Читать книгу Wir sind die Bunten. Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval - Бернхард Хеннен - Страница 19

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Die andere Seite der Idylle

1 Gemeinschaft

Wir sind wieder zusammen. Im Laufe des Nachmittags kommen wir an, bauen unsere Zelte auf, richten uns ein, begrüßen uns. Die erste Begegnung nach so langer Zeit ist herzlich, aber merkwürdig, wir haben Angst, uns nicht mehr zu kennen. Doch allmählich, spätestens als Katrin das Feuer entfacht und Anna beginnt, ihre Gitarre zu stimmen, verfliegt die Zaghaftigkeit zwischen uns. Wir setzen uns ums Feuer und öffnen das erste Bier. Tom und Beate legen die Arme umeinander und teilen den ersten zarten Kuss.

Wie wir alle treffen sie sich nur einmal im Jahr, für dieses Festival, und jedes Mal verlieben sie sich neu ineinander. Inzwischen dämmert es schon langsam und der Nebel kriecht vom Bach aus über die Wiese. Zum Glück campen wir dieses Mal ein Stück vom Wasser entfernt, da frieren wir nachts nicht so sehr. Gut, dass das Feuer schon brennt. Wir stoßen an.

Um uns herum ist der Campingplatz zum Leben erwacht, einige Gruppen sind schon angekommen, überall entfachen sich Feuer, Musik und fröhliche Stimmen. Nele packt den Met aus und Anna stimmt das erste Trinklied an. Als das Lied zu Ende ist, bemerken wir eine Gestalt, die sich still zu uns gesellt hat. Gerade außerhalb des Lichtscheins steht sie höflich im Nebel.

»Hey du!«, ruft Anna, »Komm näher und trink mit uns, wenn du magst!«

Die Gestalt tritt ans Feuer und streift ihre Kapuze zurück.

»Hallo, sehr freundlich von euch. Ich bin Michael«, sagt die Gestalt.

Einen kurzen Moment spricht niemand und nur das Knacken des Feuers ist zu hören. Denn Michaels Gesicht leuchtet im Feuerschein, nicht wie Gesichter normalerweise im Feuerschein leuchten, sondern überirdisch schön. Blonde halblange Haare rahmen seine Züge, die jung und ebenmäßig sind: grüne Augen, zarte Lippen und etwas wie ein verborgenes Lächeln, das jeden Teil seines Gesichts erfasst. Seine Schönheit trifft uns ins Mark. Selbst Anna, die sonst selten um Worte verlegen ist, braucht ein paar Sekunden, um sich zu fassen, bevor sie ihn begrüßt und ihn einlädt, sich zu uns zu setzen.

Michael lässt sich nahe am Feuer nieder und streckt die Hände nach den wärmenden Flammen aus. Seine Kleidung ist unscheinbar und seine Haare strubbelig. Nichts in seinem Verhalten deutet darauf hin, dass er sich der Wirkung bewusst ist, die er auf uns ausübt. Alle versuchen wir, ihn unauffällig anzustarren, bis endlich jemand nach einem neuen Lied ruft und die verwirrte Anspannung sich etwas lockert. Das Methorn wird wieder herumgegeben und als die Reihe an Michael ist, trinkt er dankbar und lauscht dann hingebungsvoll unseren Liedern.

»Er sieht aus wie ein Elbenprinz«, haucht Sandrina Moritz ins Ohr, der neben ihr sitzt. »Wo hat der sich nur bisher versteckt? Ich hab ihn noch nie hier gesehen.«

Moritz nickt stumm, ohne die Augen von dem schönen Neuling abzuwenden.

Im Laufe des Abends stellt sich heraus, dass Michael das erste Mal auf dem Mediaval ist und noch niemanden kennt und es ist schnell entschieden, dass er bei uns einen Schlafplatz bekommt. Wie immer verbringen wir den Abend trinkend und singend und auf eine Weise ist es, als hätte Michael schon immer zu uns gehört. Er ist zurückhaltend, aber strahlt eine stille Fröhlichkeit aus. Sein Lächeln überträgt sich auf uns und jeder von uns fühlt sich durch seine Gegenwart ein Stück erhabener als sonst.

