Читать книгу Mein Leben - ein Schrei nach Gerechtigkeit und Liebe - Bernhard Scherger - Страница 5
ОглавлениеVorwort
Jesus von Nazareth ist eine der faszinierendsten Gestalten der Welt- und Religionsgeschichte. Er gilt als der Begründer aller christlichen Kirchen und Konfessionen der ganzen Welt.
Erschreckend ist, dass heute immer mehr Christen ihre Kirche verlassen, der christliche Glaube in den Familien nicht mehr weitergegeben wird und es bald keine Priester, Mönche oder Nonnen mehr gibt. Unterdessen erlöschen alte Traditionen, Kirchen werden abgerissen, Klöster schließen ihre Tore und viele Priester und Bischöfe haben schwere Schuld auf sich geladen. Insgesamt haben die religiösen Autoritäten ihre Glaubwürdigkeit weithin verloren.
„Auf ein verrottetes altes Gewand kann man keinen neuen Flicken setzen, denn jeder neue Flicken reißt nur ein größeres Loch im alten Gewand.“ Dieses Wort, das Jesus damals seiner jüdischen Glaubensgemeinschaft gesagt hat, bedeutete, dass es ihm nicht mehr um Reformflicken ging, sondern um ein neues „Gewand“ seines alten Glaubens. Dafür setzte er sein Leben aufs Spiel.
Wir müssen uns heute fragen: Gilt diese Erkenntnis Jesu nicht auch für unsere Zeit? Dostojewski hat das in seinem Roman “Die Brüder Karamasow“ durchgespielt: Jesus kommt auf die Erde zurück. Die Seinen erkennen ihn wieder nicht, und der höchste Vertreter der Kirche lässt ihn festnehmen, klagt ihn an, verurteilt ihn zum Tod, und die gläubige Menge zündet den Scheiterhaufen gehorsam an.
Mit welchem Recht berufen sich die Kirchen heute auf diesen Jesus? Diese Frage stand im Zentrum der theologischen Forschung der letzten 200 Jahre. Die ersten Wissenschaftler, die sich mit dem Leben Jesu historisch-kritisch auseinandersetzten, waren Reimarus und Lessing. Sie erkannten um die Mitte des 18. Jahrhunderts einen „garstigen Graben“ zwischen dem Leben des historischen Jesus und dem verkündeten Christus der Kirchen. Der berühmte Theologe Albert Schweitzer hat 1906 in seinem Hauptwerk “Geschichte der Leben Jesu Forschung“ festgestellt, dass es unmöglich ist, ein historisch verbürgtes Leben Jesu zu schreiben.
Aber wissenschaftlich stand für ihn fest, dass dieser Jesus arm gelebt hat, mit den Armen solidarisch war, die Reichen und Offiziellen kritisiert und allen sein Evangelium verkündet hat (Mt 11,5). Aufgrund dieser Erkenntnis hat er seine theologische Professur aufgegeben, Medizin studiert und im Hospital von Lambarene mitten im Urwald von Afrika den Ärmsten der Armen ein Leben lang als Arzt den letzten Dienst erwiesen.
Die Frage nach dem historischen Jesus ist bis heute ein Schwerpunkt der Forschung. Prof. Gerd Theissen hat ihre Ergebnisse jüngst zusammengefasst und in seinem Roman “Der Schatten des Galiläers“ allen zugänglich gemacht.
In den beiden letzten Jahrhunderten entstanden ganze Bibliotheken von Jesus-Büchern. Heute erreicht die Jesus-Literatur neue Kulturkreise. Der gebürtige Iraner Reza Haslan hat auf dem Hintergrund seines islamischen Weltbildes diesen Jesus als „Zelot“ und kämpferischen Revolutionär beschrieben. Sicher hat sich der historische Jesus für die größere Freiheit und Gerechtigkeit der Menschen und gegen jede Unterdrückung eingesetzt, aber nicht mit religiösem Fanatismus und politischen Umsturzideen, sondern absolut gewaltlos. Er hat Gewaltlosigkeit gefordert, gelebt und ist dafür gestorben.
