Читать книгу Kindheitserinnerungen am Rande der Geschichte - Bernhard Nessler - Страница 11
Оглавление6. Die Kirchenrenovierung
Aber die Schule war für mich nicht das Ein und Alles. Es gab Erlebnisse, die mir noch wichtiger waren, auch wenn ich mich mit ihnen von den Freunden und auch von der Familie absetzte. Allein sein oder anderes tun als die anderen war für mich nie ein Problem.
Die Eltern waren sehr katholisch. Die Pfarrkirche und alles, was dort geschah und angekündigt wurde, beeinflusste den familiären Tages- und Wochenverlauf viel mehr als etwa die Politik, zu der sie eine große Distanz wahrten. So war es auch für die Familie ein bedeutsamer Vorgang, als es im Frühjahr 1939 hieß, dass die Pfarrkirche renoviert werden solle und dass alle Gottesdienste für längere Zeit in die Unterstadtkirche verlegt würden. Mich interessierte diese Renovation von Anfang an in ganz besonderer Weise. Sie war für mich wohl die erste große Sensation, die ich erlebte und vielleicht ähnlich aufnahm wie Jugendliche von heute die „Star Wars“ -Filme. Und ich verfolgte die Renovation in allen einzelnen Phasen. Da wurden gleich schon die Bänke ausgeräumt. Ringsum an den Wänden und auch mitten im Raum wurden Baugerüste aufgestellt. Man konnte die Baustelle jederzeit besuchen und feststellen, dass tatsächlich gewaltige Baumaßnahmen erfolgten. Als sie schon weitgehend vorangeschritten waren, wurde der Chorraum der Kirche wieder freigegeben und für die allmorgendliche Messe genutzt. Es war nun ein völlig veränderter Raum. Es war hell, wo zuvor eine einzige Düsternis herrschte. Anstelle der vorherigen Flachdecke gab es nun ein Gewölbe mit gotischen Zwickeln über den Fenstern. Der Hochaltar war bereits aufgestellt. Über den Altarstufen nun der Altartisch und ein Aufbau, der schon teilweise versilbert und vergoldet war. In der Mitte der goldene Hostientabernakel, darüber die Nische für die Aussetzung der Monstranz. Rechts und links gab es je zwei Nischen mit den Evangelisten. Diese Statuen waren auch vergoldet ebenso wie das große Wandkreuz über dem Altar. Welch eine Pracht! Ich habe die leeren Gold- und Silberfolienheftchen gesammelt, die anfangs noch auf dem Boden herumlagen und in denen es noch Spuren der aufgetragenen Gold-und Silberblättchen gab.
Auf beiden Chorseiten waren provisorisch schon die Chorbänke aufgestellt, in denen die Gläubigen der Messe beiwohnen konnten. Ich war durch die ganze neue Gestaltung so verzückt, dass ich als fast Siebenjähriger eine gewisse Zeit hindurch jeden Morgen zur Messe ging.
Nicht nur die Eltern waren über meinen plötzlichen religiösen Eifer höchst verwundert, sondern auch die Ordensschwestern, neben denen ich bei der Messe im Chorraum Platz nehmen musste. Zwischen ihren Flügelhauben schaute ich immer wieder auf die Domina, meine Kindergartenschwester, die mir immer wieder zuzwinkerte und die ich immer noch liebte, obwohl sie mich bei der letzten Weihnachtsfeier im Kindergarten bei der Theateraufführung gezwungen hatte, einen Zwerg zu spielen mit einem absolut widerlichen aufgeklebten Schnauzbart. Die Schwestern lobten mich für meinen Messebesuch, während meine Freunde meine plötzliche Kirchgängerei absolut verurteilten. Sie machten sich lustig über mich und gaben mir den Spitznamen „Pfarrer“. Nichts fand ich unangemessener, nichts brachte mich mehr in Wut als das. Denn ich ging ja keineswegs so oft in die Kirche, weil ich Pfarrer werden wollte. Doch von meinem Erstaunen über die Umwandlung des Chorraums und dann des gesamten Gotteshauses konnten sie mich nicht abbringen.
Unendlich lange dauerte es, bis das Gerüst aus dem Hauptschiff entfernt wurde. Ich war einmal an einem Sonntagnachmittag mit meinem Cousin auf das Gerüst unter der Kirchendecke geklettert und konnte sehen, wie dort ein riesiges Deckengemälde im Entstehen war. Auf dem Gerüstboden überall Säcke mit Gips, Eimer mit Farbe und Werkzeug jeglicher Art. Auf der Deckenfläche waren schon riesige Zeichnungen zu sehen und an vielen Stellen Farbproben. Welch eine Offenbarung, als die Restaurierung schließlich abgeschlossen, die Gerüste entfernt waren und die Kirche, wie man sie vorher überhaupt nicht kannte, zu sehen war. Sie war nun kein leerer, dunkler und hässlicher Scheunenraum mehr wie zuvor. Die kitschige blaue Decke mit den aufgemalten gelben Sternen war verschwunden. Es gab nun eine wirkliche Architektur. Die Wände waren gekrönt von einem Stuckgesims ringsum, das die nun eingewölbte Decke mit einem Deckengemälde trug. Zwischen den Fensterausbuchtungen war das Gesims abwechselnd mit Putten und goldenen Amphoren mit Blumensträußen verziert. Die Deckenfläche war um das Deckengemälde herum durch Blattgirlanden aus Stuck verziert und in geometrische Felder mit Rosetten aus Akanthusblättern klar gegliedert. Über dem Rundbogen der Chorwand schwebten zwei riesige Engel und präsentierten ein großes Medaillon mit den Wappen der Fürstbischöfe, die in der alten abgebrannten Vorgängerkirche beigesetzt worden waren. Und dann das Deckengemälde mit Marias Himmelfahrt. Der ganze Raum schien jetzt nur geschaffen, um diese Himmelfahrt als das große Ereignis zu zeigen. Ich war durch alles, was es da ganz neu zu sehen gab, total fasziniert. Erst viel später freilich war ich in der Lage, zu analysieren und nach der Bedeutung der Dinge im einzelnen zu fragen.