Am meisten wird uns wohl an diesem Abend in Erinnerung bleiben, wie Michael irgendwann zu später Stunde leise in ein Lied miteinstimmt. Die ganze Zeit vorher hatte er nur zugehört und erst auf unser vorsichtiges Drängen hin und mit Hilfe von Wein und Met traut er sich irgendwann. Seine Stimme ist wie ein Stück Gold in einem rauschenden Fluss.

Am Vormittag des nächsten Tages kriechen wir nacheinander aus unseren Zelten, sobald die Sonne sich über den Hügel erhoben und die Feuchtigkeit der Nacht verscheucht hat. Wir frühstücken, machen uns zurecht, witzeln und lachen. Fabian liest das Programmheft, Nele starrt in die noch schwelende Glut und leert eine übrige Flasche der vergangenen Nacht und Moritz hat seine Hände flechtenderweise in Sandrinas dichten Haaren vergraben. Michael hält Annas Gitarre in der Hand und lässt sich von ihr geduldig Akkorde erklären. Offensichtlich ist es neu für ihn, doch er begreift schnell und seine Finger formen fast von selbst die richtigen Bewegungen auf den Saiten.

»Du bist ein Naturtalent! Und du spielst wirklich kein Instrument?«, fragt Anna. »So wie du gestern gesungen hast, denke ich, dass du ein absolutes Gehör hast. Du musst daran arbeiten, dann kannst du richtig gut werden!«

Anna flirtet und zieht ihn ein bisschen auf, sie ist mutiger geworden. Michael geht jedoch nicht darauf ein, ernsthaft nimmt er sie beim Wort und ignoriert die schwebenden Nuancen.

»Hier«, sagt Fabian plötzlich, »das Konzert am Samstagabend, das müssen wir uns ansehen. Da spielt Satyrika.«

»Wer?«, fragt Tom.

»Satyrika, das ist eine griechische Folk-Band. Die sind ganz neu und machen Musik, die von der klassischen Antike inspiriert ist. Ihr wisst schon, Theater, Homer und so. Mit historischen Instrumenten!«

»Ja, darüber hab ich gelesen«, meint Sandrina, »angeblich kann der Sänger große Teile der Ilias rezitieren und begleitet sich selbst dabei auf der Lyra. Das sollten wir uns auf jeden Fall anschauen.«

Vorfreude breitet sich unter uns aus, als wir darüber debattieren, was jeder unbedingt sehen will und wir einen groben Plan für die nächsten Tage zurechtlegen. Letztendlich wird es doch anders kommen, wie wir aus Erfahrung wissen: wenn wir plötzlich Juwelen entdecken, sei es eine neue, unbekannte Band, Artisten und Gaukler oder Begegnungen mit alten und neuen Festivalbekanntschaften. Dennoch ist das Pläneschmieden eine schöne Beschäftigung, während wir ungeduldig auf die Entfaltung des Tages warten.

Später, als das Festival endlich offiziell eröffnet ist, laufen wir über das Gelände, sehen uns die Stände an und erkunden alte und neue Orte. Es gibt einige Neuheiten dieses Jahr, denen wir eher skeptisch entgegensehen und zum Glück auch das Altbekannte, das uns das Gefühl gibt, nach einem langen Jahr im Exil endlich nach Hause zu kommen. Während wir auf dem Gelände herumstreifen und da und dort haltmachen, um über die Gaukler zu lachen, einen Blick auf den ein oder anderen Stand zu werfen und bei den ersten Bands vorbeizuschauen, genießen wir es, Michael zu beobachten.

