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Gründung und Grundlagen des bundesrepublikanischen Staats- und Gesellschaftssystems

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1.Ausgangsbedingungen

1.1 Bedingungslose Kapitulation

1.2 Die territoriale und demographische Situation

2.Wiedererwachen des politischen Lebens

2.1 Die Entwicklung in den westlichen Besatzungszonen

2.2 Die Entstehung von CDU und CSU

2.3 Die SPD und ihr Selbstverständnis

2.4 Gemeinden und Länder als Rückhalt

2.5 Die Entwicklung in der SBZ. Gründung der DDR

3.Gründung der Bundesrepublik Deutschland

3.1 Voraussetzungen für einen neuen Gesellschaftsvertrag

3.2 Die neue Wirtschaftsordnung: Soziale Marktwirtschaft

3.3 Das Grundgesetz als neuer Gesellschaftsvertrag. Hauptstadtfrage

3.4 Die Bundesrepublik als »demokratischer Verfassungsstaat«

3.5 Restauration und Neubeginn

4.Kultur und Werte als Rückhalt

4.1 Die Situation in Westdeutschland

4.2 Kulturentwicklung in der SBZ/DDR

5.Religion und Kirchen in Westdeutschland und der SBZ/DDR

Literatur

1. Ausgangsbedingungen

1.1 Bedingungslose Kapitulation

Die deutsche Staats- und Gesellschaftsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in folgende Etappen einteilen:

 Verlust der staatlichen Eigenständigkeit mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte (unconditional surrender) am 7. und 8. Mai 1945 in Reims und Berlin-Karlshorst.

 Herausbildung demokratischer Strukturen auf Gemeinde- und Länderebene in den drei westlichen Besatzungszonen ab Ende 1945; Beginn einer von der Sowjetunion gelenkten Entwicklung zum sozialistischen Staatsaufbau in der sowjetischen Zone.

 Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai1949 und der Deutschen Demokratischen Republik am 6. Oktober 1949.

 Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 durch Beitritt der neuen Bundesländer und Ost-Berlins zum Staatsgebiet der BRD.

In der »Berliner Deklaration« vom 5. Juni 1945 der Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte wurde auch formell die Regierungsgewalt in Deutschland durch die USA, die UdSSR, Großbritannien und Frankreich im Alliierten Kontrollrat übernommen und die Einteilung des Deutschen Reiches in vier Besatzungszonen und vier Berliner Sektoren endgültig festgelegt. Die Verwaltung wurde auf allen Ebenen von den Besatzungsmächten übernommen; wo Deutsche mit ihrer Wahrnehmung betraut wurden, geschah dies im Auftrag und unter Kontrolle der jeweiligen Besatzungsmacht. Deutsche Gerichte durften erst 1946 ihre Tätigkeit wiederaufnehmen (vgl. »Akten …«; Eschenburg 1983).

Die bedingungslose Kapitulation war das Ende einer zwölfjährigen totalitären Gewaltherrschaft, die die Deutschen aus eigener Kraft nicht hatten beseitigen können. Nur wenige Länder in Europa – Schweden und die Schweiz, Spanien und Portugal – waren durch die deutsche Kriegsmaschinerie und die nachrückenden Sondereinheiten, der SS, die mit der Vernichtung von Juden, Kommunisten, Zigeunern (Sinti und Roma) et al. beauftragt waren, nicht heimgesucht worden.

In mehreren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zur Sozial- und Bewusstseinslage in der unmittelbaren Nachkriegszeit, an denen auch bekannte Soziologen aus den USA teilnahmen, wurden die dominanten Lebensgefühle wie folgt beschrieben: introvertiert, apathisch, gebrochener Lebenswille, das Gefühl, »nun endgültig erledigt zu sein« (Articus/Braun 1984 : 716). Nicht alle Deutschen empfanden die Niederlage als Akt der Befreiung von einer menschenverachtenden Diktatur, verbunden mit der Hoffnung auf einen demokratischen Neubeginn.

Im Alliierten Kontrollrat, der Entscheidungen, die ganz Deutschland betrafen, einstimmig zu treffen hatte, wurde die Konsensbasis zwischen den Alliierten immer schmaler. Daran konnte auch die Potsdamer Konferenz, die vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 abgehalten wurde, nicht viel ändern. Die Konferenz hatte zwar den Neuaufbau des demokratischen Lebens zugestanden, aber die Auffassungen von Demokratie differierten zwischen den zwei Westmächten (Frankreich war in Potsdam nicht vertreten) und der Sowjetunion erheblich. In der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) zeichnete sich ein Sonderweg ab.

Auch in den osteuropäischen Ländern Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn wurden unter dem Diktat der Sowjetunion kommunistische Regimes errichtet, die nicht aus freien Wahlen hervorgingen. Der Kalte Krieg hatte begonnen. Die Besatzungspolitik wurde mehr und mehr zum Anlass, die aus den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen resultierenden Differenzen zu Vehikeln auf eigenen Wegen zu nutzen. Am 20. März 1948 zerbrach der Alliierte Kontrollrat endgültig und damit die gemeinsame Basis der vier Besatzungsmächte im Hinblick auf die Neuordnung Deutschlands.

1.2 Die territoriale und demographische Situation

Grundvoraussetzung für einen Staat ist die Souveränität über ein klar abgegrenztes Territorium mit zugehöriger Bevölkerung. Nach dem 8. Mai 1945 war dies für Deutschland nicht mehr gegeben. Neben der Machtausübung durch den Alliierten Kontrollrat in den Besatzungszonen und Berliner Sektoren gab es Gebietsverluste in erheblichem Umfang. Die bisherigen deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie wurden formell unter sowjetische und polnische Verwaltung gestellt, faktisch aber diesen Staaten einverleibt. Die deutschen Ostgebiete umfassten 1939 insgesamt 114 296 qkm und hatten 9,6 Mio. Einwohner; der geringere Teil mit 13 205 qkm und 1,16 Mio. Einwohnern (1939) fiel unter die sowjetische, der Rest unter polnische Verwaltung (u. a. Ostpommern, Ostbrandenburg und Schlesien). Auch vor dem Zweiten Weltkrieg waren diese Grenzen nicht unstrittig; der »Korridor« in die Freie Stadt Danzig und nach Ostpreußen war ein Dauerproblem.

Von den 11,73 Mio. Vertriebenen und nationalen Flüchtlingen der Jahre 1945– 1947 in den vier Besatzungszonen kamen 6,94 Mio. aus den deutschen Ostgebieten (Ostpreußen, Ostpommern, Ostbrandenburg und Schlesien) und 4,79 Mio. aus deutschen Siedlungsgebieten im Ausland, die Mehrzahl aus der Tschechoslowakei (2,92 Mio. Sudetendeutsche; vgl. Brockhaus-Enzyklopädie in 20 Bänden, Bd. 19).

Im Westen des ehemaligen Deutschen Reiches fielen Elsass und Lothringen nach kurzem deutschem »Zwischenspiel«, das von 1940 bis 1945 dauerte, an Frankreich zurück. Das Saarland blieb bis zum 1. Januar 1957 unter französischer Verwaltung und Teil des französischen Wirtschaftsraums. In einer Volksabstimmung wurde die Rückgliederung an Deutschland entschieden.

