Читать книгу Mein Leben - ein Schrei nach Gerechtigkeit und Liebe - Bernhard Scherger - Страница 7
Оглавление2.0 Mein unbekanntes Leben in Nazareth und Galiläa
2.1 Was ich über meine Kindheit von meiner Mutter weiß
Die Geschichte meines Lebens muss ich Euch neu erzählen. Eure Wissenschaftler haben große Anstrengungen unternommen, ein zuverlässiges Bild von mir als Mensch, Messias und Gottessohn zu gewinnen. Sie studierten die alten Texte, die erst 30 bis 70 Jahre nach meinem Tod in verschieden Sprachen über mich geschrieben worden sind. Ihre guten Ergebnisse aber sind bis heute von meinen Kirchen nicht anerkannt worden. Im Gegenteil! Ihre Arbeiten wurde verdammt und verboten und sie selbst zum Schweigen verurteilt. Ein Freund von mir, theologischer Wissenschaftler hat seine Forschung über mich ganz aufgegeben und erklärt, dass eine Antwort auf die Frage, wer ich historisch gewesen sei, für unmöglich erklärt. Aber er hat mein Testament in die Tat umgesetzt, ist Arzt für die Ärmsten der Armen geworden und hat mich, seinen Gott und Heiland, in ihnen wiedergefunden nach meinem Wort „Was immer Ihr den Geringsten antut, das tut Ihr mir, Eurem Gott.“ Aber andere Wissenschaftler und sogar Dichter haben weiter nach der historischen Wahrheit meines Lebens geforscht und viele neue, richtige Erkenntnisse über mich zusammengetragen.
Ich muss zuerst darüber klagen, dass schon meine Apostel sich nach meinem Tod ein falsches Bild von mir gemacht haben. Zu Lebzeiten haben sie mich bedrängt, dass ich ihr König und politischer Befreier werden solle. Sie wollten mich immer wieder an die Spitze einer Befreiungsarmee gegen die römische Besatzungsmacht stellen. Das habe ich strikt abgelehnt, aber sie haben es nie verstanden. Nach meinem Tod sind sie ihrem Wunsch, mich als Herrscher zu sehen, treu geblieben und waren überzeugt, dass ich bald mit Macht und Herrlichkeit an der Spitze einer himmlischen Streitmacht erscheine und das Reich Gottes auf der Erde mit göttlicher Macht errichte. Sie hätten wissen müssen, dass Ihr Verständnis nicht meinem Willen entsprach.
Mit meinem Testament, einen Tag vor meinem Tod, wollte ich ihnen und allen zukünftigen Freunden meine wichtigste Botschaft mit auf den Weg geben. Vor der Feier unseres letzten Paschamahls habe ich mich gegürtet, mich niedergekniet und meinen Freunden die Füße gewaschen, was sonst nur Sklaven ihren Herren tun. Damit wollte ich meinen Jüngern sagen, dass ihre höchste und heiligste Aufgabe auf der Erde ist: allen Menschen wie ein Sklave aus freien Stücken und in Liebe zu dienen und nicht in irgendeiner Weise über sie herrschen zu wollen. Aber meine Freunde haben diese Botschaft nicht verstanden, meine “Fußwaschung“ schnell vergessen und sich für das Gegenteil entschieden. Nach meinem Tod haben sie mich zu einem Götzen der Macht gemacht, der bald auf Erden das Gottesreich errichtet und sein unumschränkter Herrscher und Richter sein wird. Sich selbst haben sie dann zu seinen „mächtigen“ Stellvertretern ernannt.
Ich war nicht mehr sichtbar bei ihnen. So herrschten sie auch bald über mich und meine Botschaft und statteten sich in meinem Namen mit der Macht aus, die sie bei mir im Leben immer vermisst hatten. So haben sie mich zum allmächtigen Sohn Gottes in Macht und Herrlichkeit gemacht. Jetzt war ich für sie nicht mehr der dienende Mensch an der letzten Stelle, sondern der allmächtige Gott und Herrscher an der ersten Stelle ihrer Hierarchie der Unmenschlichkeit. Das war ihre Sünde gegen den Heiligen Geist, dass sie überzeugt waren, mir zu folgen und meinen Willen zu tun. Das machte ihre Umkehr unmöglich. Zum Zeichen ihrer Herrschaft in meinem Namen ließen sie sich jetzt die Füße küssen. Hat niemand den Verrat gemerkt und beklagt? Doch! Viele haben das erkannt und beklagt, aber die wurden von der Macht meiner Stellvertreter als Ketzer und Häretiker zum Schweigen gebracht. Meine Stellvertreter definierten sogar mit höchster Autorität ihren Verrat als die göttliche Wahrheit. So wurde mein falsches Bild als das allein wahre Bild aller Welt verkündet. Die höllischen Folgen dieses Abfalls waren Kriege, Kreuzzüge, Verketzerungen und nie erlöschende Scheiterhaufen mit Millionen unschuldiger Opfer.
Jetzt möchte ich von meinem wirklichen Leben auf Erden erzählen, wie ich es mir vor aller Zeit frei erwählt hatte.
Ich bin arm geboren, meine Eltern waren arme Leute, und mein kleines Dorf war in Israel weithin unbekannt. Von Kind an erlebte ich Not und Armut in meiner Familie. Armut war unser Schicksal.
Ich gewann bald die Erkenntnis, dass unser Leben kurz ist und wir als Menschen im Tod nichts mitnehmen können, kein Sandkorn, wohl alle Liebe, die wir im Leben gesammelt, gewonnen und verschenkt haben. Ich sah, dass die Liebe unser eigentlicher Reichtum ist und selbst und gerade in der größten Armut unser Reichtum bleibt. Das macht uns zu glücklichen Menschen, wie mein Vater im Himmel sich die Menschen wünscht. Er wünscht sich nicht Schlacht- und Brandopfer, nicht Gebete und Wallfahrten, nicht Dogmen und Gesetze, sondern Barmherzigkeit, Erbarmen und Liebe gegenüber aller Schöpfung und allen Geschöpfen, gerade gegenüber den Geringsten.
Aber bis jetzt seid Ihr Menschen weithin darauf aus, Eure Schwäche, Fehler und Grenzen zu verleugnen und Eure scheinbare Stärke und Macht herauszukehren. Den Tod als Eure größte Schwäche verschweigt Ihr. Genau dadurch macht Ihr Eure Welt zur Hölle.
Ich überlegte, wenn ein liebender Gott Mensch würde, könnte er das nur, wenn er sich frei für Armut und Machtlosigkeit und für den Verzicht auf alle göttlichen Privilegien entscheidet. Dabei würde er den letzten Platz wählen, weil die Liebe immer den letzten Platz wählt. Das gilt auch für die Menschen. Wenn sie den letzten Platz wählen, öffnet sich ihnen die Liebe zu allen Menschen und der ganzen Schöpfung. Das würde die Welt zum Paradies machen. Wenn sie aber nicht mehr arm sein wollen, fangen sie an, andere zu unterdrücken, sich selbst höher einzuschätzen, für besser zu halten, die Schwächen der anderen für ihren Vorteil auszunutzen und Schritt für Schritt andere zu hassen und zu bekriegen, um selbst bessere Positionen zu erobern. Um das zu erreichen, kämpfen Menschen ihr Leben lang, übervorteilen, diffamieren, belügen und betrügen sich gegenseitig. So zerstören sie das Zusammenleben der Menschen, den Frieden und ihre eigene Zukunft. So verspielen sie ihr Glück und machen ihre Welt zur Hölle.
Über die näheren Umstände meiner Geburt glaubten meine Evangelisten Matthäus und Lukas Wunderbares berichten zu können. Ich muss Euch enttäuschen. Ihr seid immer noch ein wundersüchtiges Volk, wie ich mein Volk damals nannte (Mt 12,39).
Wenn Ihr aber nach dem Glück meiner Mutter und meines Vaters fragt, die mich von Herzen liebten und immer zu mir standen, so sind alle Wunder wahr. Zu meiner Mutter kam kein sichtbarer Engel vom Himmel, der ihr eine göttliche Botschaft über ihre jungfräuliche Empfängnis und Geburt gebracht hätte. Es kam wohl ein unsichtbarer Engel zu ihr mit der frohen Botschaft, dass sie ihr erstes Kind als von der Gnade Gottes geschenkt annehmen darf. So bin ich als Kind eines menschlichen Vaters ein Kind Gottes geworden. Ich bin wohl nicht im Stall zu Bethlehem geboren, eher in der Wohnhöhle unseres Hauses in Nazareth. Meine Mutter hat mir dazu nichts gesagt. Es hätte auch keine göttlichen Wunderzeichen gegeben und keine Engel hätten Hirten auf dem Feld die frohe Botschaft meiner Geburt verkündet. Es wären auch keine königlichen Weisen aus dem Morgenland gekommen und hätten ihr weihevolle Geschenke gebracht, aber auf dem Antlitz meiner Mutter hätten die Hirten unseres Dorfes den Abglanz der Liebe Gottes erkannt und in mir das Kind und den Sohn Gottes. Meine Mutter empfing alle Freunde, Verwandte und Nachbarn wie Boten Gottes und Könige.
Meine Kindheit verlief wie die aller Kinder unseres kleinen Ortes im Hügelland von Galiläa. Ich hütete schon früh Schafe und Ziegen, ging dem Vater zur Hand und half meinen jüngeren Geschwistern. Wir besuchten am Sabbat die Synagoge und hörten die alten Geschichten unseres Volkes von Abraham, Isaak, Jakob, von Moses und den Propheten, von David und seinem Freund Jonathan. Ich liebte den Gott unserer Väter, der uns aus der Knechtschaft Ägyptens mit starker Hand herausgeführt und befreit hat. Meine Helden waren die Freiheitskämpfer unseres Volkes, und dazu gehörten auch die Frauen.
Meine von den Evangelisten Lukas und Matthäus berichteten Kindheitsgeschichten wollen keine historischen Tatsachen schildern, sondern sind Glaubensgeschichten, die in mir schon den Messias und Erlöser erkannten. Paulus, der erste Berichterstatter über mein Leben, weiß nichts über meine Kindheit und interessierte sich ausdrücklich nicht dafür. Er nennt mich nur den „Sohn einer Frau“, nicht einer Jungfrau! Auch der erste Evangelist Markus weiß nichts aus meiner Kindheit zu berichten. Das bedeutet: In den ersten 80 Jahren nach meiner Geburt haben sich meine frühen Anhänger und auch Paulus nicht für meine Kindheit interessiert, sondern nur für mein Leiden und Sterben.
Nach meinem Tod warteten und hofften sie gespannt einige Jahrzehnte, dass ich auf den Wolken des Himmels als Messias, Herr und Gott wiederkomme und das Reich Israel als das neue Gottesreich errichte. Aber ich kam nicht wieder, weil die Zeit dafür noch nicht reif war. Da verschoben sie meine Wiederkunft auf das Ende der Welt und fragten nach meiner Kindheit. Lukas gab darauf eine Antwort und erzählte um 90 Eurer Zeitrechnung, also fast 100 Jahre nach meiner Geburt, die anrührende Geschichte, wie meine Mutter mich im einem Stall von Bethlehem zur Welt bringt, weil es in den Herbergen des Ortes keinen Platz gab. Er erzählt von Hirten auf dem Feld, die aus dem Mund von Engeln eine frohe Botschaft empfangen, dass der Messias in ihrer Nähe geboren sei und sie als erste dem Kind ihre Aufwartung machen dürfen.
Matthäus erzählt eine ganz andere Geburtsgeschichte. Er weiß von einem Mordauftrag des König Herodes, der alle Kinder bis zu zwei Jahren töten ließ, weil er von weisen, sternkundigen Männern aus dem Orient erfahren hatte, dass ein Herrscherkind geboren worden sei. Die Historie kennt viele Verbrechen dieses Herrschers, aber von einem solchen Mordauftrag weiß sie nichts. Das junge Paar mit dem Neugeborenen muss - nach Matthäus - sofort nach Ägypten fliehen, um sich zu retten. Das stellt der Evangelist mit Absicht so dar, damit der gerade geborene Messias wie Moses aus Ägypten kommt und sein Volk als zweiter Moses befreien wird. Von einer Geburt im Stall, einem Verkündigungsengel bei Maria und den Engeln bei den Hirten auf dem Feld weiß Matthäus offenbar nichts. Aber er kennt den Stammbaum Jesu offenbar besser als Lukas und macht daraus eine Apologie gegen die im jüdischen Volk seiner Zeit kursierenden Gerüchte über meine illegitime Geburt. Matthäus bestreitet sie nicht, lässt Josef sehr entschieden seine Vaterschaft ablehnen und überlegt, seine Frau deshalb in Ehren zu entlassen. Das lässt Matthäus aber durch ein Eingreifen Gottes nicht zu. Ein Engel fordert ihn nachts in einem Traum auf, das Kind seiner Frau als Geschenk der Gnade Gottes anzunehmen. Josef gehorcht und nimmt mich als sein Kind an und bewies damit einen so großen Glauben wie unser Vater Abraham. Mein Vater hatte erkannt, dass er seine Frau mit ihrem Kind nicht auf dem Altar seiner Mannesehre opfern durfte, wie die meisten Männer es wohl getan hätten. Vor allem stand er hinter mir, als viele über mich abfällig redeten. Auch dass viele Männer unseres kleinen Ortes ihm vorwarfen, dass er kein Ehrgefühl als Mann hätte, weil er ein fremdes Kind als sein Kind anerkenne, machte ihm nichts. Er nahm mich in den Arm und sagte mir immer wieder, dass ich sein geliebter Sohn und ebenso das über alles geliebte Kind unseres Vaters im Himmel sei. Mir wurde später klar, dass Gott gerade die Kinder, die die Menschen illegitim nennen und verachten, besonders liebt.
