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2. Die Kindheit in der Meersburger Unterstadt

I. Das Geburtshaus

Meine Eltern wohnten ursprünglich in Meersburg in der Unterstadt in der Spitalgasse. Sie hatten ein Haus direkt hinter dem Strandcafé. Es war nur wenige Schritte vom Schiffshafen, von der Seestraße und vom Seeufer entfernt. Es hatte drei Stockwerke. Im Erdgeschoss war nach einem Umbau der Kuhstall und daneben der Aufgang zum Wohnbereich. Aufgrund der Seenähe und der Höhe des Wasserspiegels gab es keinen Keller. Im 1. Stock befand sich unsere Wohnung. Sie bestand aus der Küche, dem Wohnzimmer und zwei Schlafzimmern. Meine Eltern, mein ältester Bruder Rudolf, meine Schwester Marianne, ich und auch noch mein jüngerer Bruder Siegfried wohnten bis 1936 also da. Im Stockwerk über uns war die Wohnung von Onkel Johann, dem Bruder meines Vaters mit seiner Familie.

Das Haus hatte mein Vater 1924 von seiner Mutter geerbt. Sein Vater, Rudolf Neßler, war zuvor in Ausübung seines Berufs als markgräflicher Güteraufseher beim Traubenhüten angegriffen und so stark verletzt worden, dass er aufgrund seiner Verletzungen starb. Vater glaubte den Angreifer zu kennen. Doch es gab keine Zeugen, und so wurde der Fall juristisch niemals aufgeklärt und auch sozial in keiner Weise bereinigt.

Vater hatte infolge dieses Todes als der älteste Sohn der Familie, nicht nur die väterliche Landwirtschaft und die Anstellung beim Markgrafen zu übernehmen, sondern auch die Fürsorge für die verwitwete Mutter und die teilweise noch unmündigen Geschwister. Er erbte dafür das Elternhaus, doch nur einen Teil des unter den Geschwistern aufgeteilten väterlichen Grundbesitzes. Er gründete unter diesen Voraussetzungen seine eigene Familie und stand so in seinen jungen Jahren persönlich vor einer komplizierten Aufgabe, die er bei einem sehr bescheidenen Einkommen und nach dem Gebot damaliger Wertvorstellungen auf jeden Fall zu erfüllen hatte. Diese jugendliche Familienerfahrung hat ihn fürs Leben geprägt und gewiss dazu geführt, dass verantwortliches Handeln in seinem Umfeld für ihn in allen Lebensphasen zur entscheidenden Maxime wurde. Dieses Umfeld war in erster Linie die eigene und die geschwisterliche Familie, aber dazu gehörten auch seine Verpflichtungen im markgräflichen Rebgut und über den familiären und beruflichen Sektor hinaus sein Engagement in der katholischen Kirchengemeinde und das Eintreten für die junge Demokratie in der Zentrumspartei in der Weimarer Zeit und nach dem Krieg in der CDU und die Übernahme von Leitungsfunktionen in verschiedenen landwirtschaftlichen Vereinen.

Ich bin in diesem Haus im 1. Stock, im Schlafzimmer der Eltern, am 20. Mai 1932 zur Welt gekommen. Wie ich später herausbekam, war es an einem Freitag in der Woche vor Pfingsten - eine Hausgeburt, wie es damals üblich war. Ich habe in den ersten Lebensjahren im Zimmer mit meinen Geschwistern geschlafen. Ich erinnere mich noch an meine Eisenbettstatt mit dem abklappbaren Seitenteil sowie an die in der Mitte durchgelegene Matratze auf einem wie ein Kettenhemd zusammengehäkelten Metallrost. Und ich erinnere mich an Krankheitstage in diesem Bett, die nicht enden wollten. In Fieberträumen taumelte ich durch Landschaften auf der Zimmertapete: Aus dem violetten kleinblumigen Tapetenmuster krochen Hexen, schwebten zur Decke hin und zogen mich aus dem Bett. Klar vor Augen ist mir auch noch unsere Stube mit ihrer dunkelgrünen Tapete und dem Schreibtisch meines Vaters, den er als Güteraufseher des Markgrafen ja immer schon brauchte, etwa für die wöchentlichen Taglohnabrechnungen für die Rebarbeiter. Verstärkt durch die dunkelbraunen Möbel, herrschte in diesem Raum eine bedrückend düstere Stimmung. Aus der Gasse, auf die hinaus das Fenster ging, kam niemals Sonne ins Zimmer. Doch man konnte ja mit wenig Schritten zur Seestraße gehen und hatte dort je nach Wetter und Jahreszeit bald ruhig, bald stürmisch bewegt, die Weite des Sees vor Augen bis hinüber in die Schweiz und bis zu den Alpen.