Eine besonders gravierende Einschränkung der gesellschaftlichen und staatlichen Erneuerung lag in der Zerstörung der Städte. Auf insgesamt 131 deutsche Städte waren Großangriffe aus der Luft geflogen worden, in Berlin allein 29 Mal. Die Zentren großer Städte waren zu etwa vier Fünfteln zerstört, unter ihnen Berlin, Dresden, Hamburg, Hannover, Kassel, Köln, Mainz, Münster und Würzburg. Für einige Städte, z. B. Hannover und Dresden, wurde erwogen, sie an der bisherigen Stelle nicht wieder aufzubauen (vgl. die Dokumentationen zum Bombenkrieg und dem Zerstörungsgrad der Städte bei von Beyme 1987, Groehler 1990, Friedrich 2002). Eine vergleichbar chaotische territoriale und demographische Situation gab es in der deutschen Geschichte in der Zeit des 30-jährigen Krieges und nach der Zerstörung der Pfalz und Badens durch französische Truppen Ende des 17. Jahrhunderts.

Einige Fakten können die Ausgangssituation 1945 beschreiben:

 Die 11,7 Mio. Flüchtlinge und Vertriebene der Jahre 1945–1947 verteilten sich sehr disproportional auf die vier Besatzungszonen, vor allem auf die amerikanische und britische Zone, und wegen des hohen Zerstörungsgrades der Städte überwiegend auf die ländlichen Räume. In Schleswig-Holstein und in Niedersachsen (britische Zone) nahm bis 1946 die Bevölkerung gegenüber 1949 um 62 % bzw. 37 % zu, in Bayern, wohin ca. drei Mio. Sudetendeutsche flüchteten, um 24 %.

 Die Rückkehr der ca. 9 Mio. Evakuierten aus den großen Städten zog sich über viele Jahre hin.

 Am 1.4. 1947 gab es unter den 65,9 Mio. Einwohnern der vier Besatzungszonen noch 3,1 Mio. Evakuierte.

 Ein Evakuierungsproblem besonderer Art stellten die Displaced Persons (DPs) dar. Bei Kriegsende sollen es etwa neun Mio. gewesen sein, der Großteil von ihnen ins Reich verschleppte Zwangsarbeiter aus fast allen Ländern Europas.

 Die Verkehrsinfrastruktur lag weitgehend brach, über den Rhein gab es keine Brücke mehr; was Bombardierungen an Eisenbahnlinien nicht getroffen hatten, wurde nun zum Teil demontiert und in die Länder der Alliierten gebracht (»Reparationen«). Die SBZ war hiervon besonders stark betroffen.

Die Disproportionalität zwischen Frauen- und Männeranteilen an der Gesamtbevölkerung war gravierend. Am 1. April 1947 kamen auf 100 Männer 125 Frauen. In der Altersgruppe der 25- bis 45-Jährigen betrug um das Jahr 1950 der Frauenanteil bezogen auf 100 Männer 164 (Köllmann 1983).

2. Wiedererwachen des politischen Lebens

2.1 Die Entwicklung in den westlichen Besatzungszonen

Die Not der Nachkriegszeit führte zur Dominanz familien- und verwandtschaftsbezogener Sozialverhältnisse. Die schlechten bzw. nicht vorhandenen Verkehrsmöglichkeiten, die weitgehende Zwangsbewirtschaftung, die Suche nach Wohnraum, die große Bedeutung des Naturaltausches und des Schwarzmarktes und die Beschränkungen der Freizügigkeit – auch die Besatzungszonen waren untereinander mit Grenzen und Schlagbäumen abgeriegelt – reduzierten das ökonomische und soziale Leben auf lokale und enge regionale Grenzen. So verwundert es nicht, dass es in der Bevölkerung an den erforderlichen Möglichkeiten, aber auch Interessen und Einstellungen fehlte, über den Tag hinaus zu denken und zu planen.

Die politische Situation war für die deutsche Bevölkerung noch undurchschaubarer als für die alliierten Politiker und Militärs, die häufig auch nicht wussten, wie weit ihre Kompetenzen in der Auslegung der Direktiven reichten. Theodor Eschenburg (1983 : 402) resümierte: »Deutsche Politiker, die den Ehrgeiz hatten, eine profilierte Rolle bei der Entstehung eines zukünftigen Deutschland zu spielen, befanden sich im Jahre 1945 in keiner beneidenswerten Lage. Sie standen im Kreuzfeuer höchst divergierender Konzeptionen der Alliierten, und es erforderte schon prophetische Gaben, um die künftige Kräftekonstellation richtig einzuschätzen«.

Vor allen anderen Politikern besaß Konrad Adenauer (1876–1967) die politische Gabe, sich die Neugestaltung Deutschlands in neuen Grenzen vorzustellen. Adenauer war von 1917 bis 1933 Oberbürgermeister von Köln und während der Weimarer Republik populärer Politiker der katholischen Zentrumspartei (der nach 1870/71 gegründeten Partei des politischen Katholizismus). In einem Brief vom Oktober 1945 (abgedruckt in: Kleßmann 1982 : 425) stellte Adenauer u. a. heraus, dass die Trennung in ein von der Sowjetunion beherrschtes Osteuropa und ein von Frankreich und Großbritannien dominiertes Westeuropa eine Tatsache sei und daher die »Schaffung eines zentralisierten Einheitsstaates nicht möglich« sein würde. Weiter stellte Adenauer fest, dass »der nicht von Russland besetzte Teil Deutschlands ein integrierender Teil Westeuropas« sei und dass »dem Verlangen Frankreichs und Belgiens nach Sicherheit auf die Dauer nur durch wirtschaftliche Verflechtung von Westdeutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg, Holland wirklich genüge geschehen« könne (vgl. auch die Dokumentation bei Adenauer 1965).

2.2 Die Entstehung von CDU und CSU

Die wohl erstaunlichste und für die weitere politische Entwicklung in den drei Westzonen und Berliner Westsektoren wichtigste parteipolitische Entwicklung in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist die Auflösung (bzw. Umstrukturierung) der Zentrumspartei und die damit zusammenhängende Gründung der CDU, der Christlich Demokratischen Union, und in Bayern der CSU, der Christlich-Sozialen Union. Die Bedeutung dieser Neugründungen für die Konsolidierung der sozialen und politischen Verhältnisse, als Sammelpartei des bürgerlichen, des christlich-überkonfessionellen und christlich-gewerkschaftlichen Lagers, kann kaum überschätzt werden (zur Geschichte der christlich-demokratischen und christlich-sozialen Bewegungen in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert vgl. Rüther 1989).