Den Stammbaum benutzt der Evangelist dann nicht, um die wahrscheinliche Wahrheit meiner unehelichen Geburt zu widerlegen, sondern er bestätigt die wahrscheinlich uneheliche Geburt. Da fügt er nämlich scheinbar ohne Grund vier Frauen illegitimer Kinder in meinen Stammbaum ein, der zu Josef als meinem Vater aus dem Geschlecht des Königs David führt und mich zum Sohn Davids macht. Lukas kennt diese Frauen in meinem Stammbaum nicht. Matthäus aber will damit sagen: Schon in meinem Stammbaum hat Gott vier illegitime Kinder und ihre Mütter anerkannt, geadelt und zu Trägern meines messianischen Geschlechts gemacht!
Aber wie könnt Ihr heute die von meinen offiziellen Stellvertretern immer wieder so hoch beschworene jungfräuliche Geburt verstehen? Schon die frühe und auch die mittelalterliche Theologie haben meine Geburt so verstanden, dass ich als Gottessohn nicht auf so menschlich unwürdige Weise geboren werden durfte wie alle Menschen geboren werden, sondern dass Gott, „dem kein Ding unmöglich ist“, durch ein Wunder mein Vater sein musste. Hier gebe ich zunächst meinem letzten päpstlichen Stellvertreter das Wort, der als Theologe schrieb: „Die Gottessohnschaft Jesu beruht …. nicht darauf, dass Jesus keinen menschlichen Vater hatte …. denn die Gottessohnschaft ….. ist kein biologisches, sondern ein ontologisches Faktum, kein Vorgang in der Zeit, sondern in Gottes Ewigkeit.“ (Ratzinger: Einführung, S.199f, München 1968). Diese Aussage ist klar und sagt, dass es kein Widerspruch zum Glauben ist, wenn ein Mensch mein biologischer Vater war.
Es gibt auch noch ein Argument des großen Theologen Anselm von Canterbury für meine natürliche Geburt. Er hat – ungefähr 1000 Jahre nach meiner Geburt – gesagt: „Gott ist immer der, der größer nicht gedacht werden kann.“ Dann wird gefragt: Welcher Gott ist größer, der Gott, der im Ursprung seiner Schöpfung schon die Idee meiner Menschwerdung hatte und mich so Mensch werden lässt, wie es seine Schöpfungsordnung vorsieht und wie jeder Mensch auch Mensch wird? Oder der Gott, der mit einem Wunder einen Fehler in seiner Schöpfung korrigieren muss, um mich auf engelhaft-göttliche Weise Mensch werden zu lassen. Natürlich, stimmt jeder zuerst dem Gedanken zu, dass der Gott größer ist, der kein Wunder nötig hat, um mich nach seinem Schöpfungsplan Mensch werden zu lassen!
Das für mich aber wichtigste Argument für meine ganz menschliche Empfängnis und Geburt ist, dass ich mir schon vor aller Zeit die letzte Stelle als Mensch ausbedungen habe. Ich wollte in der Geburt, im Leben und im Tod immer die letzte Stelle einnehmen, die die Liebe immer einnimmt, um in der Radikalität der Annahme meines Menschseins mein liebendes Gottsein zu offenbaren. Das habe ich im Sakrament meiner Fußwaschung beim letzten Abendmahl meinen Jüngern als Testament hinterlassen. Aber sie haben diese Botschaft nicht erkannt und vergessen. Ihr Versagen ist heute zur seligen Schuld geworden, um dieses wichtigste Sakrament für meinen Dritten Bund bereitzuhalten. Der erste Bund war der orientalische Abraham-Moses-Bund, der Zweite Bund war der Europäisch-Römische Christusbund, und der Dritte Bund wird der universale Gottesbund mit allen Völker und Religionen der Erde sein. Der Geist Gottes wird die Menschen in die Wahrheit dieses Bundes neu einführen.
Bestätigend dazu muss ich Euch erinnern an den allen bekannten dramatischen Mythos von den Engeln, die vor aller Schöpfung zum ersten Mal von Gott in den Plan meiner Menschwerdung eingeweiht wurden. Als sie die Niedrigkeit meiner Menschwerdung vorgeführt bekamen, verweigerte der höchste Lichtträger Gottes, der Erzengel Luzifer mit seinem Anhang, Gott den Gehorsam. Er hielt es für unter seiner erhabenen Engelwürde, Gott in einer so beschämend niedrigen und schmutzigen Geburt Mensch werden zu sehen. In diesem Augenblick sah sich der Engel des Lichts mitsamt seinem Anhang plötzlich in die Hölle versetzt. Soweit der alte Mythos. Die Menschen, die heute die Worte Luzifers nachsprechen und meine ganz menschliche Geburt durch die engelreine Jungfrau Maria in den menschlichen Schmutz gezogen sehen, haben meine Demut und die Demut meiner Mutter nicht verstanden. Sie haben die freie und liebende Übernahme meiner letzten Stelle als Mensch nicht erkannt. Angesichts der für sie als engelgleich und göttlich anzusehenden reinen Jungfrau Maria und ihres ebenfalls heiligen Gemahls Joseph betonen sie die Niedrigkeit der Geburt aller Menschen und erklären sie zu niedrigen und unreinen Geschöpfen. Alle Männer und Frauen, die das Leben weitergeben, sind in ihren Augen nicht würdig, die hohen priesterlich-zölibatären Weihen zu empfangen und damit eine sakramentale Stellvertretung Gottes „in persona“ zu übernehmen. Sie wissen nicht, dass sie damit nicht das Werk Gottes tun, sondern das Werk des falschen Lichtträgers Gottes Luzifer. Die Früchte dieser vor allem mit Macht und Herrschaft ausgestatteten klerikalen Männerwelt und ihres angeblich engelreinen zölibatären Lebens sehe ich heute mit dem Missbrauch bis in die oberste Spitze meiner Kirche hinein ans Licht kommen. Wenn mir die Ehelosigkeit so wichtig gewesen wäre, hätte ich niemals Petrus zu meinem ersten verheirateten Nachfolger erwählt.
Wie kam es zum falschen Glauben an meine sogenannte Jungfrauengeburt ohne menschlichen Vater? Das hängt mit dem römischen Kaiserkult zusammen. Jeder Kaiser war laut römischer Staatsreligion jungfräulich geborener Gottessohn und musste als Gottessohn und Jungfrauengeburt verehrt werden. Alle römischen Bürger mussten dem jungfräulich geborenen Kaiser als wahrem Gottessohn und Gott ein öffentliches Rauchopfer darbringen. Nicht wenige meiner frühen Anhänger haben ihr Leben gelassen, weil sie diesem Götzendienst nicht ihre Freiheit opfern wollten, sondern lieber ihr Leben. Alle Römer kannten die Mordgeschichten des Kaiserhauses und wussten genau, wie schändlich es da zuging. Die Väter der neugeborenen Kaisersöhne waren nie eindeutig zu ermitteln, und die Söhne wurden daher offiziell zu jungfräulich geborenen Gottessöhnen ernannt. Die Christen hatten nun mit mir, ihrem Religionsstifter, in der römischen Kultur ein Problem. Der Apostel Paulus hatte meine Geschichte und meinen Glauben nach Europa gebracht und die erste Gemeinde von Philippi gegründet. Er nannte mich in seiner Verkündigung „Christos/Christus“. Das war der ins Griechisch/ Lateinische übersetzte jüdische Messias-Name mit der Bedeutung “Der Gesalbte Gottes“. Mit diesem Wort konnten meine Christen in Europa und Rom wenig anfangen. So war es für Paulus ein Glücksfall, dass er den für die Römer unbekannten jüdischen Ehrennamen „Messias“ mit dem allen Römern bekannten höchsten Ehrennamen „Gottessohn“ wiedergeben konnte. Aber auch in den Psalmen Davids, wurden gläubige Juden Gottessöhne genannt. Jetzt verstanden meine Christen in Rom den Titel Gottessohn als göttlichen Ehrentitel. Das Problem meiner Geburt blieb gleich: Meine Mutter wurde schwanger mit mir und der Vater blieb unbekannt. Mein Vater Josef wusste genau, dass er nicht mein Vater war. Aber auch er kennt den Vater nicht oder verschweigt ihn mit Absicht.
Ich bin sehr traurig darüber, wie Ihr diese Kinder ohne Väter und ihre Mütter in Eurer zweitausendjährigen Geschichte angesehen und behandelt habt. In Eurem Gesetzbuch habt Ihr sogar den illegitimen Kindern und sogar noch ihren Söhnen verboten, die heiligen Weihen des Priesters zu empfangen! Aber auch in Euren christlichen Gesellschaften sind diese Kinder weithin sanktioniert, diffamiert, diskriminiert worden. Ihre unehelichen Mütter wurden in früheren Jahrhunderten verfolgt und nicht selten mit dem Tode bestraft. Viele junge vergewaltigte Frauen haben sich aus Angst vor Diffamierung und Bestrafung das Leben genommen. Im römischen Kaiserhaus gab es diese Sanktionierungen nicht und auch in den späteren Papstfamilien nicht. Im Gegenteil. Bei der Geburt der Kaisersöhne und Papstsöhne war der Volksjubel groß. Und ihre Kinder wurden früh hochgeehrte kirchliche Würdenträger und Kardinäle.
Die Evangelisten, die aus dem griechisch-römischen Kulturraum stammen oder diesen Kulturraum gut kannten, schrieben drei Generationen später ihr Glaubenszeugnis über meine Geburt als wunderbare Heilsgeschichte eines göttlichen Erlöserkindes. Diese Berichte wollen und können keine historischen Berichte sein, sondern sind ein ehrliches Glaubenszeugnis, dass ich, Jesus von Nazareth, vom ersten Augenblick meines irdischen Daseins an der von Gott erwählte und gesalbte Messias und der wahre jungfräuliche Gottessohn und Heiland aller Menschen bin.
Meine Mutter war eine begnadete junge Frau, die die Empfängnis ihres Kindes von einem ihr fremden Mann uneingeschränkt annahm und zwar als Geschenk der Gnade Gottes. Sie sagte aus vollem Herzen ohne Angst „Ja“ zu ihrem Kind. Ihr wurde dieses Ja als Großtat ihres Glaubens angerechnet, und deshalb hat Gott sie mit seiner Gnade erfüllt, ihr Kind zum Gotteskind berufen und sie selbst zur reinen Jungfrau erklärt. Damit hat sie allen verletzten, beschimpften und gedemütigten Frauen der ganzen Welt ihre Würde zurückgegeben. Das hat schon viele Bürger des römischen Reiches damals von der christlichen Botschaft überzeugt, weil sie nicht mehr an die römisch-griechischen Götter glauben konnten. Die Evangelisten wollten keine biologischen Fakten wiedergeben, sondern die moralische und menschliche Integrität meiner Mutter als junger Frau betonen. Die Jungfrauengeburten der verhassten Kaisersöhne aber lehnten immer mehr römische Bürger als politische Lüge ab.
Meine Geburtsgeschichte wurde um 100 Eurer Zeitrechnung in der noch kleinen Sekte der Christen ein leuchtendes Gegenbild zu den ungeliebten öffentlichen Botschaften neugeborener kaiserlicher Söhne. Meine Geburt verbreitete sich als die wahre Geburt eines Gotteskindes. Spätere Christen aber legten dann meine Kindheitsgeschichte leider so aus, dass ich von einer von jedem Mann unberührten Jungfrau als Gottessohn geboren sein musste. Sie stießen damit wieder alle Frauen, die Mütter wurden, zurück in die Unreinheit und Sündhaftigkeit menschlicher Zeugung und Geburt. Vor allem die Mütter der Kinder, die keinen offiziellen Vater vorweisen konnten, verstießen sie. Diese Kinder wurden dann als unwürdige, uneheliche Kinder verurteilt und blieben ein Leben lang verachtet. Ihre Mütter wurden dabei noch oft als Verbrecherinnen zu hohen Strafen oder zum Tode verurteilt. Die dazugehörenden verbrecherischen Männer blieben anerkannte Söhne der heiligen Kirche, denen alle Vergehen verziehen wurden. Nicht selten waren die Väter bis heute Priester, Bischöfe und Päpste.