Besonders interessant war es für mich, als ich schon etwas älter war, an der Schiffslandestelle die Ankunft und die Abfahrt der Schiffe zu beobachten und zu schauen, ob man einen der Ankömmlinge kannte. Es gab schon die „Hohentwiel“ und die „Zähringen“, zwei dickbauchige, einstöckige Raddampfer, die mit ihren roten Schaufelrädern das Wasser aufwühlten und immer mit einer gewissen Schwerfälligkeit an der Hafenmauer anlegten. Als ich erstmals mit der Mutter nach Konstanz durfte, wo sie ihre größeren Einkäufe machte, war für mich die große Sensation auf dem Schiff die Dampfmaschine, die vom Innendeck aus im Bauch des Schiffes frei einsehbar war. Unermüdlich bewegten sich die beiden Kolbenstangen her und zurück und wieder her und zurück und bewegten das Schiff offenbar über die Schaufelräder wie mit zwei riesigen Armen.

Mit der Familie des Onkels war ich gewiss nur wenig zusammen, obwohl das erste Foto, das es von mir gibt, und das einzige in meinem Geburtshaus, in seiner Wohnung aufgenommen wurde. Die beiden Familien verstanden sich nicht. Es gab Erbstreitigkeiten. Vor allem aber: Die beiden Mütter konnten sich nicht leiden und haben sich später, nachdem die beiden Familien an verschiedenen Orten wohnten, niemals besucht.

II. Das Unterstadtmilieu

Da ich in der Unterstadt geboren und in den ersten kindheitlich prägenden Jahren dort aufgewachsen bin, war ich eigentlich ursprünglich nicht einfach nur ein Meersburger, sondern auch ein Unterstädtler. Nicht wenige Leute, die ebenso da wohnten, bestanden auf dieser speziellen Identität. Die Unterstadt war mein Kindheitsmilieu, und sie war das Milieu, in das die Eltern mit allem, was sie waren und unternahmen, voll integriert waren. Es war schon aufgrund der belastenden familiären Situation und der schwierigen Nachkriegsprobleme nach dem 1. Weltkrieg für die Eltern zwar nie die beste aller möglichen Welten, aber für sie und ihre Kinder das Zuhause. Vater war daselbst aufgewachsen, und das Haus, in dem wir wohnten, war ursprünglich schon sein Elternhaus gewesen, das er zusammen mit einem Scheunenhaus auf der anderen Straßenseite und einem Rebgrundstück an der Ausfallstraße Richtung Uhldingen geerbt hatte. Jeder Winkel und alles, was da geschah, war in gewisser Weise Eigentum und vertraut ebenso wie die Leute, die da wohnten und wo einer dem anderen seinen Dienst erwies. Ob die Vorfahren Urmeersburger waren, ist nicht mehr auszumachen. Möglicherweise ist ein Urahne „Neßler“ als „Schwabenkind“ nach Meersburg gekommen und hat hier, als Meersburg schon ein bekannter Weinort war, mit mühevoll zu bearbeitenden Weinbergen, als Rebarbeiter sein Auskommen gefunden. Doch nicht die Herkunft, sondern das gelebte Dasein begründet die Identität.

