Читать книгу Wir sind die Bunten. Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval - Бернхард Хеннен - Страница 15

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Der Duft der Wahrheit

Das Drachenmaul droht mächtig,

doch Arrim, der ficht prächtig!«

Die Skaldin stampfte den Takt ihres Kehrverses auf die Bohlen des Tischs, der ihr als Bühne diente. Aber ihr Vortrag dauerte schon zu lange, ihr Gesang war schief und ihre Leier verstimmt. Sie brachte nur wenige Zuhörer dazu, in ihr Loblied einzustimmen. Bestimmt, weil die Botschaft des Stückes auf ermüdende Weise dem glich, was die Gäste heute bereits ein Dutzend Mal gehört hatten.

»Arrim ist ein wahrer Recke,

wer es leugnet, ist ’ne Zecke!

Der Gottwal, der will Kraft und Mut,

drum: Arrim preisen – das tut gut!«

Orm Follkerson wünschte sich, er hätte etwas Stärkeres als Ziegenmilch in seinem Trinkhorn. Doch er wusste, dass er an diesem heißen Sommertag seinen Verstand noch brauchte. Geist und Witz waren die Waffen, mit denen er Arrim schlagen wollte, nicht die kurze Doppelblattaxt, die in einem Eisenring an seinem Gürtel hing. Missmutig nahm er einen Schluck von dem süßlichen Getränk.

Das Händegeklapper in der Goldbergbucht fiel maßvoll aus, als die Skaldin die Bühne räumte. Sogar Arrim Berason sah hinaus auf den Fjord, statt die Sängerin zu beachten, die seinen Mut als Drachenkämpfer so überschwänglich gepriesen hatte. Das Wasser strahlte blau und versprach Abkühlung in der Mittagshitze. Vier Langboote waren auf den Strand unter dem palisadenbewehrten Hügel gezogen, der die Heimstatt der Goldberg-Ottajasko war.

Orm Follkerson schnaubte. Goldberg-Ottajasko. Der hochtrabende Name sah diesen Aufschneidern ähnlich. Edles Metall fand man in fünf Tagesmärschen Umkreis nicht. Die Sonne narrte den Reisenden, wenn sie tief stand und die Felsen beleuchtete, die sich hinter dem Fjord erhoben. Und selbst dann fand Orm, dass sie eher nach Schwefel als nach Gold aussahen.

»Das war ein strammer Vortrag, Skaldin!«, lobte Bera Dembadottir. Arrims Mutter ließ nichts auf den Stolz ihrer Sippe kommen. Ihr musste der zahlreiche Besuch schmeicheln, der dem Ruf zum Fest gefolgt war, das sie für ihren angeblich heldenhaften Sohn gab.

Orm verbarg sein Grinsen hinter dem Trinkhorn. Vielleicht war ihr peinlich, dass der Skaldenwettstreit bislang keine Begeisterungsstürme auslöste. Im Gegenteil, viele Recken und Schildmaiden, die sich zwischen den drei Langhäusern der Goldberg-Ottajasko eingefunden hatten, unterhielten sich miteinander, statt den öden Vorträgen zu lauschen. Lediglich Arrims Beute, der Silberhelm, fand einige Beachtung. Orm musste zugestehen, dass es ausgesprochen klug war, ihn auf eine in den Boden gerammte Lanze zu setzen. Unter anderem, weil das polierte Metall dort oben hell strahlte und für jeden sichtbar war.

Beras Blick schweifte über die Menge. »Gibt es noch jemanden, der sich das Preisgeld verdienen will?« Trotz der Hitze trug sie den schwarzen Bärenpelz, den ihr Großvater im tiefen Wald erjagt hatte. Damals hatte die Goldberg-Ottajasko wirklichen Mut gekannt. Oder waren das auch nur erfundene Geschichten?

Niemand meldete sich.

»Nun, dann wollen wir herausfinden, wer der Sieger ist!«, rief Bera. »Tretet nacheinander vor, Skalden! Die Rufe der Schildmaiden und Recken sollen entscheiden, wer …«

Orm stand auf. »Ich will Arrim besingen!«

»Nicht noch einer«, stöhnte eine Kriegerin mit roten Zöpfen am Nachbartisch. Neben ihr lehnte die größte Axt, die Orm je gesehen hatte.