Für ihn ist alles neu und wir werden von seiner leuchtenden, verzauberten Miene zurückversetzt in unser eigenes erstes Mediaval-Erlebnis. Er möchte alles gleichzeitig erkunden und lacht vor Begeisterung über einfachste kleine Dinge. Abends drängt er nach ganz vorne vor die Bühne, um in größtmöglicher Nähe zur Musik zu sein. Wir bemühen uns, ihm in seiner Begeisterung zu folgen, doch bei manchem können wir nur den Kopf schütteln. Nele versucht, ihn zurückzuhalten, bei jeder Band nach vorne ins dichteste Gedränge zu stürmen, während Sandrina sich von ihm anstecken lässt und mit ihm zusammen vor der Bühne tanzt, bis die beiden sich außer Atem auf die Wiese werfen müssen. Fabian steht etwas abseits, als Michael tanzt, und beobachtet ihn. Als ob Michael durchsichtig wäre, sieht Fabian die Musik durch seine Ohren direkt in den Körper fließen. Da ist keine Hemmung, kein hindernder Gedanke. Sie strömt durch ihn hindurch und verwandelt sich ohne Energieverlust in Bewegung und Freude.

Nach dem letzten Konzert finden wir uns alle wieder zusammen und gehen gemeinsam nach unten. Wir sind mittlerweile recht angetrunken und streben nach der Geborgenheit unseres Feuers. Den ausgelassenen Michael nehmen wir in die Mitte.

2 Musik

Der folgende Tag strömt in Harmonie und Fröhlichkeit dahin, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Die Dynamik unseres Zusammenseins hat in ein selbstverständliches Gleichgewicht gefunden und wir genießen die gegenseitige Gesellschaft, die Musik und den Frieden, der durch kein Zeichen des anderen Lebens gestört wird.

Als die Dämmerung hereinbricht und die Luft nach dem fast zu warmen Tag eine laue Kühle annimmt, treffen wir uns alle vor der Burgbühne und warten auf den Auftritt von Satyrika, dem mindestens Fabian und Sandrina den ganzen Tag über entgegengefiebert haben. Wir anderen sind ebenfalls neugierig und erwartungsvoll. Einige Menschen haben sich versammelt, voll ist es nicht – die Band scheint eher unbekannt zu sein.

Als ein einzelner Mann in einem weißen Gewand die Bühne betritt und auf einem großen Saiteninstrument leise zu spielen beginnt, legt sich nach und nach das Murmeln des Publikums und es wird still. Sein leises Vorspiel einer klaren, kraftvollen Melodie webt die Aufmerksamkeit des Publikums und die Saiten der Lyra zusammen, bevor er zu der Melodie zu singen beginnt. Und da werden wir zunächst kaum merklich und doch gewaltig von seinen Liedern ergriffen und gefesselt. Wir vergessen, wo wir sind, vergessen das Vorher und das Später, vergessen, was vor unseren Augen ist. Der Sänger rezitiert Geschichten, auf immer die gleichen Töne, die ständig neu erklingen, und obwohl uns die Sprache fremd ist, tauchen wir in sie ein. Ohne zu wissen, wovon er singt, beben wir vor Spannung und fiebern bei den Höhepunkten mit. Die singende Stimme erzählt von Schicksal und Tapferkeit, Hoffnung und Versagen, Ruhm und Vergessen. In unseren Köpfen sind Bilder, diffus und doch leuchtend, während die Töne uns führen und wirre Farben in die Ordnung von Geschichten verwandeln.

Kaum dass wir Zeit haben, nach dem letzten verklungenen Ton die Bilder von uns abzuschütteln, ertönt ein neuer Klang, gänzlich anders als das bislang Gehörte: Wohlgesetzte, schwebende Töne von einer stählernen Unnachgiebigkeit. Sie stammen von einer antiken Flöte in den Händen einer kleinen, dunklen Frau, die unauffällig die Bühne betreten hat. Genau genommen sind es sogar zwei Flöten, die sie mit je einer Hand spielt und gleichzeitig zum Tönen bringt, so dass sie einen starken, doppelten Klang erzeugen. Der Sänger ist verstummt, doch seine Lyra begleitet das Flötenspiel, während zwei Perkussionisten und ein weiterer Flötenspieler hinzukommen und nacheinander miteinstimmen.