Erstaunen muss die Gleichzeitigkeit der Bestrebungen an verschiedenen Orten, und zwar noch vor Kriegsende. Für die spätere CDU waren die wichtigsten Köln (Karl Arnold und ab Ende 1945 v. a. Konrad Adenauer), Berlin (Jakob Kaiser, Ernst Lemmer, Andreas Hermes) und Frankfurt. Für die CSU ist Würzburg zwar der Gründungsort (10. Oktober 1945), München aber sehr bald das Zentrum der weiteren Entwicklung. In beiden Fällen wirkten Gedanken des nach dem Ersten Weltkrieg viel diskutierten Christlichen Sozialismus auf die ersten Parteiprogramme ein.

Der Name CDU geht auf Andreas Hermes zurück, dem »die Protestanten nur halbherzig zustimmten« (Eschenburg 1983 : 187). Aber »die Wahl des Wortes ›christlich‹ entsprach der religiösen Renaissance jener Zeit, zugleich löste sie aber auch das Problem, den Namen für eine überkonfessionelle Partei zu finden, die in der deutschen Geschichte bis dahin eine unbekannte Erscheinung war« (1983 : 201). Zustimmung kam sehr bald von den beiden christlichen Kirchen.

Die anti-kapitalistische Stimmung jener Zeit sowie planwirtschaftliche Überlegungen spiegelten sich in ersten Aufrufen und Programmen. In den Augen vieler Deutscher hatte der »Pakt« Hitlers mit der Großindustrie das Dritte Reich überhaupt erst ermöglicht. So gehörten die Verstaatlichung der Bodenschätze und der Monopol- und Schlüsselindustrien zu den breit akzeptierten Forderungen, die sich auch im Ahlener Programm der CDU vom Februar 1947 finden. Zugleich wurde das Privateigentum an Produktionsmitteln hingegen ausdrücklich bejaht.

2.3 Die SPD und ihr Selbstverständnis

Die Konsensbasis für den Sozialismus scheint in der unmittelbaren Nachkriegszeit breiter gewesen zu sein als für Demokratie und den »Parteienstaat«. »Demokratie« war nicht nur positiv besetzt. Das Scheitern der Weimarer »Parteiendemokratie« war in der Erinnerung.

Dass die künftige Gesellschaftsordnung eine sozialistische sein würde und sein müsse und nur auf diesem Fundament eine »wahre« Demokratie« möglich sei, wurde nicht nur als Konsequenz aus dem totalen Zusammenbruch bzw. dessen Ursachen abgeleitet, sondern auch als Quintessenz geschichtsphilosophischer Überlegungen postuliert. So schrieb der Ökonom Heinz Dietrich Ortlieb in einem Aufsatz über »Sozialismus gestern, heute und morgen« in der für das Wiedererwachen des intellektuellen und politischen Lebens wichtigen Zeitschrift DER RUF (1. Jg., Nov. 1946): »Die nun einige Menschenleben währende geistig-politische Auseinandersetzung um den Sozialismus kann heute wohl als zugunsten des Sozialismus entschieden angesehen werden (…). Zwar führen die Neo-Liberalisten, die heutigen Verfechter einer freien Verkehrswirtschaft, den Kampf gegen den Sozialismus fort, sie sind aber (…) in die Verteidigung gedrängt«. Mit dieser Ansicht stand Ortlieb nicht allein. Eine im Jahr 1946 in Heidelberg erschienene Schrift der renommierten Wissenschaftler Alexander Mitscherlich und Alfred Weber (Bruder Max Webers) hatte den Titel: »Freier Sozialismus«.

Die SPD, Deutschlands älteste Partei, hatte als einzige Partei im Deutschen Reichstag (die Kommunisten waren bereits ausgeschaltet) dem »Ermächtigungsgesetz« Hitlers am 24. März 1933 nicht zugestimmt (zur Geschichte der SPD von 1848–1983 vgl. Miller/Potthoff 1988). Bereits im Mai 1946 hatte die SPD in den Westzonen wieder 600 Tsd. eingeschriebene Mitglieder (zur organisatorischen Neubegründung der SPD durch Kurt Schumacher im kriegszerstörten Hannover ab Mai 1945 vgl. Miller/Potthoff 1988 : 173 ff.). Doch obwohl viele Intellektuelle damals in die SPD eintraten, wie 1967 ff., gelang »der beabsichtigte Einbruch in die neuen und alten Mittelschichten so gut wie gar nicht« (Eschenburg 1983 : 180).

Mit ihrem energischen Vorsitzenden Kurt Schumacher (1895–1952) hatte die SPD sowohl eine Symbolfigur des Widerstandes im Dritten Reich als auch des Anti-Totalitarismus und Anti-Kommunismus an ihrer Spitze. Im In- und Ausland war Schumacher ein geachteter Sprecher der Deutschen nach der Kapitulation. Am 5. Oktober 1945 führte er aus: »Im Sinne der deutschen Politik ist die Kommunistische Partei überflüssig. Ihr Lehrgebäude ist zertrümmert, ihre Linie durch die Geschichte widerlegt«. Und im Mai 1946 sagte Schumacher: Sozialismus sei zwar an Demokratie gebunden, aber unter dem Primat von »Freiheit des Erkennens und Freiheit der Kritik« und der »Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit«. Er fügte aber auch, gegen die Neo-Liberalen gewandt, hinzu: »Wie der Sozialismus ohne Demokratie nicht möglich ist, so ist umgekehrt eine wirkliche Demokratie im Kapitalismus in steter Gefahr« (Informationen zur politischen Bildung, Heft 157/1974).

2.4 Gemeinden und Länder als Rückhalt

Das politische Leben konkretisierte sich zunächst in Kommunalwahlen, die ab April und Mai 1946 in der amerikanischen und in der britischen Zone sowie im Oktober 1946 in der französischen Zone stattfanden. Der Aufbau der politischen Grundstrukturen von der Gemeinde über die Länder zu einem (möglichen) Gesamtstaat entsprach auch angelsächsisch-amerikanischen Vorstellungen von der Bedeutung der gemeindlichen Basis für eine stabile politische Kultur.

Theodor Eschenburg (1974 : 64 ff.) betonte, dass trotz der Niederlage, dem Zerfall des Reiches, der Zerschlagung Preußens und der Einteilung in vier Besatzungszonen die Verwaltungseinheiten und bürokratischen Strukturen auf den Ebenen Gemeinde, Kreis und Land im Wesentlichen bestehen geblieben waren. Diese Strukturen bezeichnete Eschenburg als »demokratischen Rückhalt«. Insbesondere der Gemeinde, als der untersten Verwaltungseinheit und dem unmittelbaren Lebensraum der Menschen, kam die Aufgabe der Linderung der Not und des Wiederaufbaus zu.

Neben der Gemeinde waren es vor allem die Länder, die vor der Konstituierung der Bundesrepublik als Staat für die Erfordernisse der Nachkriegszeit die notwendige Vorsorge trafen. In der amerikanischen Besatzungszone wurden schon am 18. September 1946 die Länder Bayern, Großhessen und Württemberg-Baden gebildet. In der britischen Besatzungszone entstanden Anfang 1947 aus den vier ehemaligen Provinzen die Länder Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. In der französischen Besatzungszone kam es 1945/46 zur Gründung der Länder Baden, Württemberg-Hohenzollern und Rheinland-Pfalz.

