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Zeit der Trauer

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Ute Meier.

Die Trauer nagt an ihr wie eine Ratte. Sie fühlt sich innerlich kalt und leer. Verzweifelt steht sie vor einem Abgrund, der Einsamkeit heißt. Alle Freuden, jedes Glück sind dahin. Sie kann nicht mehr richtig schlafen. Es ist eine Ungerechtigkeit. Ein Betrunkener, zu nichts nutze. Und doch mächtig genug, um ihren geliebten Mann zu töten. Schlimmer noch: Ihr Kummer schwindet dahin. Franst irgendwie aus. Die Schmerzen bleiben, aber sie lösen sich in Erinnerungen auf. Wie lange kann ein Mensch ausbluten? Sie erinnert sich an seine Haut, an seine Umarmungen, auch an sein Gesicht, muss dann aber bereits die alten Fotos betrachten. Die guten Tage, die lustvollen Nächte. Das Lachen. Die ernste Miene, wenn er mit ihr böse war. Doch die Erinnerung verdünnt, verwässert mit alltäglichem. Sie versucht, sich an ihre Trauer zu klammern, sie zu hätscheln und zu pflegen. Es gelingt ihr nicht. Nur ihre Kinder, zwei kleine Mädchen, halten sie davon ab, sich gehenzulassen.

»Das Leben geht weiter«, sagt ihr Rita, ernst und vorwurfsvoll. Alle bemühen sich um sie.

Ein Schlag, eine Tragödie. Die Welt hätte aufhören müssen sich zu drehen. Aber sie dreht sich weiter. Ute funktioniert. Nur wenige Stunden nach der tränenreichen Beerdigung sitzt sie wieder in der heimischen Küche und macht den Haushalt. Sie hört sich die Beileidsbekundungen ihrer Bekannten, Nachbarn und Freunde an. Sie fährt fort zu leben, leben ohne ihn. Freunde versuchen alles mögliche. Besuche, Einladungen, Parties und Grillfeste. Bemühen sich, sie auf andere Gedanken zu bringen. Versuchen, sie mit anderen Männern bekanntzumachen. Ute lehnt alles ab. Äußert, dass sie in den nächsten Jahren bestimmt keine neue Beziehung eingehen wird. Sie hängt herum in ihrem Haus südwestlich von Stade und frisst den Kummer in sich rein.

Sie versucht sich abzulenken. Alkohol hilft nicht. Tabletten auch nicht. Ebenso fernsehen. Eine schlanke Frau, durch die beiden Geburten in der Hüfte etwas breiter. Dunkle Augen, braune Haare, helle Haut. Ernste, traurige Gesichtszüge, von Tragik umwittert. Ihre weitere Bestimmung gedämpft, aber vorhanden, bereit. Alles jederzeit zur Verfügung. Liegt brach. »Ich will alles«, hatte sie zu ihrem Mann gesagt. Aber es ist vergeudet. Kein Bedarf. Jetzt bewegt sie sich schwerfällig durch das Leben ohne Sinn und Reiz. Das Gift der Trauer ist in ihr. Sie verfault von innen heraus.

»He, alte Kameradin«, sagt ihre Freundin Rita, wie ein Mann zu einem Mann reden würde, »wir müssen dich da rausholen. Stellen wir doch für eine Nacht die Stadt auf den Kopf, du und ich.«

»Nein«, widerspricht Ute Müller.

»Hör doch auf, dich selbst zu bemitleiden!«

»Meinst du, dass ich das tue?«

»Natürlich. Es ist nichts als Selbstmitleid.«

»Na schön«, meint Ute, »mach' ich dir die Freude. Sonst gibst du ja keine Ruhe. Gehen wir.«

Sie fahren nach Stade. Trinken. Tanzen. Trinken. Fahren heim.

Halten unterwegs bei altbekannten und neuen Kneipen an, um noch mehr zu trinken.

Brüllen. Singen.

Und Ute hasst sich dafür. Selbstbetrug.