Nach meinem Tod und der Erfahrung meiner Auferstehung sahen meine ersten Anhänger in den Urgemeinden immer mehr den wunderwirkenden Messias und Gottessohn in mir, weil sie mein Leiden und Sterben am Kreuz nicht anders verstehen konnten. Sie entfernten sich von meinem Menschsein und machten mich zum erlösenden Gott, der für sie am Kreuz alle Schuld auf sich genommen und sie damit erlöst hat. Sie waren noch nicht in der Lage, die selbstlose Liebe eines Menschen, der bereit ist, sich für das Menschsein anderer mit seinem Leben einzusetzen, in einer neuen Sprache auszudrücken. Sie konnten es nur aussagen mit den für sie vorhandenen Begriffen und Vorstellungen von Größe, Erhabenheit, Vollkommenheit und der göttlicher Macht und Weisheit ihrer Kaiservorstellungen. So kamen sie notwendigerweise beim alten Gottes-Götzenbild wieder aus, mit den Folgen patriarchalisch- päpstlicher Unmenschlichkeit. Durch meine Menschwerdung wollte ich ihnen offenbaren, dass mein Gottsein sich nicht in der Vorstellung und der Sprache ihrer kaiserlichen Göttlichkeitskategorien von Größe, pharaonischer Unsterblichkeit und pyramidenhafter Macht offenbart, sondern in den von den Menschen bis heute abgewerteten Begriffen wie Niedrigkeit, Demut, Verzeihen, Nachsicht, Barmherzigkeit und selbstlose Liebe, die sich vergisst. Deshalb liebte ich die Menschen in ihrer zugestandenen Armut, Schwäche und Krankheit, ihrem Versagen und Schuldigwerden. Ich war immer einer von ihnen. Ich aß und trank mit ihnen und gestand ihnen meine Schwäche, Angst und mein Versagen ein. Ich wollte wirklich der Letzte von allen sein, der verlorene Sohn, angefangen von meiner unehelichen Empfängnis und Geburt bis zum unmenschlichen Tod als Verbrecher am Kreuz. Zum letzten Platz bekannte ich mich auch in meinem Testament und Gerichtsspruch: „Ihr sollt mich in den letzten und ärmsten Menschen wiedererkennen. Wenn Ihr das nicht tut, kenne ich Euch nicht im Reich meines Vaters.“ Hättet Ihr mich und meine Sendung doch einmal in Eurer Geschichte so verstanden und wäret mir auch nur einmal in meiner Armut gefolgt, hättet Ihr keine Kreuzzüge gemacht und keine Ketzer und Frauen als Hexen verbrannt. Ihr hättet das Paradies auf Erden errichten können. Aber so habt Ihr meine schöne Schöpfung zur Hölle gemacht.
Für die, die das immer noch nicht glauben und verstehen können, sage ich es noch einmal: Die frohe Botschaft von meiner Geburt veränderte nicht die Situation meiner Mutter, nicht meine natürliche Empfängnis und Geburt, nicht die Tatsache, dass ich in den Augen der Frommen ein Kind der ‚Schande’ war. Meine Geburt veränderte aber das Selbstverständnis meiner Mutter und machte sie zur starken Frau und zum unerschütterlichen Turm Davids und zum goldenen Haus einer vorbehaltlosen Liebe. Sie war stolz auf ihr Kind, stand zu mir und wusste, dass sie mich nicht zuerst dem Willen eines Mannes, sondern zuerst dem Willen Gottes und seiner Gnade verdankte. Sie wusste, was ich später verkündet habe, dass nicht, was von außen in den Menschen eindringt, ihn unrein macht, sondern was von innen kommt, wie Hass und Bosheit. So konnte auch keine natürliche Empfängnis und Geburt und keine Begegnung mit Unbeschnittenen sie und ihre Kinder unrein machen. Sie wusste, dass Gott seine Schöpfung, wie er sie von Ewigkeit her beschlossen hatte, dadurch heiligte und rein machte, dass er von Ewigkeit her selbst auf diese Weise zur Welt kommen und Mensch werden wollte wie alle Menschen. Ja, meine Mutter hat in ihrem Inneren die Stimme des Engels gehört, der ihr sagte, dass der Gott ihrer Väter zu ihr steht und mit ihr ist. Das machte sie in allem Leid stark und in aller Erniedrigung voller Gnade. Der Ewige selbst bestätigte sie als Jungfrau und Mutter. In dieser Kraft konnte sie ihr uneingeschränkt Ja zu mir, ihrem Erstgeborenen sagen und zu allen ihren Kindern.
So empfing sie mich mit großer Freude und teilte ihr Glück über meine erwartete Geburt mit allen Menschen guten Willens. Wenn sie hörte, dass die Leute sie als Dirne und mich als vaterloses Hurenkind beschimpften, wurde sie nicht bitter, sondern blieb freundlich. Ich bewunderte ihre innere Kraft, die stark war wie ein Turm und nicht wankte im Sturm des ständig bösen Geredes. Sie liebte mich nicht, weil ein Engel ihr eine geheime Botschaft gebracht hätte, sondern weil ich für sie ein Kind der Liebe und Hingabe an den Willen Gottes war. Sie hatte ihr bedingungsloses Ja zum Willen Gottes gesagt. Das bekannte sie vor allen Menschen, auch als das Schwert der Schmerzen durch sie hindurchging und ich tot auf ihrem Schoß lag. Sie blieb meine geliebte Mutter. Ihre Liebe war unbesiegbar wie ein Feuer, das die dunklen Wasser des Hasses nicht auszulöschen vermochten. In meinem Leben war meine Mutter für mich die unerschütterliche Frau, der blühende Garten des Paradieses, die goldene Rose, die heilige Bundeslade und der Morgenstern. Sie war in ihrer Niedrigkeit meine geliebte Königin und blieb für mich die Mutter aller Gnaden, allen Glaubens, aller Hoffnung und aller Liebe. Sie hat in ihrem Leben nie aufgehört, das Lob Gottes zu singen.
Ich hörte sie oft sagen: „Jedes Kind ist mein einziges!“ Jedes Kind hat sie ohne Vorbehalt geliebt. Das habe ich bei ihr bewundert. Allen ihren Kindern gegenüber war sie voller Zärtlichkeit und Bestimmtheit. Sie wurde für mich das große Vorbild, und ich war stolz auf sie. Als sie mich später nicht mehr verstand und ich ihr ungewollt das Leid meines Aufbruchs zufügte, wusste ich, dass sie es ohne Bitterkeit annahm. Sie glaubte fest daran, dass der Gott unserer Väter uns befreien, uns den Messias senden und alles Leid in Lobpreis verwandeln wird. In dieser sang sie ihr neues Lied vom barmherzigen Gott, der ihre Niedrigkeit in Liebe angesehen und sie in Gnaden erhöht hatte, vom gnädigen Gott, dessen Gnade auf alle Menschen übergeht, soweit sie demütig von Herzen sind, vom gütigen Gott, der sich voller Großmut zeigt allen Menschen gegenüber von Geschlecht zu Geschlecht, wenn sie in seiner Furcht verharren und sich allen Geschöpfen gegenüber ehrfürchtig zeigen. Sie sang von ihrem Glauben, dass Gott die Gewalttätigen stürzt, die Reichen leer ausgehen lässt, aber den Kleinen ihre Würde zurückgibt und die Armen mit Liebe reich macht.
Sie blieb für mich immer die starke junge Frau und Mutter, aber nicht nach Euren götzenhaften Vorstellungen, als sei sie körperlich nie von einem Mann umarmt und geliebt worden, als habe sie den Erdboden der Welt nie gespürt und sei hier nur wie auf den seligen Gefilden göttlicher Entrücktheit gewandelt, als hätte sie mich ohne Verletzung ihrer biologischen Jungfräulichkeit wundersam geboren, als hätte sie nie andere Kinder zur Welt bringen dürfen, als sei sie ohne die Härte des Todes zu Gott entrückt und mit ihrem irdischen Leib in den Himmel emporgehoben worden! Alles das sind Eure alten mythenhaften, legendären Vorstellungen. Aber in ihrer Demut ist sie die größte Heilige, die Gott am nächsten steht und am Geheimnis Gottes selbst Teil hat. Wann werdet Ihr ihre Größe in ihrer Niedrigkeit und ihre göttliche Jungfräulichkeit in ihrem selbstbewussten und von keinem Mann abhängigen Frau-Sein entdecken? Ja, sie ist mit ihrem himmlischen Leib und ihrer göttlichen Seele in den Himmel aufgenommen worden, denn in ihrem Tod hat Gott sie neu erschaffen und sie zu sich erhoben. Wann glaubt Ihr endlich, dass Gott nie einen Menschen beruft, um alle anderen zu erniedrigen, ein Volk erwählt, um alle anderen herabzusetzen? Das ist Euer Verständnis von Erwählung und Berufung in Eurem götzenhaften Wettstreit zwischen Konkurrenz und Interessen.
Was habt Ihr nach ihrem Tod mit ihr gemacht? Statt ihre Größe in ihrer bejahten Niedrigkeit zu erkennen, habt Ihr sie vergötzt und zu falscher Größe erhoben - in guter Absicht natürlich. Ihr wolltet sie ehren und tatet es mit den Mitteln, die Euch damals zur Verfügung standen, eben den heidnischen Mitteln von Wundersucht, biologischer Jungfräulichkeit und göttlicher Unnahbarkeit. Die Folge war, dass Ihr alle anderen Frauen wieder zu sündigen Eva-Frauen gemacht habt, sie ihrer Würde beraubt, missbraucht, verachtet und unterdrückt habt. Ähnliches habt Ihr mir angetan! Auch mir habt Ihr bald falsche Ehren erwiesen, falsche Ehrentitel zugeschrieben und mich zum Götzen gemacht. Ihr glaubtet, mich göttlich zu ehren und habt mich entehrt. Eure Nachfolger haben sich dann bald selbst auf den von ihnen errichteten Götzenthron gesetzt, sich meine Nachfolger und Stellvertreter genannt und sich göttliche Ehren erweisen lassen. Sie haben mich verraten und sich mit Macht und Reichtum umgeben, was ich meinen Jüngern streng verboten hatte.
Dass ich Frauen in meinen Kreis aufnahm und ihre Hilfe dankbar annahm, das verdanke ich meiner Mutter. Dass ich mich unabhängig von allen Menschen wusste und mein Selbstbewusstsein nicht vom Stand der Familie, einer Weihe oder einem Titel ableitete, ist ihr Verdienst. Dass mir die Ideen zu vielen meiner Gleichnisse aus ihrem Erfahrungsbereich zugekommen sind, verdanke ich auch ihr. Deshalb sage ich Eurer heutigen Geistlichkeit, was ich meiner damaligen gesagt habe: Die von Euch verachteten Frauen werden eher in das Reich Gottes eingehen als Ihr Stellvertreter Gottes und geweihten Häupter und Hirten! Später erkannte ich: meine Mutter war die erste nicht, die das Schicksal der Verachtung durch eine überhebliche Männerwelt erlitten hat, aber sie gehörte zu den Frauen, die stark waren und nicht daran zerbrachen. Meine Mutter blieb für mich die über alles geliebte Frau, der Maßstab für mein Menschsein, mein Vorbild und mein Ideal für die Würde aller Frauen.
Deshalb habe ich Frauen in meinen Jüngerkreis aufgenommen, haben Frauen mich begleitet und waren auch Frauen bei meinem letzten Mahl zugegen. Das ist meinen späten Evangelisten aufgrund des sich durchsetzenden patriarchalischen Weltbildes nicht mehr mitgeteilt worden. Sie waren auch die einzigen, die unter meinem Kreuz ausgeharrt und die ersten, die die Botschaft von meiner Auferstehung weitergegeben haben. Nie wäre ein Lob der Frauen, besonders meiner Mutter zu viel für mich gewesen! Ich weiß von zwei Liebesliedern, die meine Mutter mir gesungen hat, das erste voll Freude vor meiner Geburt beim Besuch ihrer Verwandten Elisabeth und das zweite, als ich tot auf ihrem Schoß lag. Da ging ein großer Schmerz durch ihre Seele. Dieses Liebeslied, das Ihr noch nicht kennt, bewahrte sie in ihrem Herzen, bis sie es mir bei ihrer Krönung schenkte:
'Einst wurdest Du Mensch in meinem Schoß,
mein Kind, meine Liebe.
Ich kannte Dich nicht, doch liebte ich Dich,
als wärest Du mein Gott.
Ich lehrte Dich beten, lehrte Dich stark sein
und zu Dir zu stehen.
Als Du groß warst, lehrtest Du mich, klein zu sein,
ein Kind und gering.
Du hast als junger Mann für uns gesorgt
und dann gingst Du fort und sagtest mir:
‘Frau, was habe ich mit Dir zu tun?’
Da hast Du mich verwundet, aber mein Herz stark gemacht.
Meine Liebe ist stärker als der Tod.