Es ist ein Jammer zu sehen, wie heute dieser Stadtteil zu einem bloßen Konsumviertel vor allem für Tagestouristen verkommen ist. Es gibt kaum noch alt Eingeborene und nichts Althergebrachtes mehr. Die Häuser sind modernisiert. Vor allem sind die großen Dachgaupen mit ihren Flaschenzügen verschwunden. Und es gibt fast nur noch Andenkenläden und Fastfoodlokale und Trinkbars für den augenblicklichen Genuss. Für die Bürger der Stadt war die Unterstadt lange der wichtigere Stadtteil. Sie ist ja buchstäblich auf Sand gebaut. Die südliche Hälfte ihres Areals wurde im 14. Jh. aufgeschüttet. Diese Aufschüttung hat es erlaubt, eine Marktstraße mit zwei Toren anzulegen. Engagierte bürgerliche Anstrengungen führten zur Verleihung des Marktrechts und etwas später des Stadtrechts. Ein sehr starkes bürgerliches Engagement machte also aus dem vorherigen unbedeutenden Fischer- und Rebleutedorf am Burgabhang eine Stadt. Es gab hier in der Spitalgasse das Ortsspital. Die mächtigen Bischöfe von Konstanz, die als Burgbesitzer zunächst am Ort nur als Gäste präsent waren, honorierten trotz immer wieder aufflackernden Streitigkeiten mit der Bevölkerung diese Entwicklung durch die Errichtung etwa der Unterstadtkapelle, die lange Zeit ein selbständiges religiöses Zentrum war, auch noch neben der Stadtpfarrei in der Oberstadt. Als sich die Bischöfe in der Reformationszeit aus Konstanz nach Meersburg zurückzogen und in der Oberstadt ihre Verwaltungsgebäude und Paläste errichteten, bezogen die Prälaten selbstbewusst ihr Domizil in der Unterstadt im Gebäude des heutigen Hotels Schiff.

Soviel nur vage zur Vorgeschichte der Unterstadt. Als ich geboren wurde, war sie immer noch ein sehr selbständiger und durch ein lebhaftes bürgerliches Leben geprägter Stadtteil. Hier gab es alle Geschäfte, die man brauchte, und meistens sogar mehrfach. „Läden“ sagte man, nicht Geschäfte. Das Wort „Laden“ bezeichnete ursprünglich das Auslagebrett eines Verkaufsstandes, also einen Ort, wo der Käufer sieht und prüft, was er kaufen will, nicht so sehr den Ort, wo der Verkäufer mit seinen Artikeln Geschäfte macht. Der Ausdruck suggeriert eine andere Philosophie als sie etwa heute in einem Einkaufszentrum gegeben ist. In meiner Unterstadtzeit gab es also noch diese Philosophie und die Läden, wo der Käufer als Person in den Laden kam, nicht nur als Käufer.

Es gab in der Unterstadt zwei Metzgerläden, zwei Brotläden, vier Kolonialwarenläden, zwei - etwas später sogar drei - Friseurläden und eine größere Zahl von Gaststuben. Auch mehrere für die ganze Gemeinde wichtige Einrichtungen befanden sich in der Unterstadt, so etwa das Notariat und schon zur Zeit der Postkutschen hinter dem Grethaus die Post. Der Winzerverein wurde sogar aus der Oberstadt in die Unterstadt verlegt. Und in Bezug auf meine Geburt nicht zu vergessen, war da auch die Wohnung von Frau Haller, der einzigen Geburtshelferin weit und breit.

Jeder „Laden“ in der Unterstadt hatte eine gewisse Originalität, was neben den Baulichkeiten und den Einrichtungen die atmosphärische Eigentümlichkeit des Stadtteils mitbestimmte. Diese Originalität hing vor allem auch mit den Persönlichkeiten zusammen, die einen „Laden“ führten. So ziemlich alle waren als Personen Originale und prägten sich als solche einem Kind ganz besonders ein. Arthur Zwick etwa einer der Kolonialwarenhändler, ein dicker Mann mit Glatzkopf, einem Spitzbart und einer randlosen Brille und auch immer mit Krawatte und in dunklem Anzug. Öffnete man die Türe zum Ladenlokal, so schepperte die Ladenschelle, und schon trat er ganz geheimnisvoll aus dem dunklen Hintergrund des Ladens hervor und fragte: „Was willst du?“ Lieber wurde ich von ihm bedient als von seiner noch dickeren Frau. Doch von beiden bekam man am Ende ein rundes farbiges „Zickerle“. Ganz anders war alles bei Druwe nebenan, wo man gewöhnlich die Nudeln kaufen musste: ein großer schlanker Mann mit straff nach hinten gekämmtem Haar, auch er immer mit Anzug und Krawatte. Er war Protestant, was damals in Meersburg eine Seltenheit war. Das hieß aber einfach, man sah ihn nie in der Kirche. Für ein Kind war er immer auf Distanz, ganz im Gegensatz zu seiner zierlich kleinen, kraushaarig fast schon grauen Frau, bei der man sich geradezu liebevoll angesprochen und bedient fühlte. In diesem Laden bekam man beim Einkaufen ein echtes in Glanzpapier eingewickeltes Bonbon. Eine wiederum andere Atmosphäre herrschte im Kolonialwarenladen Süß und Schneider, wo oft Helmuth, der Sohn von Frau Schneider, einen bediente. Einen Hausmann gab es da nicht. Helmuth und sein ganzer Laden repräsentierte die jüngere Generation. Er trug eine weiße Mantelschürze. Doch man sah nicht, womit er sich je schmutzig machen konnte. Die Waren lagen da wohlgeordnet in einem Wandregal oder auf dem Ladentisch. Man musste zeigen, was man wollte und bekam es eingepackt und ohne jederlei Schnörkelei ausgehändigt.