Ihre Freunde lachten. »Den überstehen wir auch noch.«

»Nur mit Met.« Die Kriegerin streckte einem Jüngling, der ein Fässchen unter dem Arm trug, ihr Horn hin. »Füll auf!«

Orm hatte nicht an einem der Tische gesessen, sondern auf einem Felsbrocken ein wenig abseits. Anfangs hatten einige Gäste versucht, ihn einzubeziehen, doch der Gestank hatte sie vertrieben. Orm roch, als hätte er in einer Jauchegrube gebadet.

Beras Stirn legte sich in Falten. Ihr konnte nicht entgehen, dass die Gäste von der Lobhudelei auf ihren Sohn genug hatten und lieber zu handfesten Vergnügungen übergegangen wären.

Dennoch nahm Orm seine Leier und schritt selbstbewusst zum Tisch, der den Auftritten der Skalden vorbehalten war. Er senkte den Blick, als er an Arrim vorbeikam. Wie seine Mutter saß er auf einem mit Bullenhörnern verzierten Sessel. Ein Schwert lehnte neben ihm, es steckte in einer mit schwarzem Bärenfell bezogenen Scheide. Der Geruch, den Arrim verströmte, passte nicht zu diesem martialischen Gepränge.

»Veilchenduft?«, brummte Orm so leise, dass nur er selbst es hörte, und unterdrückte ein Lachen. »Wirklich, Arrim? Ausgerechnet Veilchen?«

Über einen Schemel stieg er auf den Tisch.

»Wie heißt du, Skalde?«, rief Bera.

»Nennt mich Ohm Follker «, antwortete Orm. Seinen echten Namen durfte er natürlich nicht nennen, sonst hätte er sich die Verkleidung sparen können. Er trug eine Binde über dem rechten Auge, das Haar hatte er mit Asche grau gefärbt, zusätzlich hatte er die Kapuze seines braunen Leinenumhangs über den Kopf gezogen, sodass sie das Gesicht beschattete. Nicht wenige der Anwesenden mochten vermuten, dass ihn eine Krankheit entstellte, wozu das Bündel Stroh unter seinem Nacken beitrug, mit dem er einen Buckel vortäuschte. Aufbrechende Geschwüre waren eine gute Erklärung für den bestialischen Gestank, der ihn umwehte.

»Also dann, Ohm Follker: Lass hören!«, forderte Bera.

Orm strich über die Saiten, merkte aber schnell, dass er auf diese Weise die Aufmerksamkeit des Publikums nicht erregen konnte. Also räusperte er sich und begann zu singen.

»Der Arrim, der mag mutig tun,

als er vom Drachenhorte hört.

Beim Ruhm der Ahnen Arrim schwört,

dass er den Schatz will plündern nun.«

Die Lautstärke der Gespräche schwoll an. Beim Austausch der Neuigkeiten wollte man sich nicht durch einen weiteren Lobgesang unterbrechen lassen. Nicht einmal Arrim selbst schenkte dem Vortrag Beachtung, er sah noch immer auf den Fjord hinaus. Nur seine Mutter klopfte den Takt beifällig auf der Armlehne mit.

Das würde sich bald ändern. Orm erlaubte sich ein Grinsen, während er die Saiten zupfte.

»Zur Drachenhöhle Arrim schleicht,

doch nicht im Walde ganz allein,

will in Gefahr der Arrim sein.

Ein Skaldensang zum Ruhm gereicht.

Den Bären er im Wappen führt.

Bärenmut nur fehlt dem Arrim.

Wenn’s wichtig ist, dann flieht sein Grimm.

Sein Hasenherz er schlagen spürt.«

Die Schildmaid mit den roten Zöpfen horchte auf. Sie stieß sogar ihren Nachbarn an, damit er Ruhe gab und sie den Text besser verstand. Orm war heute der Einzige, der zu einem Spottlied auf den Sohn der Hetfrau ansetzte.

Ermutigt griff er fester in die Saiten. Er erntete die ersten Lacher, als er davon berichtete, wie Arrim seine neue Bekanntschaft, einen jungen Skalden, mit seinem Schwert beeindruckte. Er schilderte diesen Skalden naiv und dümmlich, wie er den Stahl bewunderte und sich weismachen ließ, dass eine solche Waffe Kettenhemden wie Tuniken aus Wolle durchschnitte und Eichenschilde durchstieße wie Bettlaken. Die kampferfahrenen Recken schlugen sich vergnügt auf die Schenkel.