Jetzt liegst Du tot auf meinem Schoß,
bist wieder klein und schläfst.
Du bist meine Liebe, mein Gott, und lebst,
bist auferstanden und stehst in jedem Menschen auf.
Jetzt bin ich die Mutter aller Geringen.
Die Geringen sind Eckmaß dieser Welt,
Maß von Dir, dem Eckstein, der alles hält.
Jedes Du ist Gott in Menschengestalt,
weil Du mein Gott bist, mein Du überall.’
2.2 Was ich von meinem Vater Josef weiß
Eine Stunde Fußmarsch von Nazareth entfernt lag im Hügelland von Galiläa die schöne römische Söldnerstadt Sepphoris. Die meisten Männer aus unserem kleinen Bergdorf fanden da Arbeit und Brot, auch mein Vater. Die Stadt wurde gerade zur römischen Verwaltungsstadt umgebaut. Gut zwei Jahre nach dem Tod des großen Herodes geschah eine Katastrophe. Herodes hatte bis zu seinem Tod die Stadt mit Unterstützung der römischen Besatzung fest in seiner Hand. Als er starb, entstand ein Machtvakuum. Judas Ezechias, dessen Vater von Herodes ins Gefängnis geworfen worden war, nutzte die Situation, gab sich als Messias aus, prophezeite die Vernichtung der Römer unter dem Beistand Gottes und seiner Engel und rief die Bewohner auf, einen Aufstand gegen die von den Römern protegierte Herodes-Herrschaft mitzumachen. Schon Monate vorher kursierten Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch. Dann brach der Aufstand los. Der angebliche Messias konnte einen ersten Erfolg vorweisen, schlug die römische Wache vor dem Zeughauslager in die Flucht, raubte die Waffen und verteilte sie an seine Gotteskrieger. Nach dem scheinbar mit Gotteshilfe errungenen Sieg verkündete Judas Ben Ezechias den baldigen Sieg gegen die ganze römische Besatzung. Viele Männer aus Sepphoris und Umgebung glaubten ihm und machten mit. Nach dieser ersten kleinen Niederlage ließen sich die Römer Zeit, sammelten eine größere Streitmacht von 3 Legionen unter dem Gouverneur von Syrien Quintilius Varus, umzingelten die Stadt, eroberten und zerstörten sie. Alle Männer wurden gefangen genommen und gekreuzigt; die Leichen der Männer hingen noch lange zur Abschreckung an den Kreuzen rund um die Stadt. Die Frauen und Kinder wurden in die Sklaverei verkauft. Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus schreibt, wie schrecklich der Anblick der zerstörten Stadt mit dem endlosen Wall von furchterregenden Kreuzen und verstümmelten Leichen war. Damit war der Messias-Spuk vorbei und die Römer bauten die Stadt zu ihrem Verwaltungszentrum wieder auf.
Mein Vater Joseph hatte in dieser Stadt auch Arbeit gefunden und ist nach diesem Aufstand nicht mehr nach Hause zurückgekommen. Jetzt wurde mir klar, dass mein Vater wohl auch zu den Opfern gehörte, obwohl er nicht, wie die Mutter sagte, am Aufstand teilgenommen hat.
Meine Mutter blieb auch nach dieser Katastrophe eine starke Frau, die mit Energie, Klugheit und Liebe für ihre Familie und ihre Kinder sorgte. Sie erzählte mir unter Tränen, dass sie damals, als sie vom Aufstand gehört hatte, nach Sepphoris gelaufen sei, Vater gesucht, aber nicht mehr gefunden habe. Sie sei um die ganze Stadt herumgelaufen, habe hunderte Kreuze mit entstellten Leichen gesehen, die schon von Geiern und Hunden angefressen und zerfleischt worden waren. Aber unseren Vater hätte sie nicht gefunden. Damals ging mir zum ersten Mal der Gedanke durch den Kopf, dass jeder Krieg unsinnig und jede Gewalt eine unmenschliche Katastrophe ist. Später wurde mir klar, dass jeder Krieg vor allem dann verbrecherisch und gottlos ist, wenn er im Namen Gottes mit immer sich steigernder Brutalität geführt wird. Ich kam zu der Erkenntnis, dass jeder gottlos ist, der so einen Krieg anzettelt, in dem dann die Würde aller Menschen, vor allem der Frauen und Kinder mit Füßen getreten wird. Deshalb bringt jeder Krieg nur neues Elend hervor, neue Gewalt, neuen Hass und legt den Keim zu neuen Kriegen. Jeder Krieg, vor allem im Namen eines Gottes oder einer Ideologie, ist ein Zeichen von Unglauben und Gottlosigkeit.
In Nazareth, diesem winzigen Ort des Hügellandes Galiläa, von dem man sagte: “Was kann denn aus Nazareth schon Gutes kommen?“ habe ich meine ersten Schritte getan. Hier habe ich als Kind gespielt, bin die Berge hochgelaufen, habe mich im Gras versteckt und geschlafen, den Himmel angeschaut und nachts die Sterne und den Mond bewundert. Hier habe ich am Tag meiner Mutter bei ihrer Arbeit und meinem Vater bei seinem Handwerk zugeschaut und geholfen, soweit ich das schon konnte. Ich liebte meine Mutter, aber auch meinen Vater. Ich denke noch heute voller Zuneigung und Zärtlichkeit an ihn. Er war so arglos und freundlich zu allen, wie ich es selten bei einem Mann erlebt habe. Dabei wusste er genau, was gespielt wurde, wie die Leute über ihn redeten, ihn ausnützten und ihm den vereinbarten Lohn nicht selten vorenthielten. Er war auch gut zu allen Kindern unserer Familie und besonders zu mir, der ich nicht sein Kind war. Die Männer im Dorf machten sich über ihn lustig, er sei kein Mann und wisse nicht, was er seiner Ehre schulde. Mein Vater aber hatte eine größere Ehre als sie. Er war der Garant meiner Ehre und Freiheit und der Garant der Ehre meiner Mutter und unserer ganzen Familie. Er sorgte für uns mit Hingabe und wehrte die Bosheiten der Nachbarn und der Frommen ab. Er ertrug es ohne Groll, wenn man ihn beschimpfte und verächtlich machte.
Schon als Kind habe ich erfahren, dass vieles in der Welt nicht in Ordnung ist, aber ich habe auch gemerkt, dass ich selbst Fehler machte. Ich habe manchmal darüber geweint und gestand meiner Mutter, was ich getan hatte. Meine Mutter nahm mich dann in den Arm und sagte, dass alles wieder gut sei. Dann war ich glücklich.
Als mein Vater plötzlich von seiner Arbeit nicht mehr zurückgekommen war, musste ich als der älteste Sohn arbeiten gehen. Wir hatten eine große Familie. Ich hatte noch vier Brüder und mehrere Schwestern und war als der Älteste in dieser Zeit wohl 12 Jahre alt. Wie schwer war die Arbeit für mich! Jeden Morgen musste ich um vier Uhr aufstehen, durch die Dunkelheit nach Sepphoris laufen, war gegen 6 Uhr auf dem Marktplatz und stand mit vielen jungen und älteren Männern um Arbeit an. Ich war froh, wenn mich ein Bauhandwerker, ein Maurer, ein Bauer oder ein römischer Soldat für einen Denar Tageslohn mitnahm. Ich musste dann bis zum Abend um 6 Uhr hart arbeiten, wurde oft geschlagen und bekam wenig zu essen. Es kam auch vor, dass ich am Ende des Tages einen Fußtritt mit Schimpfworten bekam. Das fand ich so ungerecht, dass ich wünschte, der Mann würde mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen. Den einen Denar Tageslohn, den ich meistens bekam, brachte ich jeden Abend meiner Mutter nach Hause. Davon konnte unsere Familie gerade leben.
Ich erinnere mich auch an fröhliche Tage. Da gab es die schönen Jahresfeste meines Volkes, das Paschafest und das Laubhüttenfest. Da haben wir gesungen und gespielt. Am liebsten waren mir die Hochzeitsfeste mit vielen Freunden und Nachbarn, Verwandten und Bekannten. Da war ich mitten dabei, habe gerne Musik gemacht, getanzt, gegessen und getrunken, was der Hausvater aufbot. Am Abend oder in der Morgenfrühe eines Sabbats habe ich die Welt oft in ihrer Schönheit bewundert. Ich freute mich über die aufgehende Sonne, über den Gesang der Vögel, über das Meer der Blumen im Frühjahr und über die vielen Kräuter mit ihrem Duft. In der Nacht staunte ich über den strahlenden unendlichen Sternenhimmel und den guten Mond. Ich war glücklich, wenn ich die Saat aufgehen, die Bäume blühen und die Schafe auf den Wiesen weiden sah. Für alles das konnte ich meinem himmlischen Vater nicht genug danken. Dabei ging mir früh eine Frage durch den Kopf: Warum fügen sich die Menschen so viel Leid zu? Warum wollen sie immer besser, reicher und stärker sein als andere? Warum sind sie so neidisch aufeinander und reden so gerne schlecht über andere? Warum müssen sich die Armen und Kranken verstecken und die Kleinen und Schwachen sich alles gefallen lassen? Warum prassen die einen und hungern die anderen? Warum gibt es so viel Gewalt, Krieg und Leid im ganzen Land?
Meine Mutter erzählte mir viel über meine Kindheit, aber nichts über ein göttliches Geheimnis meiner Geburt und nichts von der Botschaft eines Engels. Aber sie hat mir gestanden, dass ich nicht das Kind von Joseph bin, sondern das Kind eines fremden Mannes. Als sie das sagte, weinte sie und gestand, dass sie zuerst verzweifelt war, besonders als sie bald spürte, dass sie ein Kind erwartete und das ihrem Bräutigam ja sagen musste. Der wäre sehr traurig gewesen und hätte sie in Ehren entlassen wollen. Aber eines Morgens sei er strahlend auf sie zugekommen, habe sie geküsst und gesagt: „Es ist alles gut. Dein Kind, ist auch mein Kind.“ Sie habe ihn ungläubig angesehen. Da habe er von einem Traum gesprochen, in dem ein Engel ihm erschienen sei und gesagt habe: „Nimm das Kind Deiner Braut als ein Geschenk von Gott an. Es ist auch Dein Kind!“ Von dieser Nacht an sei er zärtlich und liebevoll zu ihr gewesen. Sein Glaube sei ihr wie der Glaube Abrahams erschienen.
Von da an liebte ich meinen Vater besonders wegen seiner Großmut und Demut, ein ihm fremdes Kind ganz ohne Vorbehalt in sein Herz zu schließen.
Meine Mutter erzählte weiter: „Jetzt konnte ich das Glück, dass Du mein Kind und ein Kind Gottes warst, mit allen Freundinnen und Verwandten teilen. Ich sang unserem Gott und Vater im Himmel ein Danklied, der mich in meiner Niedrigkeit stark gemacht hatte. Aber erst nach 30 Jahren, als mein Sohn tot auf meinem Schoß lag, hatte ich unseren himmlischen Vater verstanden, dass mein Sohn auch sein Sohn war, ein wahres Gotteskind und ein wahrer Sohn Gottes. Das war für mich als Mutter die frohe Botschaft an alle Menschen, dass gerade die, die verachtet, erniedrigt und gequält werden, in besonderer Weise Gottes geliebte Kinder sind und göttliche Würde besitzen. Diese Offenbarung hat mein Sohn allen Menschen verkündet. Aber er ist selbst von seinen Freunden zuerst nicht verstanden worden, weil die Zeit wohl für ein solches Verständnis noch nicht reif war.
Ich habe meine Verwandte Elisabeth besucht, und sie hat mich vor allen Frauen seliggepriesen, weil sie erkannte, dass ich zu meinem Kind rückhaltlos stehe. Da habe ich ein hohes Loblied auf die Gnade und Barmherzigkeit Gottes gesungen. In diesem Moment ist eine göttliche Kraft durch mich hindurch geströmt, und ich habe mich voller Gnade gefühlt wie eine geheimnisvolle Rose aus dem Garten des Paradieses. Das böse Gerede der Leute, die über mich und meinen Sohn herfielen, hat mich nicht mehr erreicht. Ich war überzeugt, dass von jetzt an jede Mutter stolz sein kann auf ihr Kind, ganz gleich, mit welcher Vaterschaft es auf die Welt kommt.“
Das hat meine Mutter mir erzählt, und am Schluss hat sie immer gesagt: „Jedes Kind ist ein von Gott geliebtes Kind, und alle Menschen sind geliebte Kinder Gottes.“
Ich höre von anderen immer wieder, dass ich doch in Bethlehem geboren sei, wie der Evangelist Lukas es erzählt hat. Bethlehem war der Geburtsort des Hütejungen David, der von Gott zum König über Israel berufen und gesalbt wurde. Für Lukas ist Bethlehem mein von Gott bestimmter messianischer Geburtsort. Der Messias soll ja der Sohn Davids sein; also hat Lukas mich als Sohn Davids in Bethlehem zur Welt kommen lassen. Die Geschichtsschreiber und Evangelisten damals hatten ja nicht das historische Bewusstsein, das Ihr erst seit Eurer Aufklärung habt. Ihre Geschichten waren Teil ihrer Verkündigung, die nicht den Anspruch historischer Fakten hatten. Meine Jünger, Freunde und Anhänger der zweiten und dritten Generation wollten Glaubenszeugnisse über mein Leben, über meine Kindheit und meine Mutter hören. Sie wollten vor allem die Bestätigung gewinnen, dass ich schon von Geburt an der von Gott auserwählte Messias und Gottessohn war.