Ähnlich unterschiedlich wie die Kolonialwarenhändler waren die Bäcker. „Der Mayer“ war nicht nur Bäcker, sondern auch der einzige Konditor am Ort, „Feinbäcker“ sagte man. Und es gab bei ihm Torten, die man alle gerne gehabt hätte, aber niemals bekam. Eine Anisschnitte durfte ich mir da manchmal kaufen, zusätzlich zur Hefe, derentwegen ich in diese Bäckerei geschickt wurde. Der ganze Laden roch immer nach Anis. Geschenkt bekam man hier nichts. Der Kauf, bloß für 10 Pfennig Hefe, entsprach natürlich auch nicht dem Niveau dieses Ladens. Im Nebenzimmer gab es ein Café. Ich betrat es nie, beobachtete aber durch die Glastüre, wie Leute dort Kaffee tranken, dem Duft nach richtigen Kaffee, während es zu Hause ja nur Malzkaffee gab. Die Bäckersfrau hinter der Tortenvitrine blickte auf mich herab: „ Was willst du denn?“ Und sie gab mir für meine 10 Pfennig die Hefe ohne ein weiteres Wort. Was hatte man als gewöhnlicher Leute Kind da überhaupt zu suchen? Beim Bäcker Thum dagegen, wo die Eltern unser Brot backen ließen, und wo alles ein bisschen schmuddelig war, bekam ich oft gratis eine Brezel. Und sowohl der alte dicke Thum mit seiner weißschwarz karierten Bäckerhose und seiner mehligen Bäckerschürze als auch Max, der Sohn, den ich dutzte, begrüßten mich mit „Na Bernhärdle, wie geht es dir?“

Die Kinder waren in vielen Familien die Personen, die für Dinge des täglichen Gebrauchs zum Einkaufen geschickt wurden. Die Eltern hatten gewiss gewöhnlich selbst keine Zeit dazu. Doch der andere Grund war, dass sie oft kein bares Geld hatten. Kindern gab man sowieso kein Geld in die Hand. Sie bekamen ja auch kein Taschengeld. Mit ihnen ließ man selbstverständlich anschreiben und brauchte sich dafür nicht zu schämen.

Ein besonderes Verhältnis hatten wir Kinder in unserer Familie zu unserem Frisör, zu Rübelmann. Wir mussten alle paar Wochen immer nur zu ihm, obwohl es ja auch die anderen viel vornehmeren gegeben hätte. Die Eltern ließen uns keine Wahl, denn Rübelmann war unser Nachbar. Und mit kleinen Buben beschäftigte sich da die Frau, die dicke Rübelmännin. Jedes Mal musste man warten, bis sie im Damensalon gerade frei war. „Komm, jetzt bist du dran!“ hieß es dann. Und sie setzte einen auf einen Drehstuhl ohne Lehne, wirbelte ihn hoch, so dass man keinen Boden mehr unter den Füssen und überhaupt keinen Halt mehr hatte, band einem ein riesiges Frisiertuch um den Hals und fing gleich an, mit ihrem Handhaarschneider auf dem Kopf herum zu schnippeln. Man schloss die Augen, und an allen Stellen auf dem Kopf zog, riss und biss es. Manchmal zwickte sie einen auch ins Ohr. Es gab für einen Jungen nur eine Frisur: den Bubikopf. In Wirklichkeit war es eine Glatze, bei der nur vorne über der Stirn ein Schnipsel Haare stehen blieb - kein Ort mehr, an dem sich Läuse einnisten konnten. Wie ein getretener Pudel rutschte man am Ende vom Stuhl herunter und floh aus der Frisierstube, so schnell man konnte. Das Bezahlen regelten sowieso die Eltern.

