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Der letzte Tag
ОглавлениеIch ging durch die engen, leeren Straßen. Die hohen Häuserschluchten drohten mich zu verschlingen und mich unter ihren Schuttmassen zu begraben. Von irgendwoher wehte mir Orgelmusik entgegen. Dann mischte sich das helle Singen einer Frauenstimme mit den Klängen, die aus den unsichtbaren Orgelpfeifen kamen. Die Klangwellen sausten an die Häuserwände, brachen sich, wurden reflektiert und kamen zurück, wobei sie sich mit den entgegenkommenden Wellen kreuzten. Ich stand mitten im Zentrum und war plötzlich selbst ein Teil dieser Symphonie. Der Sog dieser himmlischen Musik verschlang mich, ließ seine Brandung über mir zusammenbrechen. Die Tonfontänen spritzten in den Himmel, brachen in die Knie und ließen ihre Klangtropfen aus D-Moll auf das Straßenpflaster klatschen. Die Stimme verwehte im Wind und verschwand durch die offenen Fenster, die mich wie schwarze Dämonenaugen aus den Wänden anstarrten. Von den gigantischen Höhen funkelte die Sonne auf mich herab. Funkelte wie ein Diamant, in dem ein eiskaltes Feuer loderte, welches die Herzen der Menschen, wenn es überhaupt noch welche gab, zu Eisklumpen gefrieren ließ. Fröstelnd zog ich den Nacken ein, obwohl die Sonne warm über die Haut meines nackten Körpers strich. Plötzlich bemerkte ich die körperliche Nähe einer lebenden Kreatur. Ich drehte mich suchend um, sah dreihundert Meter vor mir in einem zerfallenen Torbogen eine Bewegung. Sollte ich jetzt in der Einsamkeit des Weltunterganges jemanden finden, der dieses Los mit mir teilte? Ich schlurfte also los. Weiße nackte Haut flimmerte dort im warmen Sonnenlicht, verwischte in der Schwüle wie verschüttete Milch auf einem blankpolierten Küchentisch. Mit abnehmender Entfernung sah ich nunmehr weibliche Formen. Dort stand ohne Zweifel ein Mädchen von Anfang 20. Sie hatte langes, schwarzes Haar und eine schlanke, ebenmäßige Figur. Etwas ängstlich sah sie mich an und verdeckte mit beiden Händen ihre Scham, was ihr aber nicht ganz gelang. Es trennte uns nur noch eine Straßenbreite, und ganz plötzlich überkam mich die Wonne und Begierde. Ich fühlte mich zurückgesetzt in die Zeit mit Sandra, als es noch alles gab auf der Welt.
Ich drehte meinen Rücken zum Himmel, der von den Baumkronen verdeckt wurde. Sandra lag unter mir und stöhnte leise. Gleitend fuhr meine Hand über ihre schweißüberströmten Brüste, die im Sonnenlicht glänzten. Sie sah mich mit großen tränenverwischten Augen an. Ihr dunkler, sinnlicher Blick war ängstlich und gierig zugleich. Sandra hatte ihre zarten Arme um meinen Hals geschlungen und mit ihren feingliedrigen Händen kraulte sie meine Nackenhaare.
Daran dachte ich, als ich meinen Fuß auf die Straße setzte. Endlich hatte ich nach Jahren wieder einen Menschen getroffen. Nun brauchte ich nicht mehr allein durch die leeren, brüchigen Häuserschluchten zu gehen. Vielleicht konnten wir Kinder in diese zerstörte Welt setzen. Das wäre ein Anfang für eine neue Menschheit, die sich aus dem atomverseuchten Schutt herausbuddelt, um dann ihren Planeten neu aufzubauen. Dies brauchte nicht der letzte Tag zu sein, weder ihrer noch meiner. Noch zwei Schritte trennten mich von der Zukunft, die für unsere Nachfahren mal besser sein sollte, als ich ein sausendes Brummen hörte. Ich sah noch die weit aufgerissenen Augen des Mädchens, da traf mich ein Steinbrocken, der sich vom kaputten Dach gelöst hatte, im Nacken. Ich hörte nur noch den langen, nicht enden wollenden Schrei des Mädchens, und merkte nicht mehr, wie mein Genick brach und mein Kopf zerdrückt wurde, als gehöre er einer Schaufensterpuppe.
© Bernhard J. Hinze, 1972