In den nächsten Strophen beließ Orm den Skalden in der Rolle des naiven Bewunderers. Nun bekam aber auch Arrim sein wohlverdientes Fett weg. Im Wald, sobald die Straße außer Sicht geriet, kamen ihm Zweifel an der Macht seines Schwertes. In jammernden Klagen unkte er von gebrochenen Klingen, und überhaupt sei sein Schwert kaum mehr wert als ein Schälmesser, wenn es gegen einen Drachen ginge. Dennoch wagte er nicht, es in die Scheide zurückzustecken. Als ein Fasan raschelnd Reißaus vor den beiden Wanderern nahm, ließ er es sogar fallen.

Die Schildmaiden und Recken grölten vor Lachen. Bera saß mit versteinerter Miene. Arrim beugte sich vor, wohl, um einen Blick unter die Kapuze des Sängers zu erhaschen.

Orm stampfte den Takt, die Zuhörer klatschten mit. Das steigerte seinen Mut und seine Lust. Eigentlich hatte er nur fünf Strophen über Arrims Feigheit im Wald vortragen wollen, aber jetzt fügte er fünf weitere an. Die Reime waren weniger geschliffen als bei denen, die er zuvor ausgewählt hatte, aber das machte nichts. Orm sang noch lauter, und sein Publikum begann, einzelne Verse zu wiederholen, wenn er verstummte und nur an der Leier zupfte. Methörner stießen aneinander, Fäuste trommelten auf die Tische, und begeistertes Gelächter brandete durch die Menge.

Schon jetzt war Orm der Sieg im Skaldenwettstreit sicher, ganz gleich, ob das Bera passte oder nicht. Niemand hatte die Recken und Schildmaiden so mitgerissen wie er, einige standen sogar auf den Tischen. Er könnte mit einem Witz abschließen, das Händegeklapper und die Hochrufe des Publikums entgegennehmen, das Preisgeld einstreichen und machen, dass er davonkäme. Bis zum Abend hätte er das nächste Dorf erreicht, und während er sich dort einen Braten gönnte, könnte er darüber lachen, wie Beras knirschende Zähne sie am Schlaf hindern würden.

Aber er war weder gekommen, um sich Silber zu verdienen, noch, um über mittelmäßige Skalden zu siegen. Er wollte mehr, und deswegen riskierte er, das Wohlwollen seines Publikums zu verlieren.

In einem längeren Stück ohne Text wandelte Orm die Stimmung seines Vortrags. Die harten Griffe in die Saiten wurden seltener. Schließlich gingen sie ganz in sphärische und raunende Klänge über. Orm schloss die Lider und beschwor die Erinnerung an den Wald herauf, wo trügerische Schatten fielen, wo Knochen von einem Hirsch auf dem Moos bleichten und der Wind Warnungen um einen ausgehöhlten Baumstamm heulte.

Es gelang. Seine Zuhörer beruhigten sich, ohne das Interesse an seinem Vortrag zu verlieren. Als er die Augen wieder öffnete, blickten sie ihn gespannt an. Niemand stand mehr, alle saßen auf den Bänken, wie die Besatzungen von Langbooten, die auf das Kommando warteten, die Riemen in die Wellen zu tauchen.

»Dunkelland, Wolfsgrund, Rabenforst!

Skalde horcht und Arrim zittert.

Vorwärts schreiten sie erbittert.

Ein Auge starrt von Bussards Horst.«

Orm sang von den Zweifeln, die einen Wanderer angesichts alter Eichen überkamen. Was war schon ein Menschenleben gegen das eines solchen Riesen, der niemals Zuflucht suchte und jedem Sturm trotzte? Glotzten ihre verharzten Astlöcher etwa nicht wie hasserfüllte Augen? Waren die Wolfsfährten der Grund, wieso niemand in diesem Wald den verlorenen Schatz von Uldrik Klosterbrenner zu finden versuchte? Oder doch der Fluch, den die Götter des Südens über den Plünderfahrer gesprochen haben sollten? Gab es den Drachen mit den goldenen Schwingen und den roten Schuppen wahrhaft? Hoch wie ein Turm, wenn er sich aufrichtete, und mit einem Atem, dessen Feuer ein ganzes Langhaus umhüllte?