Die beiden Melodiestimmen der Flöten ranken sich auf dem Klangteppich der Lyra in- und umeinander wie wütende Liebende, während die Trommeln die Musik umschließen und vorwärtstreiben. Der dunkle, runde Klang der Flöten reißt weder ab, noch wird er leiser, so dass die Musik wie gespeist scheint von einem einzigen, nicht versiegenden Atemzug. Ihrem flüchtigen Ertönen wohnt eine Notwendigkeit inne, als verliere dagegen alles Materielle an Wirklichkeitsgehalt. Wir erstarren vor banger Ehrfurcht und werden gleichzeitig schwerelos vor Erleichterung, als die Musik unsere nichtigen Existenzen für die Dauer eines Lieds in sich aufhebt. Gebannt beobachten wir die Flötenspielerin, deren Melodie das Lied bestimmt, und sehnen uns danach, im Klang ihres Instruments aufzugehen, das die Makel der menschlichen Stimme überwunden hat.

Für die Dauer des gesamten Konzerts rühren wir uns nicht vom Fleck und saugen die Klänge in uns ein. Fabians Gesicht nimmt bei den gesungenen Passagen einen verklärten Ausdruck an und seine Lippen murmeln manche Worte mit. Sandrina hat die Augen geschlossen und lässt ihren Körper leicht von der Musik hin- und herwehen. Nur Michael scheint seltsamerweise als Einziger nüchtern zu bleiben. Ab und zu blickt er um sich oder schüttelt sich, wie um sich von einem unangenehmen Gedanken zu befreien. Auf seinem ebenmäßigen Gesicht bilden sich von Zeit zu Zeit misstrauische Falten.

Die Lieder gleiten meist von einem ins nächste oder aber sie sind nur von kurzen Pausen unterbrochen, in denen die Musiker ihre Instrumente neu arrangieren. Sie folgen mit ihrem Spiel einer festen Ordnung und nehmen dabei vom Publikum kaum Notiz. Nur einmal zwischendrin streift der Blick der Flötenspielerin müßig die Reihen der gebannten Zuhörer und scheint dabei direkt an uns, die wir vorne stehen, hängenzubleiben. Eine seltsame Intensität geht von diesem Blick aus dunklen Augen aus. Unscheinbar wie die Frau ist, mit ihrem schlichten Gewand und den schwarzen geflochtenen Haaren, trifft ihr Blick uns tief unter die Haut und macht uns frösteln. Michael tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen. Eine leichte Irritation rollt über ihre ruhig konzentrierte Miene, bevor sie den Blick wieder in sich kehrt und die Doppelflöte für das nächste Lied an die Lippen setzt.

Viel zu früh verlassen die Musiker die Bühne und kommen erst nach langen Minuten tosenden Applauses für eine Zugabe zurück. Sie tuscheln untereinander und scheinen kurz etwas verloren. Anscheinend haben sie kein Lied für eine Zugabe geplant. Dann jedoch wendet sich die Flötenspielerin von den anderen ab, blickt in den Himmel und beginnt zu spielen. Die übrigen Bandmitglieder wechseln ratlose Blicke und legen dann ihre Instrumente nieder. Die Bühne gehört allein ihr. Sie improvisiert und dieses, ihr neues, Lied unterscheidet sich von den vorangegangenen. Die jubilierende Ordnung, die ihr Instrument bisher verströmt hat, ist dahin. Sie zögert, spielt sich leise in die Luft, setzt neu an, und plötzlich bricht es aus ihr hervor: sich überschlagende, ungezügelte Töne, die teils dissonant übereinander purzeln und mit archaischer Kraft den Himmel erstürmen. Wir ahnen Schwindel und Abgrund in der Musik und tanzen wie hypnotisiert. Auf Gedeih und Verderb werfen wir uns in den taumelnden Sog der Töne, doch dann ist es mit einem Mal vorbei und die Melodie bricht ab. Die Flötenspielerin blickt ins Publikum, als wäre sie aus einem Traum erwacht, dann verlässt sie hastig die Bühne. Die anderen folgen ihr und das Konzert kommt zu einem abrupten Ende.

