbohren.«
Feierlich legte die Priesterin dem Krieger das Udjat um den Hals und gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen.
»Was willst du jetzt tun, Herrin?«
»Wir werden dafür sorgen, daß Buphagos seinen Frieden findet und dich nicht weiter mit seinem zornigen Blick verfolgt, weil du seinen Leichnam geschändet hast. Knie vor dem Haupt des Toten nieder und bitte ihn um Verzeihung für deine Untat. Bete zu ihm und versprich ihm ein Opfer. Wenn du den Mundschenk ehrst und in Zukunft, wenn du den Göttern opferst, auch ihm eine Gabe darbringst, dann wird sein erzürnter Geist vielleicht von dir ablassen. Ich erwarte dich draußen im Säulengang. Bring den Kopf mit, denn wir werden gemeinsam bis an die Grenze des Totenreiches reisen.«
Der Nubier schluckte. »Ist es nicht besser, wenn du an meiner Seite bleibst, bis…«
Samu schüttelte verärgert den Kopf. »Du bist hingegangen und hast den Leichnam geschändet. Es ist ganz allein deine Sache, den Toten dafür um Vergebung zu bitten.« Die Priesterin nahm sich ihren Wollumhang und ging zur Tür.
Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sich die Tür zum Porticus öffnete und Batis den Säulengang betrat. Unter seinen linken Arm hatte er das Bündel aus Leinentüchern geklemmt. In der Rechten hielt er das Öllämpchen, dessen kleine Flamme er sorgsam gegen den Wind abschirmte.
»Und?« Samu musterte den Nubier gespannt.
»Ich… ich glaube, er wird mir vergeben. Ich habe seine Augen geschlossen. Sein Blick verfolgt mich nicht mehr.«
»Gut, dann werden wir ihm jetzt den Weg zu Osiris weisen. Folge mir!«
Die Priesterin verließ die Villa und führte den Nubier über das Gelände des Tempels nach Osten. Noch immer wütete der Sturm, und obwohl außer ihnen niemand zwischen den niedrigen Häusern des Tempelgeländes zu sehen war, blickte Batis immer wieder ängstlich über seine Schulter. Schaudernd überlegte Samu, ob Thanatos oder die Erinnyen ihnen folgten. Es war nicht weise, sich in die Angelegenheiten fremder Götter einzumischen. Was mit Batis geschehen würde, kümmerte sie nicht, doch war sie fest entschlossen, Buphagos auf den Weg in das Reich des Osiris zu geleiten.
Der Sturmwind hatte die dunklen Wolkenbänder am Himmel zerpflückt, so daß das silberne Licht des Horusauges ihnen für eine Zeitlang den Weg wies.
Bald erreichten sie den Fuß des Hügels, der hinter dem Artemision lag. Dort stand ein kleiner Schrein, der der Göttin Kybele geweiht war. Dicht daneben erhob sich ein niedriges Haus, in dem die Weihegaben des Schreins verwahrt wurden. Samu wußte, daß die Priesterinnen des Artemisions den Leichnam des Mundschenks dorthin gebracht hatten. Er sollte am nächsten Abend auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden. So hatte es die Hohepriesterin angeordnet.
Samu schauderte bei der Vorstellung an diese barbarische Sitte. Einen Körper den Flammen zu übergeben, hieß, ihn für alle Freuden, die das Jenseits bereithalten mochte, unempfänglich zu machen. Er wäre dort wenig mehr als ein Geist. Doch die Totenverbrennung war Brauch bei den Griechen. Vielleicht reisten ihre Toten ja an einen anderen Ort. Auch viele der ptolemaischen Pharaonen hatten an dieser alten Sitte festgehalten und ihre Körper den Flammen übergeben lassen. Hätte Buphagos noch die Zeit gehabt, einen Wunsch zu seiner Totenfeier zu äußern, so hätte auch er wahrscheinlich nach alter Sitte verbrannt werden wollen. Im Grunde kam diese Art der Bestattung ihnen sogar entgegen.