Bei den Landtagswahlen zwischen Oktober 1946 und Oktober 1947 erreichte die CDU/CSU mit 6,55 Mio. Stimmen vor der SPD mit 6,07 Mio. Stimmen knapp die Mehrheit. In den Landesverfassungen spielten Fragen der Wirtschaftslenkung und der so genannten »Lebensordnungsrechte« für die Familie, für Unterricht und Bildung und für die Ausgestaltung der sozialen Rechte – wie das Recht auf Arbeit – eine viel größere Rolle als im späteren »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland«, das am 23. Mai 1949, fast ein Jahr nach der Währungsreform, verabschiedet wurde. Auch die Regelung der wirtschaftlichen Mitbestimmungsfragen und das Verbot der Aussperrung (wie in der Hessischen Verfassung) spiegeln die Diskussionen um die Neugestaltung und Einheit des sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens dieser Zeit wider.

2.5 Die Entwicklung in der SBZ. Gründung der DDR

In seiner »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« (Bd. 5 : 1949–1990) schreibt Hans-Ulrich Wehler, dass »der Weg in die SED-Diktatur« sehr kurz gewesen sei (2008 : 23 ff.). Die Sowjetisierung der SBZ begann praktisch mit Kriegsende. Bereits am 29.4 1945 war die »Gruppe Ulbricht« aus dem Moskauer Exil mit einem Arbeitsstab zurückgekehrt. Die Gruppe war benannt nach Walter Ulbricht (1893–1973), einem führenden Funktionär der KPD seit der Weimarer Republik (zu diesen und allen folgenden Daten vgl. Staritz 1984, Kleßmann 1982 : 535 ff.).

Im Herbst 1945 wurde mit der Bodenreform begonnen. Die erste Maßnahme war die entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes über 110 ha (»Junkerland in Bauernhand«), des Grundbesitzes des ehemaligen Deutschen Reiches, der NSDAP, der Wehrmacht und der großen Industrie- und Handelsunternehmen. Diese erste Stufe der Bodenreform sollte nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 eine große Rolle spielen. Am 23. Juli 1945 wurden die Großbanken geschlossen.

Von bis heute nachwirkender Bedeutung war auch die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur »Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands« (SED) am 22. April 1946. Aber noch hatte die am 9. Juni 1945 gebildete »Sowjetische Militäradministration in Deutschland« (SMAD) das Sagen.

Deklamatorisch ging man davon aus, dass die deutsche Einheit zu erhalten sei und alle Schritte in Richtung auf ein eigenständiges Wirtschafts- und Staatsgebiet nur eine Reaktion auf die Vorgänge in den drei westlichen Besatzungszonen und Berliner Sektoren seien. Auf die dort vom 18.–20. Juni 1948 durchgeführte Währungsreform wurde mit der Sperrung der Zufahrtswege nach West-Berlin reagiert. Die Berliner Bevölkerung musste aus der Luft versorgt werden. Dies gelang für die Zeit der Luftbrücke vom 26. Juni 1948 bis zum 12. Mai 1949 in erstaunlichem Ausmaß. Gestartet wurde vor allem auf dem amerikanischen Militär-Flughafen Frankfurt/M.; gelandet wurde auf dem innerstädtischen Berliner Flughafen »Tempelhof«.

Nur eine Woche nach der Währungsreform in den drei Westzonen (»Trizonesien«) wurde auch in der SBZ eine Währungsreform durchgeführt, unter Beibehaltung der Reichsmark (im Westen »Reichsmark Ost« genannt). Auf die am 23. Mai 1949 erfolgte Staatsgründung der Bundesrepublik Deutschland reagierte die SBZ bzw. die Sowjetunion am 7. Oktober 1949 mit der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Am 15. Oktober wurden die diplomatischen Beziehungen zur UdSSR offiziell aufgenommen. Auf einer SED-Konferenz im Juni 1949 hatte die Partei »ein devotes Bekenntnis zu Stalin abgelegt, überdies pries sie die Sowjetunion als verpflichtendes Modell« (Wehler 2008 : 27).

Die immer unerträglicher werdende Situation in der »sozialistischen Volksdemokratie« entlud sich im Juni 1953 in einem das Regime gefährdenden Volksaufstand, der nur durch sowjetische Panzer niedergeschlagen werden konnte. Der Beginn des Aufstands am 17. Juni 1953 in der (Ost-)Berliner Stalin-Allee war bis zur Einführung des 3. Oktober, dem Tag der Vereinigung beider deutscher Staaten im Jahr 1990, in der Bundesrepublik ein nationaler Gedenktag.

3. Gründung der Bundesrepublik Deutschland

3.1 Voraussetzungen für einen neuen Gesellschaftsvertrag

Die zunächst hoffnungslos erscheinende Ausgangslage durch die Zerstörungen des Krieges und die soziale und demographische Situation barg jedoch bessere Voraussetzungen für einen Gesellschaftsvertrag, als sie zuvor gegeben waren.

Der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und seine Folgen hatten soziale Klassen und Schichten miteinander in Berührung gebracht, die vorher in jeder Beziehung stark segregiert waren. Berufs- und lokalspezifische Milieus waren entweder verschwunden oder in ihrer Besonderheit eingeebnet. Das galt insbesondere für die Arbeiterbewegung und ihre Kultur, der ihre Basis durch die sich wechselseitig verstärkenden Wirkungen der Gleichschaltung, des Krieges, der Vertreibung und die neu entstehenden Wohnmilieus des sozialen Wohnungsbaus mehr und mehr entzogen wurde.

Auch der Eigentumsverlust in breiten Schichten der Bürger und Hochbürger, nicht zuletzt durch die Inflation, führten zu sozialen Nivellierungen bisher ungekannten Ausmaßes, die von den neuen »Volksparteien« CDU und CSU geschickt aufgegriffen wurden. Es kamen zudem Faktoren hinzu, die sich für die neue gesellschaftliche Konsensbasis als günstig erweisen sollten:

 Die Ausgliederung spezifischer Regionalstrukturen: »der protestantisch ostdeutschen Landwirtschaft, des katholischen schlesischen Industriegebietes, der sächsisch-thüringischen Industrie- und Gewerbegebiete, der altpreußisch-mecklenburgischen Agrarregionen« und Berlins in der Funktion der Reichshauptstadt« (Lepsius 1983 : 11 f.).

 Die für Deutschland einst so bedeutsame Konfessionsspaltung verlor durch Krieg und Kriegsfolgen an Bedeutung. Der Anteil der Katholiken betrug im Deutschen Reich im Jahr 1939 33 % an der Gesamtbevölkerung (Protestanten 61 %). Auf dem Territorium der Bundesrepublik war dieser Anteil bis 1950 auf 44,3 % gestiegen. Da die Protestanten (um das Jahr 1950) nur noch über einen Anteil von 51,5 % verfügten, konnte konfessionell insgesamt – nicht regional – von einer quasi paritätischen Situation ausgegangen werden (zu den Daten vgl. Flora 1983).