Nach Mitternacht. Irgendwo in der Altstadt. Rita sagt:

»He, alte Freundin, wir haben ein Männer-Strip-Lokal neu im Bezirk. Wie wär's, wenn wir das mal besichtigen würden?«

»Wozu denn, zum Teufel?« brummt Ute. »Ich habe schon mal nackte Männerhaut gesehen.«

»Komm doch! Mach mir bloß nicht weis, dir wird nicht feucht im Schritt, wenn dir so ein strammer Hengst seinen Schwanz vor dem Gesicht wedelt.« Man merkt sofort, dass Rita viel getrunken hat, es ist sonst gar nicht ihre Art, solche Sprüche in diesem Vokabular loszulassen.

»Wir trinken noch ein Glas oder zwei, bleiben etwas und amüsieren uns.«

»Höchstens eine halbe Stunde«, stimmt Ute nun zu, damit sie ihre Ruhe hat. Das Lokal heißt BIG BAG, was wohl eine Andeutung auf die gezeigten Geschlechtsteile sein sollte. Eine Art Scheune mit Tischen, die kaum größer als ein Taschentuch sind. Eine Stehbar. Zwei Bühnen nebeneinander. Auf jeder gleichzeitig drei Männer. Sie tanzen eine Viertelstunde lang zur Discomusik vom Plattenteller. Dann kommt die nächste Schicht Tänzer.

»Oh, Mann«, sagt Rita und streicht sich mit den Händen über die schwarzen Haare.

»Schau dir den mit dem Riesending an, dort drüben. Kein Wunder, dass der so breitbeinig geht.«

Die Viertelstunde ist vorüber. Die Tänzer verlassen die Bühnen. Gäste, nur Frauen, winken. Männer, die eben noch auf der Bühne tanzten, kommen rüber, steigen auf Tische und geben Solovorstellungen. Sie tragen nur einen winzigen Stringtanga mit einem Bändchen zwischen den Pobacken, damit sie die Trinkgelder wegstecken können. Andere tragen gar nichts.

»Die machen ungefähr vierhundert die Nacht«, meint Rita lallend. »Wie findest du das?«

Ute antwortet nicht, ihr wird übel. Sie riecht billiges Rasierwasser. Schweiß. Abgestandenes Bier. Urin. Deodorants, die einem das Wasser in die Augen treiben, die einem das Mittagessen wieder hoch aus dem Magen holen.

»He, alter Kumpel, gönnen wir uns doch einen. Unser ganz privater nackter Dandy. Wie wär's mit dem Blonden von der linken Bühne. Mir gefällt sein rasierter Sack.« Rita kann es nicht lassen, in dem ungewohnten Gassenton zu reden.

»Ganz wie du meinst«, sagt Ute und ekelt sich, weiß nicht, was sie hier tut. Die Musik verstummt. Rita kommt schwankend auf die Beine, winkt den Blonden heran. Er bahnt sich seinen Weg durch die Tische. Atmet schwer. Glitzert vor Schweiß.

»Hallo, die Damen. Privatvorstellung? Kostet aber zwanzig.« Provozierend wiegt er sich in den Hüften.

»Kann ich mir denken«, erwidert Rita, greift in die Tasche und drückt ihm den Schein in die Hand. Wie unbeabsichtigt streicht sie ihm mit den Fingern über das Geschlecht.

»Du bist aber viel Mann fürs Geld«, kichert sie.

»Vorsicht«, er macht einen Schritt zurück, »gucken ja, anfassen nein!«

Er steigt auf den Tisch. Die Kellnerin bringt unaufgefordert eine weitere Runde Getränke. Die Musik setzt wieder ein. Ihr Nackttänzer beginnt mit den Fingern zu schnippen. Wiegt sich in den Hüften. Windet sich. Lässt seinen Penis schwingen.

Sie sitzen da und trinken. Schauen zu ihm auf, mit blödem Grinsen. Er hängt drohend über ihnen. Spreizt obszön die Beine. Hält seinen rasierten Hodensack Ute direkt vor das Gesicht. Ein erregender, seltsamer Geruch. Kalte Asche. Totes Feuer. Verbrannter Duft. Ute ekelt sich. Würgt. Lässt sich abtreiben in ihre Trauer. Der Schmerz pocht tief in ihrem Magen, hält ihr Herz fest umkrampft. Stöhnt auf.