Den restlichen Abend verbringen wir wie schlafwandelnd. Die Welt verblasst und wir sind erschöpft. Gleichzeitig hat der Auftritt von Satyrika eine Unruhe in uns hinterlassen. Ziellos wandern wir für eine Weile auf dem Gelände herum, trinken etwas und gehen dann hinunter ans Lagerfeuer. Anna braucht diesen Abend lange, um in ihre Musik hineinzufinden, zu sehr hallt das Konzert in ihr nach, das hinter sich keine Normalität aufkommen lassen will. Doch irgendwann fallen wir hinein in die trostreichen Lieder und alles nimmt seine vertrauten Formen an. Die Nacht hüllt uns in ihren heimelig sehnsüchtigen Mantel. Und wir spüren sogar eine leichte Veränderung und fragen uns, spät am Abend, ob nicht unser Erlebnis mit Satyrika einen neuen Glanz, eine neue Tiefe auf die Nacht und in die Musik gelegt hat.

3 Ekstase

Der dritte Tag atmet schon vagen Abschiedsschmerz, der den Geschehnissen einen bittersüßen Geschmack gibt. Wir treffen uns nachmittags im Chai-Zelt, trinken Tee und genießen die angenehme Schwere der Erschöpfung, die die kurze Pause vom bunten Taumel uns spüren lässt, als Fabian als letzter der Gruppe atemlos hinzukommt.

»Ich habe mit ihr gesprochen«, sagt er, noch ehe er sich hingesetzt hat.

»Ganz ruhig, was ist denn mit dir los? Mit wem hast du gesprochen?«, fragt Moritz träge.

»Mit Adrastea, der Flötenspielerin! Sie lief einfach so allein über den Handwerkermarkt und dann hat sie mich gesehen und mit mir gesprochen.«

»Ah ja, die von Satyrika? Wie konnte das passieren, du sprichst doch sonst nicht einfach Leute an?«

»Hier, trink erstmal«, sagt Anna und schiebt ein großes Glas Tee mit Schuss in Fabians Richtung. »Oder hast du sie so lange angestarrt, bis sie nicht anders konnte, als auf dich aufmerksam zu werden?«

Fabian wird etwas rot, geht aber über den Kommentar hinweg.

»Sie war freundlich, ganz anders, als ich gedacht hätte, und hat mir so viel erzählt … Darüber, welche Texte sie in ihren Liedern verwenden und wie sie antike Melodien rekonstruieren. Das war wahnsinnig interessant. Ich hab ihr erzählt, dass ich etwas Altgriechisch kann und da hat sie sich wohl gefreut und mich gefragt, wie ich das Konzert fand und wie viel ich verstanden habe. Da konnte ich aber nur stammeln und es nicht in Worte fassen. Jedenfalls, am Ende hat sie gesagt, dass die übrigen Bandmitglieder schon weg sind, sie aber diese Nacht noch hierbleibt und da habe ich gefragt … also ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat … jedenfalls habe ich gemeint, wir machen immer Musik unten im Lager und ob sie nicht abends zu uns kommen möchte, wenn sie Lust hat.«

»Was? Und was hat sie geantwortet?«, fragt Michael auf einmal hastig.

»Sie hat kurz nachgefragt, wer wir sind, und hat gemeint, sie überlegt es sich. Dann hat sie geheimnisvoll gelächelt und ist verschwunden.«

Fabians Augen verlieren sich für einen kurzen Moment in der Ferne, bevor er rigoros den Kopf schüttelt, um sich wieder ins Hier und Jetzt zu bringen. Wir sind seinem Bericht fasziniert gefolgt, doch Tom wedelt die schwebende Möglichkeit beiseite.

»Ach, das macht sie doch nicht! Sie hat es nur gesagt, weil sie nett sein wollte.«

Wir kommen von unserem kurzen Höhenflug herunter und gestehen uns ein, dass Tom wohl recht hat. Michael scheint sogar heimlich aufzuatmen und auch in Fabians Gesicht schleicht sich nach der ersten Enttäuschung so etwas wie Erleichterung.

»Ja, wahrscheinlich«, sagt er, »weil sie nett sein wollte. Vielleicht ist es besser so. Ehrlich gesagt hat sie mir ein klein bisschen Angst gemacht. Sie hatte so etwas … Strenges. Und ihre Augen …«

Seine Stimme verliert sich und das Thema ist beendet.