III. Verlust der Unterstadtidentität

Ein Unterstädtler sein, das war für mich, ohne dass ich ein Bewusstsein davon hatte, meine früheste Identität, wobei diese, wie schon gesagt, mehr bedeutete als: vor Ort die Leute kennen. Man sagte in der Oberstadt, die Unterstädtler seien ein Volk für sich. Für einen Oberstädtler galt man in der Tat fast als ein Auswärtiger, der am Wasser lebte und auf jeden Fall in einer anderen Welt. Vielleicht hatte das auch noch mit der bischöflichen Stadtgeschichte zu tun, wo nach der endgültigen Verlegung des Konstanzer Bischofssitzes nach Meersburg das bischöfliche Personal sich vor allem in der Oberstadt und in der Nähe des Schlosses ansiedelte. Dieses Personal war gebildeter als die Unterstädtler und nahm an den Fortschritten der Zeit in stärkerem Maße teil.

Jene gutbürgerliche unterstädtische Identität und Solidarität ging indes schon in meiner Jugend völlig verloren. Das bekam nicht zuletzt Vater mit seiner Familie und seinem unterstädtischen Anwesen zu spüren. Er wurde aus der Unterstadt hinausgeekelt, was allerdings auch mit dem völligen Strukturwandel der örtlichen Verhältnisse zu tun hatte und mit der neuen, der nazistischen Politik.

Die Nationalsozialisten waren bereits 1933 in Meersburg die maßgebliche politische Kraft. Der sehr beliebte Bürgermeister Dr. Moll ist schon 1932 in die NSDAP eingetreten. Und 1933 wurden die gewählten Organe der Gemeindeverwaltung - Gemeinderat & Bürgerausschuss - aufgelöst, um nationalsozialistischen Mitgliedern Platz zu machen. Vater war zu dieser Zeit kommunaler Abgeordneter der Zentrumspartei und wurde zusammen mit einem anderen Zentrumsabgeordneten auf Weisung der Gauleitung dazu gezwungen, sein Mandat niederzulegen. Sein gewaltsamer Verzicht ist durch seine Unterschrift dokumentiert (vgl. Meersburg unterm Hakenkreuz, S. 13), offenbar nichts jedoch von den begleitenden Vorgängen, von den wahrscheinlich stattgefundenen Protesten einer Opposition und nichts davon, dass sich etwa der Bürgermeister der Maßnahme entgegengestellt hätte. Man muss sich allgemein die Frage stellen: Wie kam es, dass in einer so kleinen Stadt wie Meersburg am äußersten Rande der Republik sich die nazistischen Berliner Zustände in gewisser Weise schon abbildeten? Die Zentrumspartei wurde schließlich verboten. Vater hat danach noch an den Bemühungen der Zentrumsmitglieder teilgenommen, über die Organisation „Stahlhelm“ einen gewissen Einfluss auf die Politik zu behalten. Noch Jahre später hing in seinem Kleiderschrank eine Stahlhelmuniform, die er jedoch nie getragen hat. Sie war familiär ein verborgenes Zeugnis für seine Irritation. Die Organisation ist gescheitert und wurde schließlich aufgelöst, wobei die Mitglieder großenteils in die NSDAP übergetreten sind. Er hat dabei nicht mitgemacht. Sein gespanntes Verhältnis zum Meersburger Rädelsführer der Organisation, Eduard Siegel, der schließlich auch Mitglied der NSDAP wurde, war selbst nach dem Krieg noch ein sehr gestörtes. Als Vertreter des Bauernverbandes hatte er da wieder mit ihm zu tun, denn er war der einzige Großbauer in Meersburg. Ich musste im Auftrag des Vaters immer wieder eine Unterschrift bei ihm einholen und bemerkte dabei die nachhaltige Spannung. Sie war vielleicht nun noch größer, da Siegel nach dem Krieg als wichtiger Vertreter der Meersburger Protestanten aufgetreten ist. Für viele Nazifreunde war nach dem Krieg das religiöse Engagement scheinheilig das Mittel, sich von der Vergangenheit rein zu waschen.