»Gib mir jetzt das Licht und hole den Toten dort vorne aus dem Haus. Ich werde hier auf dich warten.«
Batis warf Samu einen zweifelnden Blick zu. »Bist du sicher, daß wir das Richtige tun, Herrin?«
Natürlich war sie nicht sicher, dachte Samu ärgerlich. Sie taten das Notwendige, aber ob es richtig war, wußte sie nicht.
»Geh jetzt dort hinein!« herrschte sie den Krieger an.
»Oder hast du etwa Angst? Vertraue dem Udjat. Es wird dich beschützen!«
Batis zögerte einen Moment. Dann gab er ihr die Lampe und legte das Leinenbündel mit dem Kopf des Mundschenks auf den Boden. Vorsichtig schlich er zur Tür. Sie war nicht verschlossen. Kurz spähte der Nubier ins Innere des Hauses, dann verschwand er durch den Türspalt.
Ob die Priesterinnen Wachen aufgestellt hatten? Samu fluchte leise. Warum hatte sie nicht früher daran gedacht? Es war üblich, einen Toten bei Nacht nicht alleine zu lassen. Zögernd blickte sie zur Tür hinüber, hinter der der Nubier verschwunden war. Sollte sie ihm folgen? Es wäre ohnehin zu spät, um ihn noch zu warnen. Vielleicht wäre es das klügste, sich davonzustehlen?
Ein merkwürdiger Schrei erklang hoch über ihr in der Luft. War es ein Vogel? Die Priesterin mußte an die Erinnyen denken, die blutdurstigen Rachegöttinnen der Griechen. Sie brachten Wahnsinn und Tod über ihre Opfer. Ob sie wohl irgendwo hier draußen in der Finsternis lauerten? Samu wünschte, sie hätte selbst ein Schutzamulett angelegt. Mit zitternder Stimme flüsterte sie einen Bannspruch gegen böse Geister.
Endlich öffnete sich wieder die Tür. Undeutlich konnte die Priesterin den Nubier erkennen. Er trug ein großes Bündel über der Schulter, doch hatte er auch irgend etwas unter den Arm geklemmt. Er schleppte eine riesige Amphore mit sich herum! Wahrscheinlich war sie voller Öl. Wenn das Holz feucht war, würde sie es brauchen, um den Scheiterhaufen überhaupt entzünden zu können.
Schnaufend erreichte der hünenhafte Krieger Samu.
»Waren keine Wachen bei dem Toten?«
»Oh, doch.« Batis nickte. »Eine hübsche junge Priesterin.«
Samu blickte zu dem Dolch am Gürtel des Kriegers. »Du… du hast sie doch nicht etwa…«
Der Nubier grinste. »Das war nicht notwendig. Sie war eingeschlafen. Sie hat mich nicht bemerkt.«
Die Isispriesterin hatte nicht den geringsten Zweifel daran, daß Batis die junge Frau, ohne großes Aufheben zu machen, ermordet hätte, wäre sie wach gewesen. War es das Richtige, was sie taten? Quälende Zweifel plagten Samu. Hätte sie den Krieger fortschicken sollen, als er zu ihr gekommen war und sie um Hilfe zu bat? Machte sie nicht alles nur noch schlimmer? Mißmutig blickte sie zu dem blutigen Bündel am Boden. Batis konnte unmöglich noch mehr tragen. Es war nun an ihr, den Kopf des Mundschenks mitzunehmen. Wenigstens vertrieb der Sturmwind den Leichengeruch! Mit spitzen Fingern hob sie das Bündel auf und hielt es so weit wie nur möglich von sich gestreckt. Dann gab sie Batis ein Zeichen, ihr zu folgen.
Ein gewundener Weg führte sie bis zur Mitte des Hügels hinter dem Tempel. Dort war an einer windgeschützten Stelle, auf einem schmalen Plateau, das sich dicht an den Fels schmiegte, ein Scheiterhaufen errichtet worden.
Samu legte den Kopf des Mundschenks auf den Holzstoß und untersuchte den Scheiterhaufen im zitternden Licht der Öllampe. Er war sorgfältig aus langen Bohlen geschichtet, zwischen die man Lagen aus Reisig und Stroh gebettet hatte. Der Scheiterhaufen würde lange brennen, und wenn die Priesterinnen der Artemis später die spärlichen Reste des Toten aus der kalten Asche heraussuchten, würde niemand mehr erkennen können, daß Kopf und Körper zuletzt wieder vereint waren.