Diesen Abend sind wir schon früh unten am Feuer, da das Festivalgelände am letzten Tag früher geschlossen wird. Wir sind schon sehr betrunken. Wie immer verspricht der letzte Abend zu eskalieren, denn es gilt, alle übrigen Flaschen zu leeren und das Aufwachen in der Wirklichkeit möglichst lange und intensiv hinauszuzögern. Tom und Beate trommeln zu Annas ausgelassenen Trinkliedern und Moritz packt seine kleine Flöte aus, mit der er sich darin versucht, laut und schief den Refrain mitzuspielen. Nele grölt abwechselnd mit und stiert dann wieder mit glasigen Augen ins Feuer, während sie große Schlucke aus einer halbleeren Rumflasche nimmt.

Mit der fortschreitenden Nacht weichen die Grenzen zwischen uns auf und wir beginnen, unmerklich ineinander zu fließen. Neles Kopf fällt schwer in Sandrinas Schoß, wo er von ihren weichen Fingern umschlossen wird. Tom und Beate nehmen Moritz in ihre Mitte, der seine Flöte weggelegt hat und sich an Tom anschmiegt wie eine Katze. Nur Katrin versucht noch, mit Toms Trommel einen Rhythmus aufrechtzuerhalten, während Anna Michael eng umschlungen hat und es dabei weiterhin schafft, der Gitarre Liederfetzen zu entlocken. Es ist nicht auszumachen, ob es Annas oder Michaels Finger sind, die über die Saiten gleiten und wie zufällig manchen wohlklingenden Akkord greifen.

Schließlich ersterben die Gitarrentöne. Eine Weile lang sind nur ab und zu ein leises Kichern oder ein freundlich gemurmeltes Wort zu hören und davon abgesehen nichts als das Knistern des Feuers und der still wabernde Nebel. Bis irgendjemand von uns in die Stille hinein eine zarte Melodie zu singen beginnt. Nach und nach stimmen wir alle mit ein in das wohlbekannte Lied und das Band der Melodie webt uns zusammen, tanzt mit den Funken und schwingt sich heiter hinauf in die Nacht. Unser Lied wogt, mal lauter und mal leiser, durch uns hindurch und über uns hinweg, während wir warm und wohlig ums Feuer herum liegen. Nach einem nicht bestimmbaren Zeitraum, vielleicht zwei Minuten, vielleicht eine Stunde – werden unsere Stimmen allmählich wieder leiser und vorsichtiger und zart in der Luft erklingt eine letzte Strophe, bevor der Gesang verebbt und in eine aufmerksame, tiefe Stille mündet.

»Sehr ergreifend«, tönt eine dunkle Stimme über uns.

Bestürzt ob des plötzlichen Einbrechens von etwas, was nicht wir sind, verrenken wir uns und rappeln uns auf, um zu erkennen, von wo die Stimme kommt. Eine Gestalt ist in unseren Kreis getreten, deren von schwarzem Haar gerahmtes Gesicht vom flackernden Feuerschein bedrohlich erhellt wird. Wir sind auf kaltem Fuß erwischt, trotz der Stille hat keiner von uns sie kommen hören.

»Ich hoffe, ich störe euch nicht«, fährt Adrastea fort, »ich würde mich freuen, euren Kreis mit etwas Wein und meiner Musik bereichern zu dürfen.«

Ihre Stimme ist leise und gleichzeitig von einer Fülle, die uns in ihren Bann zieht. Ein leichter südländischer Akzent formt die Ränder ihrer Worte. Ohne unsere überraschte, eifrig einladende Antwort abzuwarten, kniet sie sich zu uns ans Feuer und öffnet einen Weinschlauch, den sie umgehängt hat.

»Ich danke euch für das Angebot eurer Gesellschaft heute Abend«, sagt sie und nickt dem verwirrten Fabian dabei zu. »Lasst uns trinken und fröhlich sein! Auf Dionysos!«

Sie gießt einen Schluck Wein ins Feuer und gibt den Schlauch danach im Kreis herum. Der Wein schmeckt süß und stark und steigt uns sofort zu Kopf. Als alle reihum getrunken haben, klatscht Adrastea in die Hände und verlangt ein Lied. Unsicher blicken wir zu Anna, die zögernd die Gitarre aufhebt und ihren Körper strafft.