 Entgegen einer verbreiteten Auffassung wurden die Elite-Positionen »in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Verbänden und Kultur insgesamt gesehen gründlicher umbesetzt bzw. neu besetzt als 1933 oder 1918/19« (Kocka 1979 : 157; vgl. auch Zapf 1965).

 Die für die deutsche Geschichte so zentralen Rollen der Großgrundbesitzer, des preußischen Staates und Militärs waren ausgespielt und bei der Gründung der Bundesrepublik keine Belastung. Das Militär hatte aufgehört, ein bestimmender Faktor des politischen und öffentlichen Lebens zu sein.

 Die traditionale Dreigliederung des deutschen Gewerkschaftswesens wurde nach 1945 nicht restauriert. Die bereits vor 1933 aktiven Bemühungen um eine »Einheitsgewerkschaft« konnten nach dem Krieg, nicht zuletzt durch das Wirken von Hans Böckler (1894–1951; 1949 erster Vorsitzender des DGB) verwirklicht werden.

 Proletariat und Arbeiterkultur verloren im »Schmelztiegel« der Kriegs- und Nachkriegszeit und den bald nach der Währungsreform spürbaren Wirkungen der »Sozialen Marktwirtschaft« mehr und mehr das Interesse und die Basis für die Restauration einer klassenspezifischen Teilkultur.

Die Veränderungen in der deutschen Sozialstruktur durch den Nationalsozialismus, den Krieg und die Kriegsfolgen bewirkten etwas ganz Entscheidendes: erstmals in der deutschen Geschichte wurde die Demokratie als einzig mögliche Regierungs- und Staatsform auch in den besitzenden Oberschichten, im Beamtenbund, aber auch von den Kirchen akzeptiert. Der Sonderweg einer »verspäteten Nation«, wie die bekannte These von Helmuth Plessner (1974) lautete, war beendet.

3.2 Die neue Wirtschaftsordnung: Soziale Marktwirtschaft

Bemühungen um die Durchsetzung einer bestimmten Wirtschaftsordnung wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit hartnäckiger verfolgt als Gedanken einer politischen und verfassungsmäßigen Neuordnung. Das Wirtschaftssystem hatte seine eigene Dynamik. Die weltwirtschaftlichen Verflechtungen wie die weltpolitischen Auseinandersetzungen waren im Wirtschaftsbereich direkt. Programmatiken des wieder erwachenden parteipolitischen und des gewerkschaftlichen Lebens konzentrierten sich auf die Wirtschaftspolitik, auf Eigentums- und Vermögensfragen, Bildung und Ausbildung. Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Diskussionen dieser Zeit gipfelten in der Frage, ob die Gefahren für die individuelle Freiheit in der künftigen Gesellschafts- und Staatsordnung eher von einem schrankenlosen Kapitalismus oder von einer umfassenden Planwirtschaft kommen würden.

Als vom 18.–20. Juni 1948 die Währungsreform durchgesetzt wurde, war die Diskussion zugunsten des Ordo-Liberalismus entschieden. Er allein schien in der Lage, die Vorteile der freien Märkte mit der Freiheit der Individuen und einem Ordnungsrahmen zu verbinden, der ein Abgleiten in schrankenlosen Kapitalismus ebenso verhinderte wie eine dirigistische Planwirtschaft (vgl. zur Durchsetzung der freien Marktwirtschaft Ambrosius 1977).

Die Währungsreform war mit vielen Bestimmungen zur Abschaffung der Zwangswirtschaft verbunden. Der unermüdliche Motor dieser Reformen, die er z. T. gegen den ausdrücklichen Willen des Alliierten Kontrollrates durchsetzte, war Ludwig Erhard (1897–1977). Er war zunächst Leiter der »Sonderstelle Geld und Kredit des Wirtschaftsrates« und seit März 1948 Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes der amerikanischen und britischen Zone, mit Sitz in Bad Homburg. Zur Akzeptanz der Währungsreform und neuen Wirtschaftsordnung hatten klare wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen und das Konzept Soziale Marktwirtschaft beigetragen. Ludwig Erhard übernahm diesen Begriff, der erstmalig 1947 in einer Schrift des Münsteraner Professors der Volkswirtschaftslehre, Alfred Müller-Armack (1901–1978), auftauchte. Erhard »machte daraus eine gängige Parole« (Eschenburg 1983 : 439; vgl. Müller-Armack 1974).

Für die (spätere) Bundesrepublik war von großer Bedeutung, dass die Grundzüge der Wirtschaftspolitik entwickelt waren und Eingang in die Praxis gefunden hatten, bevor das neue Staatswesen existierte. So kann man dem Historiker Hans-Peter Schwarz (1974 : 59) zustimmen, wenn er resümiert: »Die Bundestagswahl von 1949 war denn auch in der Tat eine Art Plebiszit über die Wirtschaftsordnung. Sie ging zugunsten der marktwirtschaftlich orientierten Parteien aus«.

Der Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft war die wichtigste Grundlage für die Integration heterogener Bevölkerungsschichten in die neue Gesellschaft der im Entstehen begriffenen Bundesrepublik (über den bis November 1948 sich hinziehenden Widerstand der westdeutschen Arbeiterschaft gegen die Marktwirtschaft vgl. Benz 1984 : 92). Die neue Wirtschaftsordnung wurde durch den Marshall-Plan unterstützt. Im Rahmen dieses im April 1948 beschlossenen Auslandshilfegesetzes der USA, das nach dem vormaligen General und Außenminister der Jahre 1947–1949, George Marshall, benannt war, erhielten die vom Zweiten Weltkrieg zerstörten Länder Westeuropas erhebliche Aufbauhilfen in Form von Sachleistungen und Krediten. Die Ostblockländer waren von der Sowjetunion gezwungen worden, die angebotenen Hilfsleistungen zurückzuweisen.

Dass die vor allem von Ludwig Erhard konzipierte und couragiert durchgesetzte Währungsreform zum entscheidenden Umbruch in der deutschen Nachkriegsgeschichte führte und die Konsensbasis für die neue Wirtschaftsordnung schnell breiter wurde, hatte auch Ursachen, die mehr in epochal-typischen Phänomenen als in gänzlich neu geschaffenen Bedingungen lagen. Deutschland war bereits – entsprechend der Stadienlehre des wirtschaftlichen Wachstums von Rostow (1960) – in den 1920er Jahren in das »Zeitalter des Massenkonsums« eingetreten. Diese Entwicklungen wurden durch die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg zwar unterbrochen, doch die Wege zu einer modernen Konsumgesellschaft waren schon vor 1948/49 ff. beschritten worden.

