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Leitgedanken: Was ist Disruptive Thinking?

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Disruptive Thinking ist das Denken, das mit den komplexen Anforderungen dieser Zeit mitwächst. Es ist Querdenken ohne Geländer.

Disruptive Thinking ist realistisches Zukunftsdenken, das Störungen nicht ausklammert, sondern einbezieht.

Disruptive Thinking ist ein zweisprachiges Denken, es ist in zwei Welten zu Hause. Es rechnet mit der Ungewissheit und macht Widersprüche produktiv.

Disruptive Thinking ist das etwas andere »Betriebssystem« für Organisationen in der digitalen Transformation und der beginnenden kreativen Revolution.

Disruptive Thinking fördert das Innovationspotenzial und stärkt die soziale Verantwortung.

Vor ein paar Jahren habe ich zum ersten Mal die folgende Geschichte gehört: Eine Lehrerin unterrichtete in einer Grundschule sechsjährige Kinder im Zeichnen. Eine der Schülerinnen, die in einer der hinteren Bänke saß und sonst nicht besonders aktiv mitarbeitete, war diesmal völlig vertieft in das, was sie tat. Die Lehrerin war fasziniert und zugleich neugierig. Sie fragte das Mädchen, was es malen würde. Ohne aufzuschauen, sagte die Kleine: »Ich male ein Bild von Gott.« Die Lehrerin erwiderte überrascht: »Aber niemand weiß, wie Gott aussieht.« Darauf entgegnete das Mädchen: »Warten Sie einen Moment, gleich wissen Sie es.«

Ich mag diese Geschichte aus verschiedenen Gründen. Nicht nur, weil sie der begnadete Geschichtenerzähler und kreative Anreger Ken Robinson gerne erzählt. Sie ist ein wunderbares Beispiel für die Fantasie von Kindern. In dieser Lebenszeit waren wir alle kreativ. Viele von uns hatten das kreative Vertrauen, scheinbar Unmögliches zu wagen und die Grenzen der herkömmlichen Vorstellungen der Erwachsenen überspringen zu können.

Sie ist auch ein schönes Beispiel für die festgefügten Wissensüberzeugungen der Erwachsenen. Und für die Verblüffung, die es hervorruft, wenn dieses Gefüge infrage gestellt wird. Ich bekam zum Beispiel in der ersten Klasse der Grundschule die Aufgabe, einen Aufsatz über das Schlaraffenland zu schreiben. Wie sich die Erwachsenen das Schlaraffenland ausmalten, wusste ich natürlich. Das leuchtete mir aber nicht ein. Wieso mussten die Leute immerzu irgendetwas essen (meistens Tiere) und faul herumliegen?

Also malte ich in meinem Aufsatz ein ganz anderes Bild: ein Land, in dem die Luft so nahrhaft war, dass man sich von ihr ernähren konnte und man immerzu herumspringen und Neues entdecken konnte.

Doch das alles berechtigt noch nicht, jene Geschichte in einem Buch über Disruptive Thinking vorzustellen. Noch dazu in der Einleitung. Wäre da nicht noch eine andere Ebene und eine andere Assoziation, die diese Geschichte bei mir auslöst: Das Mädchen, das sich zutraut, ein Bild von Gott zu malen, steht für diese Zeit, für die gerade beginnende kreative Revolution, für eine neue Welt, die sich anschickt, Dinge zu entwickeln, die bislang unvorstellbar waren. Und es steht für die Erschütterung, die dies in der alten Welt auslöst. Vielleicht – aber dies als Letztes – steht es auch für etwas, was man früher Hybris nannte.


Mancher fühlt sich von dieser neuen Welt magnetisch angezogen, manchem macht sie Angst. In diesem Spannungsfeld entsteht ein Klima für Disruptionen – für begeisternde Innovationen und besorgte Abwehrreaktionen, für tatsächliche Disruptionen, aber auch für das Gerede darüber, für Geschichten, Meinungen Spekulationen. Doch wie kann man das eine vom anderen unterscheiden? Wäre es nicht interessant, ein bisschen mehr hineinzuhorchen?