»Ich glaube nicht, dass du hören willst, was ich jetzt noch auf der Gitarre zustande bringe«, sagt sie und lacht nervös, »wir trinken heute Nacht schon eine Weile und ich weiß nicht, ob ich meinen Fingern noch vertrauen kann.«

Adrastea fegt ihre Zweifel mit einer Handbewegung beiseite.

»Ach, umso besser. Lass hören!«

Anna konzentriert sich und beginnt eine komplizierte Ballade. Beate klopft vorsichtig einen Rhythmus dazu und wir anderen stimmen beim Refrain in den Text mit ein. Adrastea lächelt und lauscht aufmerksam, dann holt sie ihre zwei Flöten hervor und improvisiert zur Hälfte des Liedes eine zweite Melodiestimme. Der durchgehende Klang verwandelt das bekannte Lied in ein seltsames, neues Geschöpf, das sich unsere Stimmen aneignet. Als die letzte Strophe zu Ende gesungen ist, spinnt Adrastea den Melodiefaden weiter und weiter, bis das ursprüngliche Lied nicht mehr erkennbar ist. Die dunklen Töne werden wilder und jubelnder, so dass unsere Körper von ihnen ergriffen werden. Beate steigt schnell und energisch mit ihrer Trommel in die Musik ein. Dann setzt Adrastea die Flöten ab und steht auf.

»Kommt und tanzt!«, ruft sie. »Ihr seid jung, ihr seid frei!«

Wie in Trance folgen wir ihrer Aufforderung. Die steifen Glieder streckend erheben wir uns und beginnen uns im Gleichklang mit den Tönen zu bewegen, die Adrastea ihrem merkwürdigen Instrument entlockt. Ihr neues Lied ist zuerst langsam und zart und verströmt doch jene Unerbittlichkeit, die ihrer Musik eigen ist. Ganz nah am Feuer steht die kleine Frau in kerzengerader Haltung und ehrfurchtgebietend, während wir uns schwebend um sie herumbewegen. Ohne die Flöten abzusetzen und ohne auch nur das geringste Atemholen, verändert sie ihr Spiel, wird mal wilder, dann wieder langsam und getragen und wir müssen ihr folgen, können nicht aufhören zu tanzen, gönnen uns keine Pause.

Die Musik wechselt in ihrem Charakter zwischen jener funkelnden Notwendigkeit, die uns schon am vorigen Abend entzückt hatte, und erschreckender Anarchie. Mal klingt sie, als ob alles, was vorher gewesen ist, nur auf sie hingeführt hat, alles Leben auf der Erde, jeder Schritt, jedes zufällige Dasein, in der Melodie dieses Moments kulminiert, in dem wir auserkoren sind, zu ihr zu tanzen. Für die Dauer der Töne, in ihrem Tempo, ihrem Rhythmus, bekommt auf einmal alles einen Sinn verliehen und darf in der Musik aufgehen. Dann wieder erzählen die dunklen Töne von der grausamen Unentrinnbarkeit des Zufalls und Adrasteas Flöten schreien in wütenden Melodien den tiefsten Schmerz des Daseins heraus. Wir sehen der Unerträglichkeit dieses Schmerzes ins Auge und werden in seinem Angesicht von höchster Entzückung ergriffen.

Die Nacht um uns herum verliert an Wirklichkeit und wir sind entrückt an einen fremden Ort, an dem es uns endlich möglich wird, wahrhaftig zu einem Wesen zu verschmelzen, aufgespalten in neun tanzende Inkarnationen. Die restlichen Lagerfeuer mit anderen Festivalbesuchern existieren längst nicht mehr, es gibt nur das tanzende Wesen mit dem großen Willen in der Mitte. Und doch – etwas ist da noch. Flackernde Schatten, geschmeidige Gestalten. Kaum aus dem Augenwinkel erhascht, mal eine Tatze, mal ein Fauchen, umschließen sie unseren Kreis. Sind es Raubkatzen, Bären? Dazwischen irgendwo ein Ziegenbock, soviel ist sicher. Sie folgen wie wir der Musik.