3.3 Das Grundgesetz als neuer Gesellschaftsvertrag. Hauptstadtfrage

Seit dem 10. Juli 1948 tagte im Schloss Herrenchiemsee der Verfassungskonvent zur Vorbereitung des Parlamentarischen Rates, der die endgültige Verfassung auszuarbeiten hatte. Diesem Konvent lag eine Aufforderung zur Gründung eines westdeutschen Teilstaates zugrunde, die von den drei westlichen Militärgouverneuren am 1. Juli 1948 in Frankfurt den Ministerpräsidenten überreicht wurde (sog. »Frankfurter Dokumente«). Dagegen gab es einen nicht unerheblichen Widerstand auch seitens einiger Ministerpräsidenten (vgl. Benz 1984 : 98 ff.). Man befürchtete, damit den Weg zu einer Zwei-Staaten-Lösung zu beschreiten. Doch auf Druck der Alliierten trat am 1. September 1948 in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen, um über eine Verfassung für einen westlichen Teilstaat zu beschließen. Er bestand aus 65 Mitgliedern, die von 11 Landtagen gewählt waren, je 27 von der CDU/CSU und der SPD, fünf von der FDP, je zwei von der Deutschen Partei, dem Zentrum und der KPD. Hinzu kamen fünf Vertreter (West-)Berlins mit beratender Stimme.

Am 23. Mai 1949 wurde in Bonn das »Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland« verabschiedet. Der Tag ist das Gründungsdatum der zweiten deutschen Republik. Der Name »Grundgesetz« (GG) statt »Verfassung« wurde gewählt, um auf die Vorläufigkeit der Staatsgründung hinzuweisen. In der dem GG vorangestellten Präambel hieß es unter anderem, dass »auch für jene Deutsche gehandelt wurde, denen mitzuwirken versagt war« und dass »das gesamte deutsche Volk aufgefordert« ist, »in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden«.

Auch mit der Wahl Bonns als Regierungssitz sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um nichts Endgültiges handele. Bereits am 12. Mai 1949 war die Entscheidung gefallen, dass Bonn und nicht Frankfurt/M. vorläufige Hauptstadt der Bundesrepublik sein sollte. Für Frankfurt hätte nicht nur die zentrale Lage, sondern auch die deutsche Geschichte gesprochen: von 1562 bis zum Ende des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« im Jahr 1806 war der Frankfurter Dom die Stätte der Kaiserkrönung. In den Jahren 1848/49 tagte in der Frankfurter Paulskirche die erste frei gewählte Nationalversammlung, um eine Verfassung für ganz Deutschland auszuarbeiten.

In der Hauptstadtfrage lief die Entwicklung in der SBZ/DDR fast parallel. Am 7. Oktober 1949 wurde die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik verkündet und (Ost-) Berlin zur Hauptstadt erklärt. Hier gab es weder eine Vorläufigkeit wie mit Bonn noch die Selbstbeschränkung auf Ost-Berlin. Es hieß: »Berlin, Hauptstadt der DDR«.

3.4 Die Bundesrepublik als »demokratischer Verfassungsstaat«

Die im Grundgesetz verankerte Staatsordnung gehört zum Typus des westlichen »demokratischen Verfassungsstaates«. Ohne hier auf die Frage einzugehen, ob mit der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 bereits ein Wiederanknüpfen an die nach dem Scheitern der Paulskirchen-Verfassung von1848/49 unterbrochene westeuropäisch-nordamerikanische Verfassungsgeschichte gegeben war, konnte in den Jahren 1948/49 von einem breiteren Grundkonsens für diesen Verfassungs- und Staatstypus ausgegangen werden als 1918/19.

Bei allen an der Ausarbeitung des Grundgesetztes beteiligten Personen und Parteien – ausgenommen die beiden KPD-Mitglieder im Parlamentarischen Rat – bestand Konsens über folgende Eckpfeiler:

 Das neue Staats- und Gesellschaftssystem beruht auf dem Prinzip der Gewaltenteilung und des Föderalismus.

 Die Sicherung der Freiheits- und Bürgerrechte hat Vorrang vor »Staatsinteressen«.

 Die Handlungsfähigkeit und zugleich Kontrolle der Exekutive ist zu gewährleisten.Plebiszite sind ausgeschlossen.

 Grundlegende Prinzipien des neuen Gesellschaftsvertrages dürfen nicht, auch nicht mit Zweidrittelmehrheit, abgeändert werden (Art. 79 Abs. 3 GG).

Dass das Grundgesetz gleichwohl für den gesellschaftlichen Wandel offen ist, war von vornherein Konsens. Inzwischen sind rund 60 Änderungen vorgenommen worden, zuletzt relativ umfangreich im Zusammenhang mit dem deutschen Einigungsprozess. Carlo Schmid (1896–1979), einer der wichtigsten »Väter des Grundgesetztes« (es gab auch vier »Mütter«) und SPD-Parlamentarier, schrieb in seinen »Erinnerungen« (1979 : 373 f.): »Auch gegen die von vielen gewünschte Einführung so genannter sozialer Grundrechte, an denen die Weimarer Verfassung so reich gewesen ist, habe ich mich energisch gewehrt, waren sie doch nichts anderes als Programme oder Tautologien oder Kennzeichnungen der Zustände, die bei einem vernünftigen Umgang mit den klassischen Grundrechten aus den politischen Auseinandersetzungen hervorgehen sollten« (über weitere Prinzipien bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes vgl. Di Fabio 2011).

Am 14. August 1949 fanden die Wahlen zum Ersten Deutschen Bundestag statt. Die Wahlbeteiligung betrug 78,5 %. Zur Überraschung vieler lag der Stimmenanteil von CDU/CSU mit 31,0 % (139 von 399 Sitzen) fast zwei Prozent über dem der SPD (131 Sitze). Die FDP erhielt 11,9 % der Stimmen und 52 Sitze, die Deutsche Partei (DP) erhielt 4,2 % der Stimmen und 17 Sitze. Die KPD erzielt 5,7 % und 15 Sitze.

Konrad Adenauer betrieb geschickt seine Kanzlerschaft und erreichte sie in einer Koalition mit FDP und DP (vgl. Adenauer 1965 : 223 ff.). Da es noch keine Fünf-Prozent-Sperrklausel auf Bundesebene gab, kamen sechs weitere Parteien ins Parlament. Mit Adenauer an der Spitze der neuen Regierung zeichnete sich bald das ab, was später Kanzlerdemokratie genannt wurde, gestützt auf Art. 65 GG (»Richtlinienkompetenz« des Bundeskanzlers).

3.5 Restauration und Neubeginn

Die Restaurationsthese wurde schon im Herbst 1946 von Hans Werner Richter (1908–1993), Mitbegründer der für das intellektuelle Leben in der jungen Bundesrepublik so wichtigen Literatenvereinigung »Gruppe 47«, in der Zeitschrift DER RUF vertreten: nach Kriegsende sei nicht, wie doch zu erwarten war, eine Revolution über dieses Land hinweggegangen, sondern es habe »lediglich eine behördlich genehmigte Restauration stattgefunden«. Richter tat aber auch kund, dass ihm die »revolutionäre« Entwicklung in der SBZ ebenso wenig gefiel. Wie also hätte die Revolution aussehen können und welcher Handlungsspielraum bestand überhaupt?