Vater war in den Zwanziger- und Dreißigerjahren aktiver Vertreter der Zentrumspartei und stand so also politisch auf der Gegenseite des Bürgermeisters und der Nazianhänger. Das war der politische Hintergrund, auf dem er wegen seiner Landwirtschaft mitten in der Stadt ganz abgesehen von einer urbanistisch letztlich unhaltbaren Lage in Konflikt mit der Stadtverwaltung und mit den Nachbarn kam.

Man entdeckte in den späten Zwanziger- und den Dreißigerjahren Meersburg für den Fremdenverkehr oder besser umgekehrt, den Fremdenverkehr für die Stadt und sah, dass man damit mehr Geld verdienen konnte als mit den Reben und mit der Landwirtschaft oder gar mit der Fischerei. Das erklärte und allgemein von den Einwohnern als gut befundene gemeindepolitische Hauptziel des Bürgermeisters Dr. Moll war deshalb die Entwicklung des Fremdenverkehrs. 1936 stellt er im Gemeindeblatt fest:

„Es ist heute nur noch ein kleiner Teil der Einwohnerschaft, der gar keinen Nutzen und Vorteil vom Fremdenverkehr, besonders seit der Entwicklung vom Jahr 1933 ab hatte, vom Hotelgewerbe angefangen bis zum Bauhandwerker und bescheidenen Zimmervermieter.“

(vgl. Meersburg unterm Hakenkreuz, S. 120)

Dass Meersburg seit Jahrhunderten eine erfolgreiche Rebbaugemeinde war, fand keine Aufnahme in diese Bilanz. Aber es war nun eben, auch abgesehen von der Politik, ein neues Wirtschaftsmodell das Ziel: der Fremdenverkehr. Die Schönheit der Landschaft und die vielen historischen Gebäude waren ein kostenloses Angebot dafür. Was der Stadt für eine gute touristische Vermarktung fehlte, waren eine gehobene Hotellerie und eine einigermaßen komfortable Infrastruktur einschließlich eines verkehrsmäßig akzeptablen Zugangs zur Stadt. Diesen beiden Bereichen gehörte die neue gemeindepolitische Aufmerksamkeit. Und man war bereit, größte Opfer dafür zu bringen, wie etwa die Einrichtung des Fähreverkehrs nach Konstanz, der für die Stadt Konstanz ein großes Geschäft wurde, aber für Meersburg zwar allgemein von großem Nutzen war, aber gemeindepolitisch einseitig allergrößte infrastrukturelle Belastungen mit sich brachte. Nicht zuletzt aber fühlte sich der Bürgermeister mit seiner Einstellung auch im Einklang mit der neuen nazistischen Politik, die ganz allgemein einen Aufbruch in eine neue Zeit propagierte.