Tatsächlich bin ich, wie schon gesagt, in Nazareth im Hügelland von Galiläa geboren, einem Gebiet im Norden Palästinas, das erst seit hundert Jahre vor meiner Geburt den Glauben unserer Väter angenommen hatte und von Leuten aus Jerusalem nur abschätzig das „Galiläa der Heiden“ genannt wurde. Mein Geburtsjahr ist ungewiss. Sicher ist, dass ich nicht um 0 Eurer Zeitrechnung geboren bin; denn zu dieser Zeit war Herodes schon tot. Aber er spielte ja in meiner Kindheit noch eine Rolle. Wahrscheinlich bin ich um das Jahr 7 vor Eurer Zeitrechnung geboren.
Nazareth war zu meiner Zeit ein sehr kleiner und völlig unbedeutender Ort. Wir haben am Rande unseres fast noch heidnischen Dorfes gelebt, und doch bin ich hier in der Tradition meines Volkes aufgewachsen, lernte die Welt kennen und hatte offene Augen und Ohren für alles, was um mich herum geschah. Hier bin ich groß geworden, auf den Hügeln Galiläas bin ich als Kind herumgesprungen und habe mich zu Hause gefühlt. Hier habe ich mit meinen Geschwistern gespielt, als der Älteste, auf die kleinen Geschwister aufgepasst und unsere Schafe gehütet. Mein Vater ist als Bauhandwerker nach Sepphoris zur Arbeit gegangen. Das hat meine Mutter mir erzählt. Ich wusste nicht, warum sie dabei weinte. Erst später hat sie mir die traurige Geschichte vom Vater erzählt.
In der Familie und der kleinen Synagoge unseres Ortes feierten wir die Feste unseres Volkes und waren stolz auf den Glauben unserer Väter. Meine Mutter hat mir früh unsere Befreiungsgeschichte erzählt. Ich war stolz, dass Gott uns aus der Knechtschaft Ägyptens herausgeholt hat. Von Kind an habe ich viel Unrecht und Ungerechtigkeit erlebt: die unmenschliche Unterdrückung durch die Römer, ihre hohen Steuerlasten, die uns arm machten, und die oft rohe Gewalt der Soldaten und Zöllner.
Als ich begann, die Welt zu verstehen, hat mir meine Mutter viel vom guten und barmherzigen Gott unseres Volkes erzählt, von der Geschichte unseres Vaters Abraham, wie er der Stimme seines Gewissens folgte, vom Land seiner Väter, das viele Götter verehrte, aufbrach und weggezogen ist in ein unbekanntes Land, das ihm sein unbekannter Gott verheißen hatte. Sie erzählte, dass unser Vater Abraham keine Nachkommen hatte und doch seinem Gott ohne Namen vertraute, der ihn nicht im Stich lassen würde, einen Bund mit ihm schloss und ihm in hohem Alter einen Sohn und viele Nachkommen schenkte. Sie hat mir die Geschichte von Joseph und dem Verbrechen seiner Brüder erzählt. Ich hörte von ihr, wie Abraham mit seiner Großfamilie wegen einer Hungersnot nach Ägypten fliehen musste, dort zwar überlebte, aber unterdrückt wurde und zuletzt unter dramatischen Umständen durch den von Gott berufenen Retter Moses in ein neues Land der Hoffnung geführt worden ist. Sie hat weiter erzählt, wie unser von Gott auserwähltes Volk unter seinen Königen David und Salomon zu Macht und Ansehen gelangte und zugleich den Bund mit Gott vergaß und ihm untreu wurde, wie Gott Propheten schickte, um unser Volk zur Bundestreue zurückzubringen, wie das Volk immer dann, wenn es durch Unglück und Gefangenschaft neu glauben lernte, aufblühte, aber wenn es vom Bund abfiel und sich mit Gewalt und Waffen befreien wollte, mit größerem Unglück selbst bestrafte. So habe ich die Geschichte meines Volkes kennengelernt.
Ich habe natürlich die Sprache, Kultur und Religion meiner Eltern übernommen und keinerlei übernatürliches Wissen gehabt. Ich habe wie jedes Kind die kleine Synagoge mit meinen Eltern besucht, dort unsere Sprache und die Sprache unserer Heiligen Schriften gelernt. Zuerst habe ich die Texte von einem alten Rabbi vorgelesen bekommen, dann hat er mir Lesen und Schreiben beigebracht, und so konnte ich die heiligen Texte bald selber lesen. Ich las sie, so oft ich sie in der Synagoge lesen durfte. Zu Hause hatten wir ja keine Bibel. Gerne hörte ich immer wieder Geschichten unserer Glaubensväter, die Geschichte von Abraham, Isaak und Jakob und seinen 12 Söhnen, wie unser Volk durch eine Hungersnot nach Ägypten verschlagen und da zum Sklavenvolk wurde, aber durch Moses eine wunderbare und dramatische Rettung durch das Rote Meer und die Wüste erfahren hat und wie wir am Ende glücklich ins Gelobte Land eingezogen sind, das Gott uns versprochen hatte. Ich war traurig, dass unser Volk in zwei Reiche, dem Nord- und dem Südreich zerfiel und immer wieder von gottgesandten Propheten in den Bund mit Gott zurückgeholt werden musste.
Besonders liebte ich die Gebete der Psalmen und konnte schon in der Jugend viele Psalmen auswendig. Ich kam dabei zu einem immer tieferen Verständnis unserer Heiligen Schriften. Der Gott meines Volkes war für mich der barmherzige, liebe Vater, den ich durch meine Mutter lieben gelernt hatte. Er war der Liebe meines Herzens ganz nah, und ich sprach Tag und Nacht mit ihm.
Die Liebe meiner Mutter und meines Vaters haben mir geholfen, alle Gefahren meiner Kindheit zu bestehen und alle Angst, Verachtung, Krankheit und Unglück zu überwinden. Mein Vater und meine Mutter lehrten mich schon früh, die Welt auch in ihrer Schönheit zu sehen und unseren Vater im Himmel zu danken. Ich erinnere mich an die tägliche Arbeit meiner Mutter im Haus und an die Arbeit meines Vaters in der nahen Stadt Sepphoris. Ich erinnere mich an den täglichen Gang zum Brunnen und an die oft versteckte Unfreundlichkeit mancher Frauen.
Ich erlebte früh die bösen Seiten der Menschen, ihren Hass und Neid, Mord und Totschlag, Ungerechtigkeit und Krieg, ihre Katastrophen mit Hungersnot und Dürre. Ich wurde Zeuge, wie jeder herodianische Herrscher und jeder römische Prokurator mehr Macht haben wollte, wie auch jeder Hohe Priester nach mehr Macht und Geld strebte. Im Maße ihres Erfolgs sah ich, wie die Mächtigen ungerecht wurden, ihre Untergebenen unterdrückten, schlugen und ihnen oft den vereinbarten Lohn vorenthielten. Alles das mündete am Ende immer wieder in Hass Streit und Krieg. Mir wurde früh klar, dass das nicht der Wille meines Vaters im Himmel sein konnte, aber ich wusste nicht, ob es einen Weg aus der Sackgasse dieses Teufelskreises überhaupt gab.
2.3 Wie ich Abschied von meiner Familie nahm
Dreißig Jahre meines Lebens habe ich als der älteste Sohn meiner Familie mit meinen vier Brüdern, meinen Schwestern und meiner Mutter zusammengelebt und gearbeitet. In den ersten Jahren meiner frühen Kindheit habe ich noch den Vater erlebt und liebte ihn über alles, weil er so gut zu mir war. Dann war er plötzlich weg, und meine Mutter sah ich weinen. Später hat sie mir einiges dazu erzählt, was mich traurig machte. Aber ich weiß bis heute nicht, ob es nur Gerüchte waren. Als meine Mutter mich als Kind zum Brunnen mitnahm, da merkte ich, dass einige Frauen sich unfreundlich verhielten. Sie sprachen nicht mit meiner Mutter, wandten sich brüsk von ihr ab und tuschelten hinter ihrem Rücken. Manche beschimpften sie sogar mit bösen Worten. Ich verstand das nicht, bis meine Mutter mir alles erklärte. Sie nahm mich dann in den Arm und sagte: „Du bist mein über alles geliebtes Kind und Gott liebt dich noch tausendmal mehr als ich!“ Meine Mutter ist über das böse Getuschel aber nie bitter geworden, sondern sie blieb immer die allen gegenüber liebenswürdige und freundliche Frau, die gerne lachte.
Als ich groß war und für die Familie drei Jahrzehnte gearbeitet hatte, bekam ich immer wieder den Vorwurf zu hören, dass ich nicht der Sohn meines Vaters und ein Kind der Schande sei. Wie sollte ich darauf reagieren? Mich wehren? Schimpfen? Drohen? Und was sollte ich später denen sagen, die scheinbar verständnisvoll erklärten, ich sei über das Unrecht, das ich in meiner Jugend wegen meiner fraglichen Abstammung erfahren hätte, so verbittert, dass ich jetzt gegen die Priester des Tempels und gegen das Gesetz des Moses als scharfer Kritiker auftrete? Darauf reagierte ich gar nicht, sondern nahm die Rolle des verlorenen Sohnes an und erzählte ihnen ein Gleichnis, an dessen Schluss ich die Rolle der Söhne umkehrte. Der jüngere ‚verlorene‘ Sohn – so sah ich mich – erfährt vom Vater Barmherzigkeit, Vergebung und die Wiedereinsetzung in seine Sohnesrechte, aber der ältere, scheinbar treue legitime und erbberechtigte Sohn wird zum verlorenen Sohn, der sich selbst vom Fest der Rückkehr und vom Erbe ausschließt.
Auch heute muss ich in meiner Kirche die Rollen umkehren. Ich sehe mich in meiner Kirche als der Verlorene Sohn, der mit unendlich vielen Söhnen und Töchtern des Vaters auf der Anklagebank sitzt und mit ihnen das Fest der Heimkehr feiert. Die offiziell treuen Söhne meiner Kirche und aller Religionen aber schließen sich derweil vom Fest der Heimkehr und Versöhnung mit dem Vater selbst aus.
Die Offiziellen, die Priester, Pharisäer und Schriftgelehrten damals, die mein Gleichnis gehört hatten, merkten bald, dass sie mit der Rolle des älteren treuen Sohnes gemeint waren und empörten sich. Die Leute aus dem Volk aber, die die vielen Gesetze der Tora nicht halten konnten und als verloren galten und das wussten, waren glücklich. Ich hatte mich auf ihre Seite gestellt und sie zu geliebten Kindern Gottes gemacht. Damit hatte ich zwar viele Freunde gewonnen, aber auch einen folgenschweren Streit mit den Hohen Priestern und Würdenträgern des Tempels eröffnet. Die Obrigkeit fühlte sich hart kritisiert, sah Gefahr für ihren allein wahren Glauben und begann zu überlegen, wie sie mich beseitigen könnten. Noch hatten sie Angst, weil sie das Volk fürchteten, das weithin auf meiner Seite stand. Diesen Streit muss ich auch heute in ähnlicher Weise mit den Offiziellen meiner Kirche und aller Religionen aushalten und durchstehen. Ich sehe, wie sich auch heute zahllose Menschen im alten Haus ihrer Religion verloren fühlen und erlebe, wie die Geistlichkeit mit Hilfe ihrer vielen Gesetze die Gläubigen zu verlorenen Kindern Gottes macht, und bin überzeugt, dass der alte Vater auch heute seine heimkehrenden verlorenen Kinder nicht in die ungnädigen Hände der angeblich treuen strengen Diener aller Religionen fallen lassen will, sondern sie lieber in seine barmherzigen Arme schließt, ihr Schuldbekenntnis annimmt, ihnen verzeiht, ihnen den goldenen Ring ihres Erbes zurückgibt und ein großes Fest feiert. Für Euch heute erzähle ich das Gleichnis in dieser Weise neu:
Der jüngere Sohn konnte es im Haus seines Vaters nicht mehr aushalten. Er fand keine Luft mehr zum Atmen, keinen Weg mehr zu gehen und kein Brot mehr zu essen. Er durfte sich nur noch vor den Fleischtopf setzen, den sein Bruder ihm mit versteinerter Miene täglich hinstellte und dabei sagte: ‘Ich bin der ältere Sohn und Erbe und trage die volle Verantwortung, die mir der Vater übertragen hat. Ich brauche Dich nicht für den Auftrag des Vaters!‘ Da fing der jüngere an, sein Sklavendasein zu verfluchen. Ihm wurde bewusst, dass er hier keine Zukunft hatte. Er hörte in seinem Innern die Stimme seines Urahns Abraham, die ihm sagte: ‘Zieh fort aus Deinem Vaterhaus und Deiner Verwandtschaft und zieh in das Land, das ich Dir zeigen werde!’ Er ging zu seinem Vater und sagte ihm, dass er gehen müsse. Der Vater ließ ihn ziehen, segnete ihn und gab ihm den Anteil seines Erbes. In dieser Weise hatte der Vater es mit allen seinen Kindern gemacht. Er wusste, dass sein Haus nicht mit der sklavischen Treue, sondern nur mit der freien Treue seiner Kinder eine Zukunft hatte. Er hatte auch lange Zeit nicht in die Freiheit seiner Kinder eingegriffen. Er wusste, dass sein ältester Sohn den Hof jetzt nicht mehr gut führte, die Felder vernachlässigte, die Herden krank werden ließ und den alten Hirten nur noch die Einhaltung aller Gesetze einschärfte. Er wusste auch, dass seine Gesetze nur dem Schein nach noch beachtet wurden. Da kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Vater und seinem Ältesten. Der war zu ihm gekommen und hatte gesagt: ‘Es tut mir leid, mein Vater, ich muss Dein Erbe von jetzt ab allein verwalten. Dein jüngerer Sohn hat Dich verlassen. Ich bin jetzt Dein alleiniger Erbe!’ Der Vater entgegnete: ‘Mein Sohn, Du weißt, dass alles, was mein ist, auch Dir gehört! Du bist mein Erstgeborener, und ich habe Dir das Erbe im Vertrauen übergeben. Handle nach Deiner freien Entscheidung, aber bedenke: Du bist für den ganzen Hof, für alle Arbeiter und auch für Deinen jüngeren Bruder verantwortlich. Lass keine unbarmherzigen Gesetze die Oberhand gewinnen! Du weißt, dass alle Gesetze für Euch da sind und Ihr nicht für die Gesetze. Achte auf die Letzten im Haus, die mir besonders am Herzen liegen!’