Der Begriff »Disruptive Thinking« besteht aus zwei Wörtern. Das zweite steht da nicht aus Verlegenheit. Disruptive Thinking feiert nicht disruptives Tun jeglicher Art. Disruptive Thinking ist Reflexion der Disruption. Und zugleich kreative, verantwortliche Praxis – die praktische Unterstützung für Führung und Organisation, mit dem disruptiven Wandel besser umzugehen.

Dies scheint mir gerade in einer Zeit so wichtig, in der wir alle mit Instantangeboten überschüttet werden. Ständig müssen wir irgendetwas sofort downloaden, bestellen, kaufen oder unter permanentem Zeitdruck und in kürzester Frist implementieren, installieren, realisieren. Aber Disruptive Thinking sagt: Es ist immer Zeit zum Denken im Handeln. Oder noch besser: vor dem Handeln, wenn man sich in extremes Gelände begibt. Und Disruptionen sind extremes Gelände. Es sind nicht kleinere Unebenheiten auf einer Autobahn. Es ist Backcountry.

Extremkletterer, Snowboarder und Freeride-Profis wissen, wie sich das anfühlt. Sie begeben sich bewusst in dieses Gelände. Denn hinter jedem Berg wartet ein Gipfel voller neuer Möglichkeiten. Aber sie wissen auch, wie es die Freerider Melanie Schönthier und Stephan Bernhard formulieren: »Backcountry ist ein Ort voller Gefahren, wo eine falsche Entscheidung deinen Tag ruinieren kann.« Deshalb ist eine gute physische und vor allem mentale Vorbereitung so wichtig: »Better be ready when the shit goes down«, sagen sie dazu.

Eine gute technische Ausrüstung ist selbstverständlich wichtig. Das Werkzeug muss stimmen. Doch das bekommt man heute überall; jeder Anfänger kann es sich besorgen. Das Entscheidende aber passiert im Kopf. Es ist die Kombination aus Einstellung und Vorstellung. Man muss das Gelände lesen können. Und man muss beides gleichzeitig parat haben, vor seinem inneren Auge sehen und sich darauf vorbereiten: die Route, die man gehen, die Linie, die man fahren will, und zugleich jeden Stein, der zum Gegner werden kann, jeden Winkel, aus dem sich eine Lawine lösen kann.

Beides denken zu können, Widersprüche denken zu können, Gefahren zu erkennen und gleichzeitig Vertrauen zu haben, ist überlebensnotwendig. In jedem extremen Gelände. Disruptive Thinking ist deshalb die Kunst und Disziplin, mit Brüchen und Widersprüchen besser umzugehen. Es schafft die Voraussetzungen dafür, relevante disruptive Entwicklungen früher zu erkennen und sie in eine Gelegenheit zu verwandeln, eine neue Linie zu finden oder einen Sprung nach vorne zu tun.

Dieses Buch ist deshalb auch nicht einfach eine Handlungsanweisung oder ein Ratgeber herkömmlicher Art, sondern eher ein »Anleitfaden«, der den Leser dabei unterstützen soll, seine eigene Orientierung zu finden.

Natürlich verfügt Disruptive Thinking über eine Reihe von Tools, die sich in der Praxis in Innovations- und Transformationsprojekten bewährt haben, wie wir noch sehen werden. Aber Disruptive Thinking ist weniger ein neues Toolset als ein anderes Mindset. Es geht um Denken und Verhalten. Es geht darum, eine neue Anpassungsfähigkeit zu entwickeln und zugleich wieder Gestaltungsfähigkeit zu gewinnen, die uns mehr Freiheitsgrade gibt und mehr Wahlmöglichkeiten schafft.

Ich möchte den Leser mitnehmen auf eine Reise von der alten Welt in die neue Welt, eine dreiteilige Expedition in die Gedanken- und Erfahrungswelt von Disruptive Thinking. Man könnte die drei Teile »Gänge« nennen. Nicht zu verstehen als Menüfolge, sondern als Folge einer allmählichen Entwicklung der Gedanken beim Gehen, bei einer Wanderung querfeldein, bei der wir das Gelände aus unterschiedlichen Blickwinkeln erkunden und unsere Wahrnehmungen beobachten. Eindrücke sammeln und am Ende innehalten, um die Eindrücke zu sichten und mögliche Konsequenzen für unser künftiges Handeln zu ziehen. Jeder Gang mündet daher in einen praktischen Imperativ.