Man darf folgende Tatsachen nicht aus dem Blick verlieren, wenn über einen falschen oder zu restaurativen Neubeginn nach 1945 bzw. 1948/49 räsoniert wird. Auf der einen Seite waren es extreme Notlagen, Kälte- und Hungerkrisen, der Kalte Krieg und die durch die Entwicklung in der SBZ und den vormals deutschen Ostgebieten mit verursachte alte und neue Furcht vor einer Bolschewisierung bzw. Sowjetisierung, die für einen sozialistischen Neubeginn keine idealen Ausgangsvoraussetzungen boten. Auf der anderen Seite war der Nationalsozialismus trotz der irrigen Behauptung von der »Stunde Null« nicht einfach verschwunden, sondern in Personen und Institutionen, Gesinnung und Weltanschauung noch präsent (vgl. über »Die lange Stunde Null«: Braun et al. 2007).

In der breiten Beteiligung aller Bevölkerungsschichten am Nationalsozialismus lag eine Ursache für die Zurückweisung einer Kollektivschuld. Über das Gewesene wurde auch deshalb der Mantel des Schweigens und Vergessens gebreitet, um nicht die familiäre, berufliche und nachbarschaftliche Gegenwart permanent mit Infragestellungen und Verdächtigungen zu belasten. Zudem gab es ja die offizielle Entnazifizierung und die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg. Das Übrige war Alltagswelt, Irrtum und Irreführung und nicht der »wahre« Nationalsozialismus, an den man geglaubt hatte. So verwundert nicht, dass sich die Aufarbeitung von Schuld und Vergehen bis in die Gegenwart hinzieht. Wegen der vielen Restitutionsansprüche (z. B. an konfiszierter »jüdischer Kunst«, an Bodenbesitz ehemals jüdischer Familien) und neuen Darstellungen von Betroffenen aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern wird das Thema: »Wie war es möglich?« weiterhin präsent sein. Der jungen Generation kann so ein viel differenzierteres Bild der Naziherrschaft in allen ihren Bereichen vermittelt werden.

Die Grundlagen des neuen Wirtschaftssystems und Gesellschaftsvertrages gewannen schnell an Überzeugung und Zustimmung. Viele Probleme blieben zunächst ungelöst, wie z. B. die Monopolfrage. Hier war Ludwig Erhard kein Motor. Erst im Jahr 1957 wurde ein »Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen« (Anti-Kartellgesetz) verabschiedet. Doch das Funktionieren der marktwirtschaftlichen Ordnung mit sich ständig erweiternden Konsummöglichkeiten, der soziale Wohnungsbau, der Lastenausgleich für Vertriebene und Flüchtlinge und die anhaltende Massenflucht aus der DDR (vor allem über die bis 1961 offene Grenze nach West-Berlin) trugen zur Legitimation der neuen Staats- und Gesellschaftsordnung bei.

Auch die »Modernisierung im Wiederaufbau« (vgl. Schildt/Sywottek 1993), die ja nicht nur den Wohnungs- und Städtebau und die Kunst betraf, sondern auch das Design für viele Gebrauchsgegenstände wie Auto und Plattenspieler, Telefon und Radio, trug dazu bei, ein modernes, in die Zukunft weisendes Lebensgefühl zu vermitteln und den Anschluss an die als vorbildlich angesehenen Entwicklungen in den USA zu schaffen.

4. Kultur und Werte als Rückhalt

Werte sind die in einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft wirksamen »ethischen Imperative«, ihr verbindendes Element. Nicht nur in der desolaten Situation nach dem Zweiten Weltkrieg wurde versucht, sich einer gemeinsamen Wertbasis zu vergewissern:

In ihrem Werk zur Sozialstruktur Europas betonen Mau und Verwiebe (2009), in welchem Ausmaß auch die Entwicklung der Europäischen Union auf der Gemeinsamkeit von gleichen Werten beruht (vgl. Kap.XII).

Werte verweisen auf kulturelle, religiöse und soziale, rechtliche und ethische Leitbilder des Handelns. Über den Normbegriff hinaus sind die in einer Gesellschaft vorherrschenden Werte das Grundgerüst der Kultur und der Weltanschauung.

4.1 Die Situation in Westdeutschland

Die Berufung auf die grundlegenden Werte der deutschen Kultur, auf Reformation und Humanismus, auf die deutsche Klassik und den Idealismus in Philosophie und Pädagogik, auf das Erbe des Christentums und die große deutsche Bildungstradition gehörte zu den moralischen Stützen der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Das Goethe-Jahr 1949 zum 200. Geburtstag des Dichters bot einen willkommenen Anlass für eine geistige Neubesinnung – aber auch zum Streit um das deutsche Erbe in nunmehr zwei deutschen Staaten, die in diesem Jahr, auch mit Anspruch auf das Erbe des »anderen, wahren Deutschland«, gegründet wurden (vgl. Glaser 1997 : 107 ff.: »Auf Goethe hoffend«). Die geteilte Nation und die weitgehend zusammengebrochene Gesellschaft fanden eine Stütze in den Werten der deutschen Kultur- und Bildungstradition. Das Wort von der deutschen Kulturnation bekam eine unerwartete Bedeutung und wurde zu einer Grundlage der Zusammengehörigkeit. Glaser (1997) hat diese Zeit anschaulich mit Beispielen aus allen Kulturbereichen beschrieben: Die Rückbesinnung auf das Erbe einerseits, das Nachholen und Einholen der durch den Nationalsozialismus verzögerten oder zerstörten Moderne in Musik und Literatur, Malerei und Theater, Architektur und Städtebau andererseits.

Doch ein bruchloses Anknüpfen an das Erbe der deutschen Kultur konnte es ebenso wenig geben wie eine Erneuerung von Staat und Gesellschaft allein aus deutschem Geist, der ja hinlänglich seine Unfähigkeit bewiesen hatte, vor der Barbarei zu bewahren. Es gab warnende Stimmen, das deutsche Bildungs- und Kulturerbe nicht aus der Mitverantwortung für die Entwicklung zum und im Nationalsozialismus zu entlassen.

Wie für die Erneuerung des staatlichen und politischen Lebens auf ein Schwanken zwischen Restauration und Erneuerung hingewiesen wurde, so gilt dies auch für die Kulturentwicklung nach 1945. Die erwähnte »Gruppe 47«, die Uraufführung (Hamburg 1947) des Dramas »Draußen vor der Tür« des früh verstorbenen Autors Wolfgang Borchert (1921–1947), der dieser »verlorenen Generation« eine Stimme gab, die Aufführungen der Neuen Musik in ihren Zentren Darmstadt, Baden-Baden und Donaueschingen und der Siegeszug der bisher verbotenen abstrakten Kunst können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um Veranstaltungen für eine kleine Kulturelite handelte. Die große Mehrheit lauschte den »Capri-Fischern«, die aus den alten Volksempfängern bis in den Straßenraum drangen und schaute Filme an, die die Sehnsucht stillten und von Vergangenheit und Gegenwart ablenkten.

4.2 Kulturentwicklung in der SBZ/DDR

Im »Philosophischen Wörterbuch« von Klaus Buhr, das in der DDR und in der Bundesrepublik weit verbreitet war, hieß es zum Begriff Kultur: »Entwicklung und allseitige Herausbildung des menschlichen Wesens im Ringen um die Beherrschung der Naturkräfte und ganz besonders des eigenen gesellschaftlichen Zusammenlebens«.