Die Zuhörer vergaßen, aus ihren Methörnern zu trinken. Die Burschen, deren Aufgabe darin bestand, sie stets gefüllt zu halten, hatten nichts zu tun. Das war ihnen wohl nur recht, auch sie lauschten gebannt der Erzählung von Giftschlangen, die auf Ästen lauerten, und Wurzeln, die nach den Füßen der Wanderer zu angeln schienen. Einer der Skalden versuchte, Orms Melodie auf der eigenen Leier zu begleiten, aber die anderen hielten ihn schnell davon ab. In Orms Vortrag gab es keine starre Abfolge von Tönen. Er gewann die Stringenz durch die Stimmung, die sich ständig fortentwickelte. Das zuvor wild mitgrölende Publikum war jetzt von Spannung darauf erfüllt, was die beiden Wanderer im Wald erwarten mochte.

»Es tut sich auf der Höhlenschlund.

Tief, dunkel – was mag wohl dort sein?

Der Skalde fragt: Geh’n wir hinein?

Mut ist doch unsres Kommens Grund!«

Dass Arrim inzwischen angespannt wie ein fluchtbereites Karnickel in seinem Sessel saß, beachtete Orm ebenso wenig wie die Hetfrau, die ihren Zorn nur mühsam zu beherrschen schien.

Orm schilderte den bestialischen Gestank, der aus der Höhle wehte, und die vorsichtige Annäherung der beiden Jünglinge. Der Fäulnisgeruch ließ ihnen beinahe die Sinne schwinden, doch Silberglanz lockte sie weiter. Sie fanden einen Hort. Der Skalde nahm einen silbernen Helm an sich, den Orm genauso beschrieb wie jenen, der hinter ihm auf der Lanze thronte. Arrim dagegen schleppte sich mit einem juwelenverzierten Handspiegel zurück ins Freie. Die Jünglinge lachten und füllten die Lungen mit frischer Luft, die ihnen in diesem Moment so kostbar erschien wie Balsam aus dem Reich der Ersten Sonne.

»Doch Donnerkeil und Feuerstoß!

Groß Echsenleib aus Dickicht bricht.

Arrim den eignen Fuß sich sticht.

Tatzelwurm brüllt: Zwei seid ihr bloß?«

Natürlich hatte der Tatzelwurm keine echte Frage gestellt. Die sechsbeinige Bestie war der Sprache nicht mächtig. Sie hatte wenig mit einem edlen und tödlichen Drachen gemein. Ihr zu begegnen war Glück und Unglück zugleich. Wäre es tatsächlich der Hort eines feuerspeienden Drachen gewesen, den Arrim und der Skalde entdeckt hatten, es wären an diesem Tag nicht nur die Träume der Schatzsucher zu Asche geworden, sondern auch sie selbst. Ein Tatzelwurm war eine üble Bestie. Ein stinkendes, geschupptes, sechsbeiniges Ungeheuer. Doch einem echten Drachen kam er nicht gleich.

Ein Drache hätte vielleicht sprechen können. Womöglich sogar zaubern. Wahrscheinlich wäre er klug und gnadenlos gewesen. Ein Tatzelwurm war nur eine stinkende Bestie, getrieben vom Instinkt, ihren Hort zu verteidigen, als hätten die beiden sich an ihrer Brut vergangen. Ein Drache für Arme, die rechte Gestalt für die Parodie eines Heldenliedes. Und doch war es eine Begegnung von tödlichem Ernst: Das Maul schnappte, der faulige Atem verbrannte die Gesichter der jungen Männer, die erschrocken das Weite suchten.

Belustigung. Spannung. Das Publikum ging mit, doch das genügte Orm nicht. Seine Kunst war zu mehr fähig.

Wieder pausierte Orms Gesang, während das Leierspiel die Stimmung drehte. Etwas Fragendes mischte sich hinein. Es wurde zu einer Anklage.

»Nun Arrims Tapferkeit verbrennt.

Arrim schreit, heult, furchtbar jammert,

am Skalden sich der Recke klammert

bevor er rennt und rennt und rennt.«

Orm berichtete davon, wie Arrim Schwert und Spiegel fallen ließ, auf einen Baum floh, quiekend wie ein Ferkel und mit dem schnaubenden Tatzelwurm dicht hinter ihm. Es hätte eine witzige Schilderung sein können. Mühelos hätte Orm sein Publikum dazu bringen können, wieder lachend und grölend auf den Tischen herumzuspringen.