Erstaunlich und im Nachhinein kaum verständlich ist für mich, dass in einem Jahr, in dem im ganzen Reich die Durchdringung des öffentlichen Lebens mit der Naziideologie und der Naziherrschaft einen absoluten Höhepunkt erreichte, diese Kirchenrennovation möglich war. Freilich fand in Meersburg die nazistische Agitation trotz vieler nazistischer Manifestationen in der Stadt gewisse Grenzen. Die alteingesessene Bevölkerung war katholisch und blieb kirchentreu trotz aller Nazipropaganda. Und sie war für die vielen oft versteckt zeitkritischen Predigten des Stadtpfarrers nach wie vor empfänglich. Er war denn auch gewiss die treibende Kraft hinter der Renovierung. Und so war ihr Kern letztlich auch eine theologische Aussage, die durch das neu in die Kirche eingebrachte Deckengemälde gemacht wird. Es stellt Inhaltlich „Mariä Himmelfahrt“ dar. Diese ist eigentlich eine Antwort auf „Mariä Heimsuchung“, die „Verkündigung“, die als Patronatsfest der Kirche gefeiert wird und an einem Seitenaltar auch bildlich dargestellt ist. Die theologische Besonderheit des Gemäldes besteht jedoch darin, dass es in einem Zeitpunkt entstand, bevor die Dogmatisierung von „Mariä Himmelfahrt“ durch Rom erfolgte und dass es inhaltlich klar Stellung bezieht nicht für die Konzeption eines Aufstiegs Marias in den Himmel (Ascension) wie bei Christus in Christi Himmelfahrt, sondern für die einer Aufnahme (Asomption) durch die im Himmel thronende Dreifaltigkeit. Von ihrem pompösen irdischen Grab aus umschweben Maria kleine von der Dreifaltigkeit ausgesandte Engelchen und geleiten Maria nach oben, wo sie erwartet wird. Um das Grab herum hinterbleiben in Aufruhr geratene disputierende, sehr korpulente Gestalten, wohl die Apostel und Maria Magdalena mit einem besonders dicken Arsch, das einzige, woran die Meersburger in diesem Gemälde Anstoß genommen haben. Sie haben dieses Himmelsgemälde geduldet, mehr wahrscheinlich nicht, da immerhin die Stadt am Rande auch mit abgebildet wird. Von großer Zustimmung der Gläubigen war nie etwas zu hören.
Es wäre interessant zu wissen, ob Otto Dix das Gemälde gesehen hat, der ja in dieser Zeit am Bodensee lebte und Malverbot hatte, weil seine Kunst als „entartet“ eingestuft und deklassiert worden ist, das neue Deckengemälde der Pfarrkirche offenbar nicht. Ein gewisses Einvernehmen des Pfarrers mit der Politik muss es da vielleicht doch gegeben haben. Und die neoklassizistische Gestaltung des Raumes ist zweifellos ein architektonisches Zugeständnis an die Zeit. Es ist derselbe Stil wie derjenige der nazistischen Architektur etwa in München. Aber es gibt keine nur dekorativ eingefügten protzigen Säulen und keine funktionslosen Pilaster, also nichts vom nazistischen Monumentalismus. Das ganze Stuckgesims scheint einzig dazu da, das Deckengemälde zu tragen. Und dieses ist für eine Pfarrkirche, die geographisch im Kontext steht zu den barocken Kirchen im Neuen Schloss und im ehemaligen Priesterseminar und zu den Kirchen in Baitenhausen oder in Birnau eine analoge Notwendigkeit.
Dem Kirchgänger von 1939, der die Kirche heute besucht, muss auffallen, dass es die silberne und goldene Ausstattung am Hochaltar nicht mehr gibt. Sie wurde bei einer neueren Renovation samt den Altarskulpturen spurlos beseitigt. Nicht nur meine kindliche Begeisterung darüber ist damit zu einer spurlosen Vergangenheit und zu einem Nichts zerronnen, sondern auch die Bezeugung des Sinns, den die Initiatoren mit der Silber- und Goldausstattung möglicherweise verbanden. Das Chorkreuz, der Tabernakel und der Altar mit den vier Evangelisten bildeten nicht nur die Zielperspektive des Kirchenraumes, sondern repräsentierten auch die wesentlichen Inhalte des katholischen Glaubens. Es war vielleicht eine sehr subtile Antwort auf den Unglauben des Naziregimes und seinen Nihilismus, diese Inhalte in einer vergoldeten Repräsentation darzustellen. Man konnte dabei etwa an den Sinn der Vergoldungen an den mittelalterlichen Altären denken oder bei einer gewissen Weltkenntnis an die Rolle der Vergoldungen in buddhistischen Tempeln. Die zentrale symbolische Aussage von Vergoldung ist jeweils: Es gibt nichts Höheres. Und so waren die Vergoldungen am Hochaltar der Pfarrkirche auf jeden Fall ein sakraler Affront und eine Provokation namentlich auch im Jahr 1939 auf die hochstaplerische Arroganz der nazistischen Politik.