Nicht erst 1945/49 kam diese historisch-materialistische Auffassung der Kultur zum Tragen. Sie hatte Wurzeln, die bis in das 19. Jahrhundert zurückgingen, verbunden mit dem Anspruch, auch auf diesem Gebiet das Erbe des deutschen Idealismus und einer wohl verstandenen Klassik anzutreten. In gewisser Weise konnte man bei der 1933 gewaltsam unterbrochenen Kulturentwicklung der Weimarer Republik wieder anknüpfen, die zu einem nicht unwichtigen Teil sozialistisch geprägt war (das gilt auch für das später weltberühmte Bauhaus in Dessau).

Es hatte erhebliche Signalwirkung, auch im Ausland, dass anerkannte Schriftsteller wie Heinrich Mann oder Bertolt Brecht aus dem Exil kommend in die SBZ/DDR gingen. Brecht leitete das »Theater am Schiffbauerdamm«, das über seinen Tod im Jahr 1956 hinaus Weltruhm genoss. Der Lyriker Peter Huchel redigierte die Zeitschrift »Sinn und Form«, die als eine der besten deutschsprachigen galt.

Der hohe Stellenwert, der auf der einen Seite Literatur, Theater und anderen Künsten bei der Schaffung des »neuen Menschen« eingeräumt wurde, korrespondierte auf der anderen Seite mit der Furcht vor Abweichung, was zu entsprechenden Zensurmaßnahmen und Überwachungen führte. Mit der Ausweisung des auch im Westen sehr bekannten Liedermachers Wolf Biermann im Jahr 1976 wurden die Drangsalierungen von Künstlern zum weltweit beachteten Skandal. Aber die DDR-Literatur blieb eine wichtige Klammer der deutschen Kulturnation. Werke von Christa Wolf gelangten auszugsweise auch in westdeutsche Schulbücher und waren Anlass für Abituraufsätze (Der geteilte Himmel, 1963; Nachdenken über Christa T., 1968; Störfall. Nachrichten eines Tages, 1987).

Die SBZ förderte ein breites, mit den Werktätigen verbundenes Kulturschaffen. Entsprechend zahlreich waren die Kultureinrichtungen, auch in abgelegenen Regionen.

Im Jahr 1989 gab es, bei rund 17 Mio. Einwohnern, 217 Theater, 87 Orchester, 719 Museen (davon 128 Geschichtsmuseen), fast 17 Tsd. Bibliotheken – darunter ca. 6 Tsd. Betriebsbibliotheken – und 1709 Kulturhäuser (Thomas 1993 : 421).

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten (vgl. Art. 35 des Einigungsvertrages) ging diese Differenzierung und kulturelle Basis zu einem guten Teil verloren, auch auf Grund der völlig anderen Organisationsstrukturen des kulturellen Lebens. Es entwickelte sich jedoch eine neue Form der kulturellen Förderung, bei der kommunale und private Initiativen eine große Rolle spielten. Nur dadurch konnte, häufig in letzter Minute, viel vor Verfall und Ausverkauf, z. B. von wertvollen Bibliotheksbeständen, bewahrt werden.

5. Religion und Kirchen in Westdeutschland und der SBZ/DDR

Nach dem ideologisch-weltanschaulichen Zusammenbruch des Nationalsozialismus und dem Verfall vieler Institutionen konnten die christlichen Kirchen zunächst eine dominante Rolle spielen, was sich nicht zuletzt bei der Gründung von CDU und CSU zeigte. Doch dies bedeutete nur ein Interregnum. Zum einen wurden, neben geleistetem Widerstand, auch Verstrickungen der Kirchen in die Politik des Dritten Reiches und dessen anti-semitische Grundlagen offenkundig, zum anderen setzten sich säkulare Trends fort, die bereits in der Weimarer Republik verstärkt zur Geltung gekommen waren. Für die Zeit nach 1949 gilt: »Der politische Prälat verschwand allmählich aus den Landtagen und trat im Bundestag erst gar nicht auf« (Maier 1989 : 166). Die katholischen Gewerkschaften wurden ebenso aufgegeben wie andere Vereinigungen und Parteien, die einen über die engeren kirchlichen Aufgaben hinaus wirkenden, allgemein-politischen Anspruch hatten.

Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Tradition der Katholikentage bekam für die Repräsentanz des Katholizismus in der Öffentlichkeit eine bis heute anhaltende Bedeutung. Ihnen wurden seit 1949 die Evangelischen Kirchentage an die Seite gestellt (Maier 1989 : 167). Seit 1957 finden sie im zweijährigen Rhythmus statt, alternierend mit den Katholikentagen. Bis zur Vereinigung waren beide Kirchentage auch eine gesamtdeutsche Klammer.

Nach langen Verhandlungen und den Erfahrungen mit der »Bekennenden Kirche« im nationalsozialistischen Deutschland kam es zur Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) als Bund lutherischer, reformierter (calvinistischer) und unierter Kirchen. Die Grundordnung wurde nach einer ersten Kirchenversammlung in Treysa bei Kassel im August 1945 in Eisenach (Thüringen) im Juli 1948 beschlossen. Der Wechsel der Namensgebung von »Deutscher Evangelischer Kirche« zu »Evangelischer Kirche in Deutschland« geschah in der Absicht, »der Vorstellung einer mehr politisch bedingten Zuordnung von Nation, Staat und Kirche entgegenzutreten, aber zugleich die kirchliche Verpflichtung gegenüber dem deutschen Volk zu unterstreichen« (Wilkens 1989 : 185).

Trotz aller anti-religiöser und anti-kirchlicher Politik der DDR waren sowohl das Hineinragen der katholischen Bistümer Fulda, Osnabrück, Paderborn und Würzburg in das DDR-Territorium als auch die Gründung der EKD eine gesamtdeutsche Klammer – zumindest bis zum Jahr 1969, als nach langen Auseinandersetzungen die Klammer zur EKD beseitigt und der »Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR« gegründet wurde (Henkys 1989 : 199 f.).

Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 wurden die Ursprungsländer des deutschen Protestantismus als »neue Bundesländer« in die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik eingegliedert. Gehörten noch 1945 90 % der Bevölkerung einer Kirche an, überwiegend der protestantischen, so war durch die äußerst rigide Kirchenpolitik der SED der Anteil der Kirchenzugehörigkeit auf deutlich unter 30 % gesunken. In den städtischen Ballungszentren und den Industrieregionen Ostdeutschlands waren es sogar weniger als 10 % der Bevölkerung (Hartmann 1993 : 404).

In der Schlussphase der DDR traten erhebliche Spannungen auf, weil die Kirche mit ihren Freiräumen als Hort der Dissidenten galt – und in der Tat für die Vorbereitungen der friedlichen Revolution eine bedeutende Rolle spielte (zur weiteren Entwicklung von Religion und Kirche in der Gesellschaftsgeschichte Deutschlands vgl. Kap. VI).

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