Aber er gestaltete seinen Vortrag anders. Er legte Tragik in die Stimme, Bitterkeit sogar, und die Saiten der Leier untermalten diese Stimmung.

In seinem Lied erkannte der verzweifelnde Arrim, dass der Tatzelwurm den Baum zwar nicht erklimmen, wohl aber umwerfen könnte. Das Biest kratzte mit seinen Krallen daran und verlegte sich dann darauf, mit Anlauf seinen schlangenähnlichen Leib gegen den Stamm zu werfen.

»In höchster Not der Arrim schreit,

Ast wie Mutterbrust umklammert.

Er greint, er brüllt, schluchzt und jammert.

Zum Kämpfen ist er nicht bereit.«

Jetzt kam der Auftritt des Skalden: Er nahm das Schwert, das Arrim fallengelassen hatte, und schlug damit auf den Hinterleib des Tatzelwurms ein. Der Stahl erwies sich als zuverlässig, der Schuppenpanzer brach. Zornerfüllt ließ die Echse vom heulenden Arrim ab.

Und wandte sich dem Skalden zu, der sich nun nicht nur einem reißzahnbewehrten Maul und messerscharfen Krallen gegenübersah, sondern auch von brühend heißem Atem ins Gesicht getroffen wurde. Geblendet warf er sich herum und rannte davon.

»O Arrim, Arrim, hilf mir doch!

Der Skalde durch den Wald nun hetzt,

doch Arrim, der bleibt still entsetzt.

Der Skalde flüchtet in ein Loch.«

Diese Zuflucht gewährte jedoch nur trügerische Sicherheit. Die Klauen des Tatzelwurms wühlten das Erdreich auf. Der Skalde rief den Gefährten um Hilfe, doch Arrim zog es vor, sich den Silberhelm zu schnappen, den der Skalde zuvor aus dem Hort geborgen hatte. Als der Gefangene mit knapper Not aus dem Loch entkam – mit mehr Glück als Verstand gelang es ihm, dem Gegner eine Kralle abzuhauen, was diesen kurzzeitig verwirrte –, suchte Arrim bereits mit dem Schatz das Weite.

Der Skalde dagegen setzte seine Flucht fort. In einer verzweifelten Parade ging er des Schwerts verlustig. Er benutzte die abgehauene Kralle des Tatzelwurms für Stiche wie mit einem Dolch. Den letzten Ausweg nutzend, warf er sich in einen reißenden Bach, der ihn davontrug. Der Tatzelwurm verfolgte ihn eine Weile, aber sein Revier endete wohl an einigen Stromschnellen, wo er zurückblieb. Der Skalde bezahlte seine Rettung jedoch mit üblen Prellungen.

»Arrim hilft seinem Freunde nicht.

Er wollt’ es wohl, doch fehlt der Mut.

Das Bärenwappen find’t er gut,

doch Angst im Hasenherzen sticht.«

Orm verzichtete auf einen gefälligen Ausklang. Er schloss seinen Vortrag mit einigen abrupten Misstönen ab.

Schweigend sah die Menge ihn an. Nur Arrim wich seinem Blick aus. Der Recke, dem die heutige Feier galt, betrachtete nicht mehr den Fjord. Seine eigenen Füße schienen ihm interessanter zu sein. Orm fand ihn erbärmlich.

»Was für ein dummer und unverschämter Vortrag!«, rief Bera.

»Hast du schon einmal ein Stück von einem Tatzelwurm gesehen?« Orm nestelte die Kralle, die er dem Ungeheuer abgeschlagen hatte, aus seiner Gürteltasche und warf sie der Hetfrau in den Schoß.

Angewidert verzog Bera den Mund. Kein Wunder, alles an einem Tatzelwurm stank bestialisch.

Orm schlug seine Kapuze zurück und nahm die Augenbinde ab.

Arrim sah ihn noch immer nicht an.

Weiterhin schwieg das Publikum, ergriffen von den wilden Wendungen der Gefühle, die der Vortrag bewirkt hatte. Orm betrachtete die Recken und Schildmaiden mit Befriedigung. Er und seine Leier hatten sie durch Belustigung, Spannung und Nachdenklichkeit getragen. Das war es, wozu die Skaldenkunst fähig war.