»Leg ihn ab!« kommandierte Samu harsch. Sie wäre froh, wenn alles vorbei wäre. Der Nubier gehorchte ihr stumm. Gemeinsam drapierten sie das Gewand des Verstorbenen. Auf seiner letzten Reise sollte er so ordentlich aussehen, wie er es stets zu Lebzeiten gewesen war. Ein unauffälliger Höfling in gestärkten und gebleichten Leinengewändern. Sorgfältig geschminkt und stets eine tadellos sitzende Perücke auf dem Kopf.
Der Kopf! Es kostete Samu einige Überwindung, ihn aus den besudelten Leinentüchern zu wickeln. Die Perücke des Toten war halb von seinem glattrasierten Schädel gerutscht. Vorsichtig richtete Samu sie und strich dem Toten das strähnige Haar aus dem Gesicht. Was bei den Göttern mochte er nur getan haben, daß die Unsterblichen ihm ein so unwürdiges Ende beschert hatten?
Batis hatte inzwischen das Öl aus der Amphore, die er mitgebracht hatte, über den Scheiterhaufen geschüttet. Ein Funken würde jetzt ausreichen, das Holz wie eine pechgetränkte Fackel auflodern zu lassen.
»Glaubst du, er wird nicht mehr zurückkehren?« flüsterte Batis.
Samu zuckte mit den Schultern. »Wer weiß?« Unschlüssig blickte sie auf die kleine Flamme der Öllampe. Was würde geschehen, wenn Buphagos der Weg in den Hades verstellt bliebe, weil Batis Thanatos verärgert hatte? Würde womöglich der Geist des Toten zurückkehren und dann auch sie quälen? Immerhin hatte der Nubier sie tief in diese Angelegenheit hineingezogen. Hätte man den Mundschenk nach den alten, überlieferten Ritualen einbalsamiert und in einem prächtigen Sarg beigesetzt, so wie es früher am Hof der Pharaonen üblich war, dann könnte sie sicher sein, daß er nicht wiederkehren würde. Aber so? Es war besser, einen der mächtigen Zauber des Totenbuches über Buphagos zu sprechen. Sie streckte ihre Hand aus und legte die gespreizten Finger auf das kalte Gesicht.
»Schwalben wecken dich auf, der du schläfst, sie heben dein Haupt empor zum Horizont. Richte dich auf, damit du über das triumphierst, was dir angetan wurde! Ptath hat deine Feinde zu Fall gebracht, und es soll gegen den vorgegangen werden, der gegen dich vorging. Du bist Horus, Sohn der Hathor, der Feurigen, die zum Feuer gehört, dem sein Kopf zurückgegeben wurde, nachdem er abgeschnitten war. Fortan kann dir dein Kopf nicht mehr genommen werden, dein Kopf bleibt bei dir bis in Ewigkeit!«
Samu blickte ein letztes Mal in das Gesicht des Toten, dann trat sie ein Stück vom Scheiterhaufen zurück und hielt mit ausgestrecktem Arm die Flamme der Lampe an einen der ölgetränkten Balken. Langsam züngelte die kleine gelbe Flamme das Holz hinauf und tanzte unsicher auf dem grobbehauenen Balken, so als wolle sie zum Docht der Öllampe zurückspringen. Erst als sie Reisig und Stroh erreichte, begann sie sich schneller auszubreiten und auch nach den Kleidern des Toten zu greifen.
Samu blickte zu Batis hinüber. Der Nubier war leise murmelnd in ein Gebet versunken. Er hatte den Kopf geneigt und wirkte plötzlich kleiner, als er ihr früher erschienen war. Vom selbstbewußten, überheblichen Krieger schien nichts mehr übriggeblieben zu sein. Jedenfalls für den Moment nicht. Sie streckte die Hand nach ihm aus und berührte ihn sanft am Oberarm. Erschrocken zuckte er hoch und blickte sie dann verstört mit seinen großen Augen an.
»Komm, laß uns gehen! Buphagos weilt jetzt nicht mehr in dieser Welt, und wir sollten besser nicht neben dem Scheiterhaufen gesehen werden.«