Dann hält Adrastea inne und wirft ihre beiden Flöten ins Feuer, während die Musik lauter und vielstimmiger wird. Von überall tönen singende Stimmen, von um uns her, von den wilden Wesen oder kommen sie aus uns? Adrastea steht am Feuer oder darin und erhebt die Arme. Sie ruft uns zu sich, das Feuer knackt und wirft Funken, wir schwitzen und glühen im Tanz. Ihr Mund bewegt sich, sie ruft, doch wir verstehen nichts, denn die Musik ist überall, und wir reißen uns die Kleider vom Leib, das Feuer ist so laut, wir tanzen schneller und schneller. Noch einmal ruft sie, ihr Kopf von Flammen und Hörnern umkrönt, gebieterisch zeigt sie in unsere Mitte. Jetzt hören wir, was sie sagt, und müssen gehorchen, wir wollen gehorchen, welch süße Lust, uns ihrem Willen zu ergeben. Doch wir sind eins, neunmal dasselbe, einmal vielgestaltig. Sie zeigt auf jeden von uns und doch auf einen. Den Schönsten, den Reinsten.

Zu ihr ans Feuer tritt Michael, schweißtropfend die Brust, Angst im Gesicht. Sie küsst ihn sanft auf den Mund, legt einen Blätterkranz auf sein Haar und ein Tierfell um seine nackten Schultern. Wir übrigen sind zerteilt, verwirrt, wir halten inne im Tanz. Wie angewurzelt starren wir ihn an, den Unsrigen. Anderen. Schön ist er, die zarte Haut, das Haar, das pochende Blut.

Wir wollen ihn haben. Ihn an uns spüren und in uns. Wir sind von der Gier besessen, ihn zu besitzen, mit ihm zu verschmelzen. Sie stößt ihn und wir stürzen uns auf ihn. Er rennt, doch wir packen ihn. Er schreit, doch wir reißen ihm die Zunge heraus. Wir zerren, beißen, saugen. Geweitete Augen. Blut in Strömen. Reißen, Schlingen, Verzehren. Köstliches Fleisch. Oh, nie gekannte Verzückung!

Bis nichts mehr von ihm übrig ist.

4 Epilog

Am Morgen der Abreise trommeln schwere Tropfen monoton auf die Zeltdächer und sammeln sich in kleinen, schlammigen Rinnsalen. Bleierne Wolken hängen tief über dem Campingplatz und Blutflecken werden aufgeweicht und fortgespült. Manch einem fließt das Wasser ins Zelt, über die Vorräte, in den Schlafsack. Alles ist feucht und klamm. Gedämpfte, kurz angebundene Stimmen durchbrechen ab und zu das Rauschen des Regens, während der Zeltplatz von hastiger, stiller Aktivität wimmelt. Überall wird aufgeräumt, abgebaut, eingepackt.

Es wird schwierig für uns sein, nach Hause zu kommen und den Alltag aufzunehmen. Nach den Geschehnissen der vergangenen Nacht Normalität aufkommen zu lassen. Doch die Zukunft steht uns mit außergewöhnlicher Klarheit vor Augen. Mit einer stoischen Schicksalsergebenheit nehmen wir an diesem nasskalten Septembermorgen die Aufgabe an, die vor uns liegt: das Weiterleben mit dem Wissen um das Schreckliche, das wir begangen haben.

Wir reden nicht viel. Wie immer am Tag nach dem Festival sind wir schlecht gelaunt und verkatert. Und mit aller Macht halten wir uns fest an diesem Gefühl – und an der Routine des Abbauens. Wir spüren die vertraute Traurigkeit der nahenden Trennung, die sich diesmal jedoch anders anfühlt als sonst – tief und endgültig. Denn es war das letzte Mediaval für jeden von uns. Wir werden uns nicht wiedersehen.

Wir sind die Bunten. Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval

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