Der gesetzestreue Sohn, der seiner allein wahren Erbschaft sicher war, ging stolz fort, brach den Kontakt zum Vater ab und sagte allen, dass sein Bruder tot und er der allein rechtmäßige Erbe sei. Der Vater aber hoffte auf die Rückkehr seines verlorenen Sohnes und ging ihm täglich ein Stück des Weges entgegen. Oft hörte er hinter sich den Spott seines ältesten Sohnes: ’Da geht der verrückte Alte wieder und wartet umsonst auf die Rückkehr seines verlorenen Sohnes, der tot ist!’
Eines Tages sah der Vater in der der Ferne eine gebeugte Gestalt näherkommen. Er erkannte sofort seinen jüngsten Sohn und lief ihm entgegen. Der Sohn fiel vor ihm nieder und stammelte sein Schuldbekenntnis. Der Vater schloss ihn in seine Arme, verzieh ihm und steckte ihm den Siegelring seines Erbes wieder an. Dann rief er voll Freude alle im Hause zusammen und sagte: ‘Mein Sohn lebt und ist zurückgekehrt! Freut Euch mit mir! Lasst uns alle ein großes Fest feiern. Schlachtet das beste Kalb, bereitet das schönste Essen, macht Musik und tanzt!’
Als der Ältere die Musik hörte und sah, wie die Knechte ein Fest vorbereiteten, protestierte er. Der Vater ging zu ihm und sprach versöhnlich mit ihm. Vergeblich! Der ältere Sohn verließ unter Protest das Haus. Das Fest aber wurde in großer Freude gefeiert.
So hörte das Gleichnis damals auf, als ich es zum ersten Mal erzählte. Aber das Leben und die Geschichte haben es bis heute weitergeschrieben: Gleich am Morgen nach dem großen Fest begann die Arbeit von neuem. Der ältere Sohn war fort und lebte in der Zerstreuung. Der Vater beauftragte den jüngeren mit der Fortsetzung der Arbeit. Der begann mit Feuereifer und bearbeitete mit seinen Knechten, die ihm Freunde geworden waren, alle Felder, Wiesen, Weinberge und Herden. Sie arbeiteten vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang und fuhren bald überreiche Ernten ein. Es gab unendlich viel zu tun, und alle packten unter Leitung des jüngeren Sohnes tatkräftig mit an. Sie wussten, dass der alte Vater hinter ihnen stand.
Dann aber setzte auch beim jüngeren Sohn ein Alterungs- oder Verschleißprozess ein. Er verlor den Schwung der ersten Jahre und wurde unbarmherzig. Die Zeit verrann, und alles ging ihm schwerer von der Hand. Er machte Fehler, führte Prozesse gegen vermeintliche schlechte Mitarbeiter, sprach sogar Todesurteile aus und ließ die Unbotmäßigen und Ungehorsamen verurteilen und töten. Einige Fehler erkannte der Sohn, lernte daraus und erneuerte seinen Eifer. Bald machte er aber noch größere Fehler, die er nicht erkannte, sondern als unfehlbare göttliche Entscheidungen ausgab. Der Vater griff nicht ein. Der Sohn rühmte sich seiner großen Taten von früher und vernachlässigte alle gegenwärtig notwendigen Arbeiten. Er fing an, seine Hirten, Bauern, Winzer und besonders die Frauen zu demütigen, zu schlagen und zu töten. Es setzte auf dem Hof eine zunehmende tyrannische Misswirtschaft ein. Die Ernten und Erträge wurden geringer. Der Sohn schickte Arbeiter willkürlich fort. Je schlechter es um den Hof stand, desto mehr ließ sich der jüngere Sohn als der alleinige heilige Stellvertreter und als der einzige wahre Erbe des Vaters feiern. Er schmückte sich mit immer glänzenderen Titeln und Ehren, obwohl der Vater ihm das streng verboten hatte mit den Worten: “Bei Euch soll das nicht so sein!“ Aber der Sohn behauptete, dass seine Ehrentitel und sein Reichtum ja nur der größeren Ehre des Vaters dienten.
Für den älteren Sohn, der im Protest ausgezogen war, hatte er nur noch Verachtung übrig. Er vergaß, dass der Vater den älteren nicht verurteilt und ihm das Erbe auch nicht abgesprochen hatte. Der hatte sich ja nur selbst ausgeschlossen, und der Vater hoffte auch auf seine Rückkehr. Er wollte sein Erbe ja nicht dem Streit seiner Kinder überlassen.
Mit der Zeit verfiel auch unter dem Regiment des jüngeren Sohnes der Hof. Die Arbeiter kümmerten sich nicht mehr um Aussaat und Ernte, sondern nur noch um persönlichen Gewinn, Pfründe, Ehre und Ansehen. Sie liebten schöne lange Kleider und die Ehrenplätze an den Tischen der Reichen. Vom älteren Sohn hieß es derweil, dass er in der ganzen Welt verstreut wohne und manchmal zur alten Mauer des Vaterhauses ging, um sein Schicksal zu beklagen. Der Jüngere hatte sich auf der alten Grundmauer einen neuen Palast gebaut und behauptete, ihn nur zur Ehre des Vaters errichtet zu haben. Er ließ dessen Bild überall verehren, kümmerte sich aber sonst wenig um den Willen des Vaters. Von Zeit zu Zeit kam er als sein Stellvertreter aus dem Palast, ließ sich bejubeln, sprach erhabene Worte und verschwand wieder hinter seinen hohen Mauern. Wenn Mitarbeiter Zweifel an den Worten des Sohnes äußerten, wurden sie als Verächter des Vaters bestraft und ausgeschlossen. Zuletzt erließ der Sohn ein Gesetz, dass er der allein wahre und unfehlbare Sohn und einzige Erbe des Vaters sei und alle ihm gehorchen müssten. Er verpflichtete alle Mitarbeiter mit einem heiligen Eid zu diesem Gehorsam.
Der Hof litt immer größere Not. Immer mehr Gesetze und Vorschriften wurden den Arbeitern aufgebürdet. Der Verfall ging weiter. Die einst blühenden Weinberge verödeten, die Obstbäume trugen keine Früchte mehr, und die Saat verdorrte auf den Feldern. Die Hirten waren überaltert. Niemand folgte. Die Tiere irrten verloren und orientierungslos umher und wurden eine leichte Beute der Wölfe.
Der altgewordene jüngere Sohn verließ nur noch selten seinen Palast, hatte kaum noch Kontakt zum Leben, aber hielt vor Millionen kluge Reden. Er segnete die Menschen von der Höhe seines Palastes herab und schärfte allen seine alten Gesetze ein, die früher einmal hilfreich waren, aber jetzt jede Entwicklung hinderten und niemand mehr verstand. Er verbot den Frauen, die Schafe zu weiden, und berief sich dabei auf eine angebliche höchste Anweisung des Vaters, die es aber nicht gab. Da er sich für unfehlbar erklärt hatte, duldete er keinen Widerspruch. Er schloss alle aus, die seine Anweisungen nicht befolgten. In der Nacht, wenn er sich unbeobachtet wusste, verurteilte er die, die ihm widersprochen hatten, und setzte für sie ihm ergebene Mietlinge ein, die mit heiliger Unverschämtheit den Hof als ihr Eigentum ansahen. Am Tag jedoch zeigte er sich lächelnd den jubelnden Massen als der gute Sohn des Vaters.
Der alte Vater hatte nun neben seinen ersten Söhnen noch einen dritten und vierten Sohn und eine fünfte jüngste Tochter, die er über alles liebte. Aber das alles wussten die älteren Söhne geschickt zu verheimlichen. Sie wollten ihren Alleinanspruch auf das Erbe des Vaters nicht gefährden.
Der dritte Sohn war während der Aufbauarbeiten des zweiten Sohnes heimgekehrt. Der Vater hatte auch ihn voll Freude aufgenommen und seine beiden älteren Söhne eingeladen, mit ihm seine Rückkehr zu feiern. Aber sie hatten sich geweigert, an diesem Fest teilzunehmen. Der Vater übergab auch dem dritten Sohn sein Erbteil, und schon am nächsten Tag hatte auch er sich an die Arbeit gemacht und mit viel Eifer die Wüsten seines Erblandes zu paradiesischen Gärten umgebaut. Der Vater lobte ihn und gab ihm eine schriftliche Urkunde. Der Sohn war stolz darauf und verkündete allen, dass er jetzt der letzte wahre und einzige Erbe des Vaters sei. Damit hatte aber auch dieser Sohn seinen Vater missverstanden. Der Vater hatte nicht gesagt, dass er der letzte Sohn sei, und auch nicht, dass seine Urkunde die letzte und allein wahre sei. So entstand ein Streit unter den Söhnen, weil sie alle ihre Urkunden vorzeigten und behaupteten, dass jeder von ihnen der allein wahre letzte Erbe sei. Sie beschuldigten sich und führten Kriege gegeneinander. Der Hof, das Land, die Gärten und vor allem die Menschen hatten darunter furchtbar zu leiden.
Nach langer Zeit wurde allen im Haus klar, dass der Vater noch viele Felder, Gärten und Herden besaß, die er nicht an die eigenen, sondern an seine adoptierten Kinder verpachtet hatte. Auch ihnen gab er alle Rechte, und auch sie sollten für fruchtbare Ernten, gesunde Herden und gute Weiden sorgen.
Nach vielen Jahren erlahmte auch die Kraft des 3. Sohnes. Er verfiel in die gleichen Fehler wie die zwei älteren vor ihm. Er wurde müde und selbstgerecht, ließ die Gärten, Weinberge und Herden verkommen, aber behauptete umso lauter, nur den reinen Willen und die Gesetze des Vaters zu erfüllen. Auch er hatte sich ein Bild vom Vater gemacht und verurteilte alle, die dieses Bild nicht anerkannten. Die einst lebendige Urkunde des Vaters hatte sich bei ihm versteinert. Die Untergebenen mussten alle Vorschriften streng einhalten, obwohl viele davon im Laufe der Zeit ganz sinnlos geworden waren. Auch er schloss alle Frauen vom verantwortlichen Dienst aus. Wer den Frauen die Spielregeln des Hofes und die Verantwortung über das Gesinde beibringen wollte, den beschimpften sie als Verräter des Vaters und der heiligen Ordnung. Diese Verräter, behaupteten sie, wollten die Frauen nur zum Abfall vom Vater verführen und müssten im Auftrag des Vaters getötet werden. Viele glaubten das, aber wunderten sich, warum der Hof weiter verfiel und in immer größere Krisen geriet. Zudem waren sich alle Söhne trotz ihres Streits untereinander einig in der Ablehnung der jüngsten Kinder. Die Tochter wurde im Haus der älteren Söhne nicht einmal genannt, weil sie gemäß der Tradition und Gesetzlichkeit des Hofes keine Rolle spielen durfte.