»Amüsierst du dich?« Rita fragt mit schwerer Zunge. »Sex auf diese Art, als Geschäft stößt mich eher ab. Hat es eigentlich schon immer. Ich bin ja nicht prüde. Aber dies …«

Ute macht eine abwertende Handbewegung. »So schmuddelig, ohne Gefühl. Da läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Lass uns lieber gehen.« »Hast recht, habe sowieso genug«, sagt Rita und hakt sich bei Ute unter. Zusammen verlassen sie den verqualmten Laden.

Zuhause angekommen, macht Ute überall Licht. Traurigkeit durchdringt ihre verletzte Seele wie dichter Nebel. Stille. Ihr fröstelt plötzlich. Kälte, obwohl es warm im Haus ist. Geborgenheit, obwohl sie das Gefühl hat, die Einsamkeit würde sie erdrücken. Die Kinder schlafen oben in ihren Betten. Im Wohnzimmer setzt sie sich in den Sessel, dem Lieblingsplatz von Klaus. Streicht über das Polster. Quält sich mit Erinnerungen. Horcht auf vergangene Stimmen. Ihr Blick ist nach innen gerichtet, verschwimmt in den austretenden Tränen. Still weint sie vor sich hin. Kalte, gierige Finger halten ihr Herz umschlossen und lassen es nicht zerspringen, obwohl es schon zerbrochen ist. Zermürbende Schatten legen sich auf ihren sonst so wachen Geist. Ute denkt nach. Ertrinkt in ihrer Trauer.

Die Wochenenden sind schlimm. Als Klaus noch lebte, waren sie die besten Tage, obwohl sie auch da manchmal allein war. Man hatte sich einfach amüsiert, müßig, Lachen und Neckereien. Ein Abendessen. Eine gute Flasche. Scherze. Kuscheleien auf der Couch. Erotische Spielchen. Waren zufrieden. Dann gingen sie langsam ins Schlafzimmer. Behutsames, zärtliches Lieben. Alles ein bisschen benommen, alles irgendwie aufregend. Gespräche. Schließlich süßer, tiefer Schlaf. Alles dahin. Ihr Mann ist tot.

Was sagte ihre Mutter? »Du wirst feststellen, dass all die alten Klischees wahr sind. Das Leben geht weiter. – Die Zeit heilt alle Wunden. Und so weiter. Aber selbst, wenn man das weiß, bleibt dennoch eine große Leere. Ein weißer Fleck im Leben. Dennoch, man versucht es.«

Ute grübelt, noch leicht benebelt von dem Alkohol, findet keine Erklärung, geschweige einen vernünftigen Grund. Das alles kann nur Zufall gewesen sein. Unglücklicher Zufall. Grausamkeit des Schicksals. Wenn das Leben keinen Sinn und keinen Zweck hat … Was dann? Der Kluge pflückt die Knospe, ehe sie erblüht. Gibt es eine andere Wahl? Da ist Bernhard, ihr alter, lieber, intimer Freund, der ausgerechnet jetzt nach dreizehn Jahren während ihres schlimmsten Schmerzes auftaucht, sich stille Hoffnung macht und sie in tiefe Verwirrung stürzt. Sie weiß nicht, was sie davon halten soll. Wird von ihm an Glück erinnert, Glück, das sehr lang vor der großen Trauer war. Er will warten. Sagt: »Ich hoffe einfach, irgendwann ist die Zeit da, und wir sind reif genug. Alles wird wieder so sein, wie es war. Wir werden uns erneut geborgen in den Armen liegen, tief ineinander versunken, die Welt vergessen und alles Leid.«

Konnte es alles wieder so werden? Daran will Ute eigentlich noch keinen Gedanken verschwenden. Vielleicht später mal, wenn sich ihr Herz wieder geöffnet hat. Eines weiß sie aber ganz bestimmt: Das Leben geht tatsächlich weiter. Mit oder ohne Trauer. Mit oder ohne den Bildern der Erinnerung, die sie so quälen. Das ist sie schon allein ihren Kindern schuldig, die jetzt ohne Vater aufwachsen müssen. Erleichtert begibt sie sich zum Schlafen.

© Bernhard J. Hinze, 1990

Bunte Mischung

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