Mein Vater war mit seiner Landwirtschaft mitten in der Stadt und an einem so exquisiten Platz wie in der Spitalgasse direkt neben dem Strandcafé für den Fremdenverkehr objektiv ein Störfaktor allerersten Grades. Auch der Küfermeister Dreher nebenan störte mit seinen Fässern mitten auf der Straße und dem Gehämmer und Gesäge den ganzen Tag über und wurde deswegen kritisiert. Doch die Landwirtschaft meines Vaters war noch anstößiger. Er musste mit seinen Kühen ja täglich durch die Unterstadt ziehen, um zu seinen Feldern weit außerhalb zu gelangen und am Abend zurück. Die Kuhfladen auf der Straße bis zum Stall neben dem Strandcafé waren ein unvermeidbarer offizieller alltäglicher Ärger. Dazu kam, dass seine „Schier“, seine Scheune, mit dem Heu und dem Stroh sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zum Stall befand, sodass ein tägliches schmutziges und stinkendes und vielleicht auch lärmiges Hin und Her zwischen Stall und Scheune die Folge war. Die Spitalgasse war für ihn ebenso wie für den Küfer und auch für den Metzger Gessler nebenan ihr traditioneller Wirtschaftsraum. Das konnte mit dem Fremdenverkehr nicht so bleiben. Aber das Schlimmste war wohl für den Vater, dass sich die Stallmiste am anderen Ende der Unterstadt befand, hinter dem Café Hummel. Jeden Morgen musste der nächtliche Stallmist dorthin gekarrt werden. Als es noch andere Landwirte in der Unterstadt gab und auch den Schlosser, den Flaschner, die beiden Schuhmacher der Stadt und all die Rebarbeiter von Wolfegg, von Salem und auch vom Winzerverein, war das nichts Besonderes, nun aber, wo der Fremdenverkehr wichtig wurde, war das eine unerträgliche Situation.

Neben unserem Haus also, doch auf der Seeseite und mit einer Terrasse zum See hin befand sich das Strandcafé, ein touristisch äußerst attraktiver Ort. Es hatte mit Herrn Weißhaar einen neuen Besitzer bekommen. Aus dem vorherigen bescheidenen „Kaffée Sutter“ wurde nun das allein schon dem Namen nach viel anspruchsvollere „Strandcafé“. Und es war gleich schon bekannt für seinen Kaffee, aber auch für die exquisiten Torten, die im Schaufenster neben unserem Haus täglich neu ausgestellt und von uns Kindern mit wässrigem Gaumen bestaunt wurden. Man roch am Eingang den süßlichen Kaffeeduft und auch die Torten. Dieses Café war nun freilich nur für die vornehmen Gäste von auswärts da, „die Fremden“, wie man sagte, eine höhere Spezies von Menschen. Alle waren natürlich vornehmer gekleidet als die Meersburger, und sie hatten, so schien es uns, nichts anderes zu tun, als auf der Seestraße zu flanieren und in einem der Cafés oder Hotels vornehm zu speisen. Meersburger sah man unter all diesen Leuten keine, es sei denn an der Schiffslandestelle, wo sie als Zimmervermieter die „Fremden“ in Empfang nahmen, um sie dann zu ihren Unterkünften zu führen, oder aber um sie zu verabschieden.

IV. Der Verkauf des Elternhauses und das neue Wirtschaftsmodell

Der Besitzer des Strandcafés, Herr Weißhaar, der als Nicht-Meersburger ursprünglich wohl keine Ahnung hatte von den alten örtlichen Gegebenheiten, beklagte sich, kaum dass er sein Haus erworben hatte, über die unerträgliche Nachbarschaft. Und er fand mit seiner Klage vor allem beim damaligen Bürgermeister verständnisvolles Gehör.

1935 eskalierte offenbar die Situation für den Vater. Mit allergrößtem Nachdruck legte man ihm nahe, sich außerhalb der Stadt ein neues Grundstück zu suchen und auszusiedeln. Und er wurde unter Druck gesetzt, dies bald zu tun, ungeachtet seiner finanziell nicht vorhandenen Ressourcen und der Unmöglichkeit einer Kreditfinanzierung, wenn man nichts Größeres besaß. Dass es sich bei unserem Haus um einen alten, über Generationen hinweg vererbten Familienbesitz handelte, und dass die landwirtschaftliche Nutzung hier althergebrachter Brauch war und auch, dass Meersburg ja seit Jahrhunderten ein renommierter Weinort war mit Rebleuten, die Tag für Tag wohl oder übel dreckig von der Rebarbeit in ihre Wohnungen zurückkamen, dafür hatte man kein Verständnis. Und diese Haltung fand wohl in breitesten Kreisen der Bevölkerung Unterstützung. Längst hatte man allgemein am Geschäft mit den „Fremden“ Geschmack gefunden, andere Werte oder gar nachbarliche Rücksichten hin oder her. Das Milieu, in das ja Vater zutiefst integriert war und die Milieuzugehörigkeit überhaupt zählten nicht mehr. Die touristische Kommerzialisierung in allen Bereichen war in den Köpfen der Leute längst im Gange. Aus jedem Grundstück in der Stadt, aus jeder Kammer konnte man touristisch ein Geschäft machen. Und Dienstleistungen im Fremdenverkehr wurden anstelle der Rebarbeit oder sonstiger herkömmlicher Beschäftigungen für viele zur beherrschenden lebensplanerischen Perspektive. Über die gesellschaftliche Desintegration, die bei dieser Einstellung die Folge sein musste und die Veränderung des Stadtkonzepts, machte man sich keine Gedanken. Die Politik bot ohnehin einen neuen Horizont.