Der auch aus dem Iran stammende Schriftsteller Said lässt diesen Jesus in seinem Büchlein “Ich Jesus von Nazareth“ mit einem emotionalen Aufschrei für die Freiheit selbst zu Wort kommen und seine Ideen gegen den falschen Schein der Religionen mit ihren „potemkinschen Dörfern“ prophetisch verkünden. Sein Jesus will die Menschen von den Fesseln frommer Lügen befreien und sie für eine Religion universaler Geschwisterlichkeit und Liebe gewinnen.
Der Jesus meines Buches setzt den Befreiungsruf von Said fort, tritt nicht im überirdischen Gewand einer 2000-jährigen heiligen Tradition auf, sondern im menschlichen Gewand seiner Zeit, das die Forschung ihm heute historisch mehr und mehr zuerkennt. Er gibt sich unserer Zeit zu erkennen, wie er sich seiner Zeit als Mensch zu erkennen gab. Die Provokationen, die er damals seinen Hohen Priestern zumutete, mutet er heute seinen Stellvertretern zu.
Ich habe in vielen Jahren des Studiums die Hoffnung gewonnen, dass die Kirchen, wenn sie der Botschaft Jesu treu bleiben wollen, heute als Weizenkorn in die Erde fallen und sterben müssen, um für eine neue Zeit aufzuerstehen und tausendfältige Frucht zu bringen. Dieses Bild vom Weizenkorn, das stirbt und neu aufersteht, hat Jesus mit seinem Leben wahr gemacht. Wenn die Kirchen, die sich der fortlebende Christus nennen, nicht dazu bereit sind, wird „die geschehende Geschichte sie als richtender und zerstörender Blitz treffen“. Das hat der Märtyrer Alfred Delp S.J. ihnen als sein letztes Wort prophetisch zugerufen.
Das andere Gleichnis Jesu vom neuen Stoff, den das alte Gewand nicht mehr verträgt, verwandelte sich für mich in das Bild einer neuen Hoffnung. Ich sah in der ganzen Welt Menschen, vor allem Frauen, die immer neue starke Stoff-Flicken mit großer Hingabe für eine neue Gemeinschaft aller Glaubenden webten und lebten. Jetzt müssen wir mit dem neuschaffenden Geist Gottes, der unserer Ohnmacht zu Hilfe kommt, diese Teile nur zu einem neuen Gewand zusammenfügen.
Aus der wissenschaftlichen Arbeit und dem Glaubenszeugnis von Dietrich Bonhoeffer, der Jüdin Simone Weil, der jüngsten Kirchenlehrerin Therese von Lisieux, von Gandhi, Martin Luther King, Bischof Romero und zahllosen Männern und Frauen aus allen Völkern und Religionen, habe ich ein neues Glaubensverständnis gewonnen und es jungen Studierenden wissenschaftlich kritisch und gläubig vorgestellt. Da geschah es immer wieder, dass sie nach ihren Prüfungen zu mir kamen und bekannten: „Jetzt können wir es Ihnen ja sagen. Wissen Sie, dass Sie uns den Glauben, den wir schon über Bord geworfen hatten, zurückgegeben haben? Wann geben Sie ihn unseren Eltern weiter? Auch sie fragen danach und warten darauf.“
Ich versprach es und zögerte doch viele Jahre. Ich wollte mein neues Glaubensverständnis als kostbare Perle nicht dem blinden Hassgeschrei der Rechtgläubigen aussetzen. Aber meine innere Stimme machte mir Vorwürfe, dass ich das neue Verständnis nicht für mich bekommen hätte, sondern es allen weitergeben müsse. Hier ist es.
2. Februar 2021
Bernhard Scherger