Der Vater, der das alles schon lange bemerkt hatte, schwieg. Er wollte auch jetzt nicht in die Freiheit seiner Kinder eingreifen und wusste, dass der Weg zu ihrer Umkehr nur über ihr Scheitern führte.
In der letzten Zeit flüsterten sich die Hausbewohner schon zu, dass die drei Söhne in Ungnade gefallen waren. Die aber verbreiteten ihrerseits nur das böse Gerücht, dass die jüngsten Kinder alle illegitim seien und die jüngste Tochter eine ehrlose Dirne. Aber immer, wenn die jüngste Tochter mit dem alten Vater selbst sprechen konnte, erfuhr sie, dass sie die über alles geliebte Tochter war und der Vater sie seinen Söhnen gleichgestellt sehen wollte. Da nahm sie eines Tages ihr Schicksal in die eigene Hand und tat sich mit ihrem jüngsten Bruder zusammen. Das Unerwartete geschah. Beide nahmen ihre Habseligkeiten, erbaten sich vom Vater ihr Erbe und verließen das Haus. Der Vater gab auch ihnen ihr Erbteil, segnete sie und ließ sie ziehen, wie er es mit allen seinen Kindern gehalten hatte. Die älteren Söhne zeigten sich zufrieden; denn sie verkündeten laut, dass ihre treulosen jüngeren Geschwister das Vaterhaus verlassen, ihre Untreue bewiesen und sich auf ewig vom Erbe des Vaters ausgeschlossen hätten.
So verging die Zeit. Der alte Vater und auch die Mutter, die bisher nie genannt worden war, hofften mit großer Sehnsucht auf die Rückkehr ihrer jüngsten Kinder. Der Vater verließ jeden Morgen sein Haus, ging den Weg zur Straße hinauf und hielt Ausschau nach ihnen. Die älteren Söhne, die sich mit hohen Mauern gegeneinander abgeschottet hatten, behaupteten, dass der alte Mann, der da täglich vorüberging, ein unzurechnungsfähiger Greis sei. Sie bestätigten sich gegenseitig in dieser Meinung und kamen überein, alle Verantwortung selbst zu übernehmen. Der Vater wusste, was die Söhne dachten und planten, aber wollte nicht vor der Zeit eingreifen. Er entschuldigte sie sogar mit den Worten: „Ach, sie sind ja alle meine geliebten Kinder! Sie werden zur Einsicht kommen, vielleicht nur durch Leid und Schuld.“
Das letzte dramatische Kapitel der Auseinandersetzung war damit noch nicht vollzogen, aber stand bevor. Eines Morgens erzählte der Vater, dass er ein seltsames Erlebnis gehabt habe: Es sei noch Nacht gewesen, aber am Horizont hätte sich schon ein erster heller Silberstreif gezeigt. Ein Unbekannter mit einer Lampe sei ans Tor gekommen und habe gepocht. Im schwachen Licht der Lampe hätte der Vater durch die Ritzen des Tores eine fremde Gestalt in weißem Gewand gesehen. Er habe sie nach dem Namen gefragt. Da sei das Licht erloschen. Die Gestalt habe noch geantwortet: "Ich bin Dein erwählter unfehlbarer letzter Stellvertreter und bitte um Einlass!" Er habe aber die Stimme nicht als die seines Sohnes erkannt und gesagt: "Freund, ich kenne Dich nicht! Deine Lampe ist erloschen und hat kein Öl mehr!" In diesem Augenblick habe in der Nähe ein Hahn dreimal gekräht.
Und so ging die Geschichte vom barmherzigen Vater und seinen Kindern zu Ende:
Die drei älteren Söhne hatten den Kontakt zum Vater verloren und abgebrochen, aber sein Bild aus früheren Zeiten weiter verehren lassen. Jeder Sohn berief sich auf ihn als seinem einzigen Vater und zeigte jedem seinen persönlichen Erbvertrag. Jeder wies auf die eigenen Leistungen und auf das Versagen der anderen hin. Aber die Misswirtschaft der drei älteren Söhne war ein großes Ärgernis. Die Gärten waren verkommen, die Weinberge verwildert und die Äcker lagen brach. Die Herden waren sich selbst überlassen und wurden eine leichte Beute der Wölfe, die sich überall herumtrieben, sich die Pelze von Schafen umhingen und mit dieser Täuschung sorglos und reich ihr Leben verbrachten.
Der Vater hatte die Misswirtschaft der Söhne schon lange bemerkt und ihr falsches Spiel durchschaut, aber wollte nicht in die Freiheit seiner Kinder eingreifen. Er wanderte wie immer jeden Tag den Weg hinauf und schaute bis zum Horizont, ob seine jüngsten Kinder vielleicht doch jetzt zurückkämen.
Eines Abends, es war gegen Ende der Winterzeit, und die Reste von schmutzigem Schnee lagen noch in den Ecken des Hofes. Da schlug der Hund an, bellte und jaulte plötzlich. Der Vater ging zur Tür, die Mutter folgte. Sie sahen in die Nacht hinaus und erblickten zwei Schatten, die sich auf das Haus zubewegten. Sie schienen den Hof zu kennen. Da rief die Mutter plötzlich: „Es sind unsere Kinder!“ Da liefen die alten Eltern ihnen entgegen und schlossen sie überglücklich in ihre Arme.
Später habe ich von den Kindern gehört, wie sie selbst ihre Rückkehr erlebt hatten. Sie erzählten:
‘Wir gestehen, dass wir in der Fremde gescheitert waren. Wir sind mit großen Hoffnungen aufgebrochen. Zu Hause konnten wir nicht mehr bleiben. Die älteren Brüder haben uns die Luft zum Atmen genommen und das Leben zur Hölle gemacht. In der Fremde ging es uns zuerst gut. Wir hatten Erfolg und waren angesehen. Mit unserem Erbe haben wir uns eine neue Existenz geschaffen. Unsere Geschäfte florierten, und wir hatten viele Freunde. Aber dann kam der Krieg, den wir selbst mitverschuldet hatten. In seinem Gefolge fielen Not und Armut über uns, und Flucht und Vertreibung zerstörten jede Hoffnung. Wir schienen verloren, hungerten und fanden bei den Schweinen und Schafen unser Essen. Als Ausländer wurden wir bedroht und überall vertrieben. Da erinnerten wir uns ans Vaterhaus und sagten: ‘Lasset uns nach Hause zurückkehren! Wir wollen die Letzten bei unseren Eltern sein.’ Mit großer Angst machten wir uns auf den Weg und hofften auf Vater und Mutter, aber fürchteten unsere hartherzigen Brüder. Nach langer Wanderung kamen wir hungrig und zerlumpt zu Hause an. Wir waren am Ende unserer Kräfte. Wir kannten unser altes Haus, wagten kaum näher zu kommen und sahen Licht. Rauch kam aus dem Schornstein. Wir wussten: die Eltern waren da. Wir hörten schon den Schlag der Küchenuhr. Würden sie uns erkennen, herauskommen, uns die Türe öffnen und aufnehmen? Da bellte der Hund. Wir erschraken, horchten und riefen ihn bei seinem Namen. Sein Bellen schlug in Jaulen um. Er hatte uns erkannt. Für einen Augenblick blieb die Zeit stehen. Dann öffnete sich die Tür, Licht drang aus dem Innern, und Vater und Mutter traten heraus. Sie sahen in die Nacht und Mutter hatte uns erkannt und rief unsere Namen. Wir antworteten nur: ‘Ja! Ja!‘ Da liefen unsere alten Eltern uns entgegen, schlossen uns in ihre Arme und wir stammelten: ‘Verzeiht uns! Es tut uns leid, dass wir von Euch gegangen sind. Es war unser Fehler. Jetzt möchten wir die Letzten im Haus sein.’ Der Vater sagte: 'Kommt herein! Mein Haus ist Euer Haus.' Die Mutter sagte: ‘Wir sind glücklich, dass Ihr zurückgekommen seid und lebt!’ Der Vater nickte, nahm ohne Worte zwei Ringe von seiner Hand, steckte jedem von uns einen an, und nannte uns so, wie er uns als Kinder gerufen hatte. Wir weinten. Die Mutter ergriff unsere Hand und sagte: ‘Meine Kinder! Mir ist, als schenkte ich Euch heute ein zweites Mal das Leben.’ Der Vater sagte: ’Was hinter Euch liegt, soll vergessen sein. Wir freuen uns, dass Ihr lebt. Heute feiern wir das Fest Eurer Heimkehr und morgen beginnt Ihr ein neues Leben mit der Arbeit auf dem Hof. Es gibt viel zu tun!' Die Mutter führte uns zur alten Wäschekammer und sagte: 'Da liegen neue Kleider für Euch. Ich habe sie aufbewahrt. Wascht Euch und kleidet Euch neu an!' Da fiel alle Angst von uns ab. Wir zogen die alten Kleider aus, wuschen uns und legten die neuen Kleider an. Wir fühlten uns wie neu geboren und waren wieder zu Hause.
Der Vater zündete im ganzen Haus die Lichter an, läutete die Hofglocke, weckte seine älteren Söhne und alle Knechte, Mägde, Hirten und Arbeiter und rief: ‘Freut Euch mit uns! Unsere Kinder sind zurückgekommen! Wir glaubten sie verloren und sie leben! Feiert mit uns ein großes Fest! Bereitet das beste Mahl, holt guten Wein, spielt die Instrumente, tanzt und seid fröhlich!’ Die älteren Söhne kamen aufgeregt aus ihren Palästen, protestierten beim Vater und klagten die heimgekehrten Geschwister heftig an. Dann verweigerten sie die Teilnahme am Fest. Sonst zerstritten, waren sie sich jetzt einig. Der Älteste, gekleidet im Gewand des ersten Erben und mit dem vom Vater unterschriebenen Testament in der Hand, sagte: ‘Wie kannst Du die Treulosigkeit dieser Leute belohnen? Dein Gesetz habe ich immer geachtet, aber diese Leute haben es mit Füßen getreten. Sie haben Dein Erbe verschleudert und Deinen Namen geschändet. Sie tragen das Kainsmal des Verrats auf ihrer Stirn, und niemand hat das Recht, ihre Schuld zu tilgen. Sie müssen bestraft werden. Ich protestiere entschieden gegen das Fest!’
Der Vater hatte aufmerksam zugehört und schwieg. Da trat der zweite Sohn vor. Er war gekleidet im Weiß des Hohen Priesters und hatte auch das Testament des Vaters in der Hand. Er sprach: ‘Welches Unrecht, mein Vater, geschieht uns! Ich arbeite den ganzen Tag für Dich, für Dein Eigentum und Deine Herden. Du hast mir die Schlüssel für Dein Haus gegeben, und ich trage die Verantwortung für Deinen Hof, Deine Felder, Herden und Arbeiter. Mein Rücken ist zerschunden und meine Hände sind voller Schwielen, aber noch nie hast Du mir und meinen Leuten ein Fest gegeben. Es ist nicht recht, das Brot uns älteren Söhnen zu nehmen, die die Last und Hitze vieler Jahre getragen haben, und es diesen 'Hunden' vorzuwerfen! Ich protestiere mit meiner von Dir verliehenen Schlüsselgewalt gegen diese Treulosen, die alle Rechte auf Dein Erbe verloren haben! Vor allem protestiere ich gegen die Gleichstellung dieser Dirne mit uns erbberechtigten Söhnen. Ihren Namen auch nur auszusprechen, verbietet mir die Ehre meiner Stellung als erbberechtigter Sohn. Was soll der Siegelring an ihrer Hand? Ich bin empört! Noch nie geschah es, dass eine Frau als Deine Stellvertreterin und Erbin genannt, geschweige denn eingesetzt worden wäre! Und jetzt dieser Bruch mit Deiner heiligen Tradition! Das widerspricht Deinem göttlichen Willen, den Du uns mitgeteilt hast und den wir immer getreu befolgt haben. Wir sind nicht berechtigt, uns gegen Deinen heiligen Willen zu stellen. Keine Frau und erst recht nicht diese Dirne da, die uns verlassen hat, wird nach Deinem Willen und Deiner heiligen Ordnung je für eine andere göttliche Bestimmung leben dürfen als für die hohe Bestimmung ihres mütterlichen Dienstes!‘
Der Vater hatte auch dem zweiten Sohn geduldig zugehört und schwieg. Da trat dritte Sohn vor in seinem langen Ehrengewand und einem weißen Turban auf seinem Haupt. Er beschwor seinen Vater: ‘Allbarmherziger, einziger Vater! Wir haben uns Dir und Deinem heiligen Gesetz immer gehorsam unterworfen. Du hast mich als Deinen rechtmäßigen letzten Erben eingesetzt und mir die heilige Urkunde Deines Erbes gegeben. Meine zwei älteren Brüder haben Dein Erbe verschleudert und Dein Testament verfälscht. Ich habe es in Wahrheit von Dir übernommen und bis heute unverfälscht als Dein allein heiliges Buch bewahrt. Deshalb hast Du mich zum Siegel Deines Erbes eingesetzt. Ich habe für Deine Wahrheit gekämpft, ohne mein Leben zu schonen. Ich verlange die strenge Bestrafung dieser Übeltäter und das sofortige Ende des Festes. Diese Dirne soll gesteinigt werden wegen ihrer Gesetzesübertretung und Treulosigkeit! Das befiehlst Du uns mit Deinem göttlichen Gesetz. Mit dem Tod wird sie ihre Schuld büßen und ist deiner Barmherzigkeit würdig. Wenn Du aber gegen Dein eigenes heiliges Wort diese Verräter nicht bestrafst, werde ich in Deinem Namen das Fest sprengen und den heiligen Krieg gegen Dich ausrufen!’