Der Cafébesitzer bot schließlich an, unser Wohnhaus und auch die Scheune auf der anderen Straßenseite zu kaufen. Es gab keinerlei Ausschreibung und kein offenes Verkaufsaufgebot. Es war im Vorhinein abgemachte Sache, dass nur er der Käufer sein sollte, und als der einzige Interessent konnte er den Preis diktieren. So musste der von ihm vorgeschlagene Preis akzeptiert werden. Es war ein Zwangsangebot und musste, nicht zuletzt auch unterstützt durch die Politik, angenommen werden, so ungünstig es auch war. Der Verkaufspreis reichte bei weitem nicht aus, um ein Baugrundstück außerhalb zu erwerben und ein Haus zu bauen. Dennoch wurde der Handel abgeschlossen und eine fast aussichtslos abzutragende Verschuldung in Kauf genommen…

Mutter hat später über die Szene beim Kaufabschluss berichtet: Nach dem, was sie erzählte, traf man sich dazu in der Gaststube des Strandcafés: die beiden Ehepaare Neßler und Weißhaar, der Notar und der Vertreter des Bürgermeisters. Man nahm an einem Tisch Platz, klärte den Vorgang, und es wurde unterschrieben. Der Käufer und seine Partei waren damit höchst zufrieden. Frau Weißhaar verließ den Tisch und kam zur Feier des Ereignisses mit einer großen Platte Torten zurück. Sie stellte sie auf den Tisch. Doch es gab, wie Mutter berichtete, keine Kuchenteller, kein Kuchenbesteck und auch keine Einladung zuzugreifen. „Mobbing“ würde man zu diesem Verhalten heute sagen. Natürlich: Mit Rebleuten, Landwirten von der Art meiner Eltern setzte man sich an diesem Ort sowieso nicht an einen Tisch. Man konnte sich ihnen gegenüber alles erlauben, zumal wenn sie auch politisch auf der anderen Seite standen. Meine Mutter hatte Frau Weißhaar schon als Mitschülerin in der Mädchenschule gekannt. Sie sei eine der Dümmsten gewesen, meinte sie. Doch nun gehörte sie zum Adel der Meersburger Hotel- und Gaststubenbesitzer, einem „höheren“ und auch politisch willfährigen Stand, der mit den Alteingesessenen möglichst nichts mehr zu tun haben wollte.

Unser Haus jedoch - und dabei auch mein Geburtszimmer - wurden nach dem Verkauf dem Strandcafé buchstäblich einverleibt. Ein bloßer Mauerdurchbruch im 1. Stock erlaubte es, die Gaststube um unsere Wohnung zu erweitern. Noch lange war das vor Ort unmittelbar verifizierbar. Und der Wertgewinn des Cafés durch unser Haus ist nicht mehr zu beziffern.

Eine letzte Erinnerung aus der Zeit, in der mein Vater aus der Unterstadt ausziehen und aussiedeln musste, ist für mich, dass ich an einem Sommertag mit Tante Luis zur Baustelle für das neue Haus ging, um Vater und Onkel Emil, ihrem Mann, die Mittagssuppe zu bringen. Sie waren dabei, in härtester Handarbeit mit Pickel und Schaufel die Baugrube auszuheben. Das neue Haus stand dann schließlich in einfachster Ausführung da, d.h. nur mit den nötigsten Zimmern, ohne Bad, ohne Wirtschaftsraum für die Landwirtschaft, ohne Doppelfenster, ohne Toilettenspülung, ohne Anschluss an die Kanalisation und Jahre lang ohne Verputz.

Kindheitserinnerungen am Rande der Geschichte

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