»Weitere Beweise!«, forderte jemand. »Die Kralle kann von sonst woher kommen. Was ist die Wahrheit? Sitzt ein Held oder ein Hasenfuß neben dir?«

Orm sprang vom Tisch und legte seine Leier ab. »Beweise wollt ihr?« Er zog seine Axt aus dem Eisenring am Gürtel.

Arrim drückte die Arme vor seine Brust. Er war so ein erbärmlicher Feigling! Wenn er wenigstens nach dem Schwert gegriffen hätte …

Orm wandte sich zur Lanze, auf der der Silberhelm glänzte. Ein einziger Tritt genügte, die Stange stürzen zu lassen. Es herrschte Totenstille. Alle Blicke hafteten auf ihm, als er den silbernen Helm aufhob.

Bera stand auf. »Was soll das denn werden, Skalde?«

Orm warf den Helm in die Zuschauer. »Vertraut nicht mir, aber glaubt euren Nasen!«, rief er. »So duftet die Wahrheit!«

Die Schildmaid in der nietenbesetzten Lederrüstung, die den Helm gefangen hatte, verzog angewidert das Gesicht und reichte ihn weiter. »Der stinkt wie ein verwesender Pottwal!«

»O nein!«, widersprach Orm. »Nicht wie ein Pottwal. Wie der Tatzelwurm! Habt ihr je von einem Drachen gehört, der stinkt wie ein Langboot voll mit faulen Eiern? Der Duft dieses Schatzes beweist mehr als tausend Worte. Jeder weiß, dass der Gestank eines Tatzelwurms allem anhaftet, was sich in seiner Nähe aufhält. Aus seinem stinkenden Hort hat Arrim diesen Helm. Vom Tatzelwurm habe ich meinen Gestank, und es wird Wochen dauern, bis er verfliegt, egal, wie oft und wie heiß ich bade. Und er selbst«, er sah Arrim an, »stinkt genauso wie ich! Er überdeckt es nur mit Veilchenduft. Werft ihn in den Fjord und zieht ihn wieder heraus! Dann werdet ihr feststellen, dass er genauso nach Tatzelwurm stinkt wie ich und der Helm. Er ist kein heldenmütiger Drachenjäger, sondern ein Aufschneider. Und er hat mich in der Gefahr zurückgelassen, um sein Heil in der Flucht zu suchen. So, wie ich es euch gesungen habe!«

Die Blicke richteten sich auf Arrim.

Der sprang plötzlich auf. Aber nicht, um sich auf Orm zu stürzen, sondern um davonzulaufen. Hinter dem Tor in der Palisade am Fuß des Hügels wandte er sich nach rechts, weg vom Fjord. Er fürchtete wohl, dass man ihn tatsächlich hineinwerfen würde, um das Duftwasser abzuspülen.

Erste Lacher kamen auf.

Es wurden mehr.

Die Gäste verlangten nach weiterem Met und machten sich einen Spaß daraus, den Helm herumzureichen. Es wurde zu einer Mutprobe, einen möglichst tiefen Atemzug zu nehmen, während man ihn vor das Gesicht stülpte. Die Ersten übergaben sich.

Bera sah resigniert aus, aber sie war eine Frau mit Stolz. Schweigend warf sie Orm den Beutel mit dem Preisgeld zu.

Er fing ihn und nickte.

Niemand beachtete die Hetfrau, als sie sich in eines der Langhäuser zurückzog.

Ratlos betrachtete Orm die Menge. Er hatte gewonnen, aber abgesehen davon, dass er sich nicht zu den Menschen gesellen konnte, solange er stank wie der Darmwind eines Auerochsen, war ihm auch nicht danach zumute, sich zu betrinken. Er hatte getan, wozu er gekommen war: die Skaldenkunst aufscheinen zu lassen und der Wahrheit Geltung zu verschaffen. Er nahm seine Leier auf.

Die Hand der Skaldin, die vor ihm aufgetreten war, legte sich auf seine. »Warte, Ohm Follker«, bat sie. Ihm gefiel, wie sie diesen Namen aussprach. »Ich war noch nie so ergriffen, wenn ich einem Skalden zugehört habe. Du bist ein wahrer Meister. Was müssen wir tun, damit du noch einmal für uns spielst?«

»Nichts.« Lächelnd stieg er wieder auf den Tisch. »Die Kunst ist sich selbst Lohn genug.«

Mit freundlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems.

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