Der Vater hatte auch ihm zugehört und geschwiegen. Dann schaute er seine Söhne der Reihe nach an, sie senkten ihren Blick und er sprach zu ihnen: ‘Meine lieben Söhne, ich danke Euch für Eure Bekenntnisse. Ja, Ihr habt recht, Eure jüngeren Geschwister hatten uns verlassen. Ich war darüber sehr traurig. Das wisst Ihr. Ihr wisst auch, dass ich ihnen, die gleiche Freiheit wie Euch geschenkt habe. Erinnert Euch, dass auch ihr mir untreu geworden seid, dass Ihr meinen Bund gebrochen, die erste Liebe verloren und mein Erbe in Bruderkriegen verschleudert habt. Dann seid Ihr zurückgekommen und habt mir Euer Scheitern eingestanden. Ich habe Euch mit Freude in mein Vaterhaus aufgenommen, jedem den Siegelring meines Erbes angesteckt und jedem ein großes Fest geschenkt. Habt Ihr das vergessen? Was Eure jüngsten Geschwister angeht, die heute zurückgekommen sind, so frage ich Euch: Habt Ihr ihnen, als sie noch bei Euch waren, die Freiheit und Verantwortung geschenkt, die Ihr ihnen als meine Kinder und Eure Geschwister hätten zuerkennen müssen? Ich weiß, Ihr habt es nicht getan! Aber ich habe nie in Eure Freiheit eingegriffen, weil ich auch Eure Freiheit immer hoch geachtet habe. Ich weiß: meine jüngsten Kinder sind Euretwegen gegangen. Ihr habt Ihnen die Freiheit geraubt und die Luft zum Atmen genommen! Ihr habt mit Euren Gesetzen ihr Leben unmöglich gemacht. So musste ich sie wegen Eurer Untreue ziehen lassen. Jetzt sind sie zurückgekehrt. Das Leben hat sie geläutert und bestraft. Soll ich sie noch einmal bestrafen? Habe ich Euch bestraft, als Ihr zurückgekehrt seid? Als Ihr ausgezogen seid, habe ich auch um Euch geweint und habe Euch auch bei Eurer Rückkehr in meine Arme geschlossen. Warum habt Ihr Euren Geschwistern nicht verziehen, wie ich Euch verziehen habe? Hat Euer Bruder Josef, als er in Ägypten war, nicht auch geweint und seinen Brüdern verziehen? Hat er Ihnen nicht auch ein großes Fest geschenkt?'
Der älteste Sohn antwortete mit zitternder Stimme: ‘Unser Vater, wir sind immer Deinem Gesetz gefolgt. Wir haben nichts mit diesen Leuten zu tun, die Dich verraten haben! Das sind nicht unsere Geschwister. Wer Dich verrät, der hat die Gemeinschaft mit Dir und uns verlassen. Dürfen wir die Strafe für ihr Versagen auf heben? Nein! Welche Anmaßung wäre das! Können wir ihre Vergehen ungeschehen machen? Nein! Hast Du nicht selbst gesagt, dass jeder erntet, was er sät?’
Der Vater sagte: ‘Bedenkt! Euch geschieht kein Unrecht. Seid Ihr böse, weil ich gut bin? Ihr sagt, ich hätte Euch kein Fest geschenkt? Habt Ihr das große Fest Eurer Befreiung aus der Knechtschaft Ägyptens vergessen, das große Fest der Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft, aus der römischen Sklaverei, aus der Knechtschaft der Vielgötterei Arabiens? Warum habt Ihr selbst nie ein Fest mit Euren Hirten und Arbeitern im Weinberg gefeiert? Seht Ihr nicht, wie Ihr sie vernachlässigt habt? Warum sprecht Ihr nur von Gesetzen? Habt Ihr nie verstanden, dass meine Gesetze um Euretwillen da sind und Ihr nicht um der Gesetze willen da seid? Wisst Ihr nicht, dass mein erstes Gesetz Barmherzigkeit heißt und nicht Gehorsam und Opfer?’ Der Vater schaute seine Söhne gütig an. Sie blickten versteinert zu Boden. In ihren Augen flackerte Hass.
Der zweite Sohn trat vor, als sei er der oberste Richter, und sagte: ‘Wir müssen Dir, Vater, um Deiner heiligen Wahrheit und um der Wahrheit Deiner göttlichen Gesetze willen widersprechen. Für die gegenwärtige Krise unseres Hauses tragen diese verkommenen Leute die ganze Verantwortung. Sie haben unser Haus verlassen, Dein Erbe verschleudert und Dich in Verruf gebracht. Für sie gibst Du ein Fest aus? Welch eine Schande ist das für uns, für Deine treuen Söhne! Wir müssen Dir jetzt sagen, dass wir als Deine Stellvertreter beschlossen haben, Dich von aller Verantwortung für unser Haus zu befreien. Wir sehen, dass Du nicht mehr in der Lage bist, für das Wohl und die Einheit in unserem Hause zu sorgen. Du unterstützt die Widersacher, verwüstest unser Erbe und zerrüttest die Fülle der Wahrheit. Du schaffst es nicht mehr, die göttliche Solidarität mit allen Menschen im Haus zu stiften. Hiermit erklären wir Dich für abgesetzt. Du sollst ab sofort das Recht auf Deine ewige Ruhe haben!’
Der Vater sah die Söhne noch einmal der Reihe nach an. Sie wichen seinem Blick aus. Da stand er auf, war größer als sie und sagte mit entschiedener, klarer Stimme:
‘Nein! Eure Entscheidung kommt zu spät. Ihr wolltet mich entmündigen, Ihr Schlangenbrut! Ich wartete und hoffte auf Eure Einsicht. Vergeblich! Schon lange habt Ihr falsch gespielt und Euch um nichts anderes gekümmert als um Euch selbst, um Eure Macht und Euer Wohlergehen. Ihr habt meinen Namen missbraucht, meinen Hof ruiniert und mein Erbe verspielt! Ihr habt Euch mit den heuchlerischen Mienen von Ehrenmännern hinter den hohen Mauern meiner angeblichen Gesetze und Eurer angeblichen Stellvertretung versteckt, damit niemand Eure Verlogenheit erkennt. Ihr habt so getan, als ginge es Euch um das Wohl meines Hauses und um die Ehre meines Namens! In Wahrheit ging es Euch nur um Eure Macht und Euer Wohlergehen! Ihr habt mich und Eure Geschwister verraten. Ich hatte Euch Eure Schuld erlassen und jetzt wollt Ihr die geringe Schuld Eurer jüngeren Geschwister gnadenlos eintreiben? Ihr Heuchler! Ihr habt geglaubt, jetzt sei der Moment gekommen, Euer Haupt in Hochmut zu erheben, um Euch an meine Stelle zu setzen. Ihr habt schon lange falsch gespielt, Ihr falschen Gesetzeshüter, Ihr meineidigen Stellvertreter, treulosen Prophetensöhne, Patriarchen und Heiligkeiten! Die Heimkehr Eurer jüngsten Geschwister war Euch Anlass genug, Euren Verrat zu offenbaren! Ihr habt Euch selbst verraten, enterbt und werdet Euch selbst mit dem Lauf der Geschichte bestrafen! Der Blitz der Geschichte trifft Euch und Eure Paläste!’
Der älteste Sohn zischte: ‘Komödiant! Der Vater ist ein Komödiant des Teufels!’
‘Ja‘, sagte der Vater, ‘ich habe Eure Komödien durchschaut, Euer doppeltes Spiel erkannt und Euch gewähren lassen. Ich sah, wie Ihr Euch in Selbstgefälligkeit überschlagen habt, wie Ihr als meine Stellvertreter durch die Welt geflogen seid und Euch überall umjubeln ließet, wie Ihr die Ehrenplätze bei den Mächtigen eingenommen und zum Schein lange Gebete gesprochen habt, Ihr Heuchler! Ich habe Eurem bösen Spiel lange genug tatenlos zugeschaut und zu Eurer verlogenen Moral geschwiegen. Glaubt Ihr, ich hätte Euch weniger geliebt als Eure jüngsten Geschwister? Aber jetzt sind sie die Kinder nach meinem Herzen, und ihnen gehört mein Erbe. Geht, wohin Ihr wollt! Wisset, wenn Ihr umkehrt und Eure Vergehen erkennt und bereut, stehe ich wieder auf Eurer Seite.'
Die Brüder sahen sich voller Entsetzen an. Sie hatten nur noch einen Gedanken: Wir müssen den Vater entmündigen und absetzen!
Der Vater hatte auch diese Absicht durchschaut und sagte: ‘Absetzen wollt Ihr mich? Gebt Euch keine Mühe! Niemand steht mehr hinter Euch! Ihr habt keine Macht mehr! Euer Spiel ist aus. Ich habe schon mit allen im Haus gesprochen. Die Hirten und Bauern sind informiert. Die Gärtner warten auf mein Zeichen. Eure Mietlinge sind entlassen. Die Herden werden gesammelt, und meine jüngsten Kinder fangen morgen als gute Hirten neu an. Habt Ihr wirklich geglaubt, ich hätte Euer Ränkespiel nicht erkannt, hätte nicht gesehen, wie Ihr die Arbeiter schikaniert, die Frauen unterdrückt und die guten Hirten entlassen und mundtot gemacht habt? Euer Tun war frommer Schein. Alle Verbrechen der Welt habt Ihr begangen! Mit Willkür habt Ihr in meinem Namen geherrscht, mein Erbe geschändet und ganze Völker rechtlos gemacht! Um Eurer Ärgernisse willen wird mein Namen gelästert auf der ganzen Erde! Ich verurteile Euch nicht, Ihr habt Euch selbst verurteilt.’
‘Aufgelauert, entmündigt und bespitzelt hat er uns!’ jammerten die Söhne. ‘Hier können wir nicht bleiben! Wir müssen das Haus verlassen!’ Der Vater sagte: ‘Geht und werdet erwachsen! Kinder wart Ihr bis jetzt. Wenn Ihr Einsicht gewonnen und Demut gelernt habt, kommt zurück!’
Die drei älteren Söhne verließen unter lauten Protesten das Anwesen und gaben sich gegenseitig die Schuld. Aber das Fest des Vaters wurde mit allen im Hause in großer Freude gefeiert. Die Bauern, Hirten und Winzer, die Mägde und Knechte kamen mit den jungen Heimkehrern freudig zusammen. Alle tanzten und sangen, aßen und tranken mit ihrem Vater und ihrer Mutter in der Einheit ihrer Herzen und Sinne. Sie feierten ihr Fest bis in den frühen Morgen des nächsten Tages. Immer wieder klangen fröhliche Lieder durch alle Räume und über den ganzen Hof. Immer wieder wurde dieses Lied gesungen:
Gestern waren wir Flüchtlinge und irrten verloren durch die Wüste und heute sind wir zu Hause angekommen. Die Eltern haben uns aufgenommen und wir sind glücklich, glücklich über die selige Schuld, die uns die Befreiung brachte.
Heute sind wir ins Vaterhaus zurückgekehrt, und die Tore standen uns offen
Vater und Mutter erwarteten uns, wir bekannten unsere Schuld, und sie schlossen uns in ihre Arme.
Heute ist der alte Hass gebrochen und eine neue Zeit hat begonnen. Heute ist der Messias erschienen und hat uns die Erlösung gebracht.
Das jüngste Kind des Vaters, seine geliebte Tochter, griff zur Harfe und sang ihr Lied mit heller Stimme:
Singt unserem Vater und unserer Mutter ein neues Lied: Wir waren in großer Not, jetzt sind wir gerettet und frei. Die Eltern haben uns den Ring unseres Erbes neu angesteckt, und wir feiern heute unsere Heimkehr. Ich darf einer neuen Generation das Leben schenken. Das macht mich glücklich.
Morgen beginnen wir mit der Arbeit, bestellen unsere Felder, Gärten und Weinberge. Heute säen wir ein und lassen alles wachsen. Morgen ernten wir hundertfältige Frucht, und wir essen unser Brot in Freiheit.
Diese Erde ist unser Gelobtes Land, die Liebe zu allen Menschen unsere Zukunft. Wir sind keine Sklaven mehr! Freut Euch alle mit uns! Der Winter ist vorüber, das Alte ist vergangen, Neues ist geworden!