Wir werden uns bei jedem Gang in Spannungsfelder begeben. Wir werden ihnen nicht ausweichen. Wir können ihnen auch in der Realität nicht ausweichen. Spannungsfelder, Widersprüche, Dilemmata sind elementar für diese Umbruchszeit. Disruptive Thinking stellt sich ihnen, versucht sie zu meistern, an ihnen zu wachsen:

I. Gang

Wissen und Nichtwissen

Das disruptive Spiel beginnt

II. Gang

Routinen und Nichtroutinen

Die kreative Revolution erfasst die Organisation

III. Gang

Maschinen und Menschen

Wer bestimmt über unsere Zukunft?

In allen drei Gängen geht es zunächst um das Beobachten und Beschreiben typischer disruptiver Entwicklungen und Innovationen. Nämlich:

 allgemein auf den Märkten und in der Wirtschaft (I),

 mit Blick auf die Organisation und auf die Zusammenarbeit (II),

 im Hinblick auf das künftige Zusammenspiel von Mensch und Maschine (III).

Daraus abgeleitet nehmen wir anschließend in allen drei Gängen mögliche praktische Schlussfolgerungen und Hilfestellungen durch nützliche Tools in den Blick:

 zur mentalen Vorbereitung für die Strategie- und Innovationsarbeit (I),

 für die Transformation der Organisation (II),

 für die Kulturentwicklung (im weitesten Sinne) und für unsere eigene Entwicklung (III).

Oder noch kürzer: Zunächst sprechen wir über die Narrative, dann über die Imperative – die möglichen praktischen Imperative der Disruption.

Doch dies sind nur vorläufige Strukturierungen. Also nichts, was man in irgendwelche Kästchen oder Schubladen packen könnte. Das Thema Disruption lässt sich nicht kästchenförmig katalogisieren, wie wir noch sehen werden. Es hat eher etwas mit dem Aufsprengen der Kästchen zu tun. Disruptionen bringen Tools und Kataloge durcheinander.

Disruptionen ähneln Erdbeben. Erdbeben kann man bekanntlich nicht vorhersagen. Man kann erdbebengefährdete Gebiete benennen, Gesteinsschichten analysieren, immer genauere Messungen durchführen etc. Aber man kann nicht exakt wissen, wo und wann die Erde beben wird.

Disruptive Thinking reflektiert dies: Wir können nicht genau sagen, wo und wie sich die nächste Disruption ereignen wird – wir können technologische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungsmuster aufzeigen, damit wir nicht blind in irgendetwas hineinlaufen. Wir können Gestaltungsvorschläge machen, damit wir uns besser vorbereiten können. Aber das eigene Denken, das Entscheiden und die Übernahme von Verantwortung unter den Bedingungen zunehmender Ungewissheit – das kann uns niemand abnehmen.

Auch deshalb arbeitet Disruptive Thinking mit Fragen und mit Spannungsfeldern: Wissen und Nichtwissen, Routinen und Nichtroutinen, Maschinen und Menschen. Disruptive Thinking begnügt sich nicht mit einseitigen Bestimmungen. Nur Wissen, Routinen und Maschinen – das ist nicht genug. Das hieße, einseitig auf Gewissheiten, auf Zwangsläufigkeiten zu setzen. Sie lassen keine Wahl mehr. Da gibt es nichts mehr zu entscheiden. Nur noch zu exekutieren. Die Wege der digitalen Transformation scheinen vorherbestimmt. Manche hätten das gerne. Ich halte es für sachlich unrichtig, strategisch unzulässig und praktisch fahrlässig. Das unterscheidet Denken von bloßem Nachvollziehen des bereits Vorgedachten, also vom unreflektierten Gebrauch von Gefertigtem. Nach dem Motto von Friedrich Dürrenmatt: »Brauchbar ist eine Maschine erst dann, wenn sie von der Erkenntnis unabhängig geworden ist, die zu ihrer Erfindung führte.« Das ist hier nicht gemeint. Das hilft nicht, wenn man Neuland erschließen will. Disruptive Thinking setzt auf das Selbstdenken. Mit kreativem Vertrauen und Vergnügen. Neugierig, experimentell, vernetzt, bewusst und verantwortlich.

Disruptive Thinking

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