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Nichtwissen und Fragen

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Wenn ich von Nichtwissen spreche, dann ist das nicht tiefsinnig gemeint, sondern ganz unmittelbar, konkret und praktisch.

Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Zukunftsfragen, mit Innovationen und mit dem Thema Transformation. Ich habe im Silicon Valley mit Pionieren der digitalen Ära bereits in einer Zeit gesprochen, als viele noch glaubten, Apple wäre eine Nischenfirma. Ich habe viele Veränderungsprozesse von Unternehmen begleitet und zahlreiche Innovationsworkshops, Zukunftswerkstätten und Leadership-Programme durchgeführt.

Manchmal, ich gestehe es, habe ich gedacht, mich könnte nichts mehr überraschen. Doch in den letzten Jahren ertappe ich mich oft bei der Wahrnehmung: Das Tempo der Veränderungen nimmt in unheimlicher Weise zu. Die Verdrängung von Altem durch Neues passiert in immer kürzeren Abständen. Täglich. Stündlich. Minütlich. Viele Leser werden das Gefühl kennen. Und das hat mit unserem Thema zu tun. Disruptionen, Brüche und Umbrüche, wohin wir schauen. Nicht nur in der Technik. Nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft. Und immer häufiger müssen wir zugeben: Das wissen wir nicht. Oder wussten es bis gestern nicht.

Das heißt auch: Manches Faktum, das ich auf den folgenden Seiten schildere, kann überholt sein, wenn Sie als Leserin oder Leser dieses Buch in den Händen halten. Die Veränderungsgeschwindigkeit ist so hoch, dass bereits morgen ein neues Geschäftsmodell oder ein neues Unternehmen das Neue von heute alt aussehen lassen kann. Das ist ein Wesenszug dieser disruptiven Zeit. Bisweilen scheinen sich die Ereignisse zu überschlagen. Wir kommen kaum noch nach. Auch deshalb ist das Anerkennen des Nichtwissens im Wissen so wichtig für disruptives Denken. Es ist eine Voraussetzung zur Meisterung dieser kreativen Revolution.


Besonders relevant ist es für Manager und Führungskräfte, die heute über Zukunftsstrategien und langfristige Investitionen zu entscheiden haben. Etwa in der Automobilindustrie. Heute müssen sie entscheiden, welche Modelle in vier oder fünf Jahren auf den Markt kommen. Ich habe mit mehreren Automobilmanagern darüber gesprochen und immer wieder gehört, wie schwer ihnen diese Entscheidung fällt. Auch die beste Szenarienarbeit, auch die beste Research-Tätigkeit der klügsten Innovationsteams vermögen daran nicht zu ändern.

Das ist keine neue Erkenntnis für all diejenigen, die sich mit Komplexität und mit dem Thema Entscheiden unter Bedingungen der Unsicherheit beschäftigen: »Nur die prinzipiell unentscheidbaren Fragen können wir entscheiden«, hat der österreichische Physiker Heinz von Foerster einmal so schön formuliert. Doch diese Erkenntnis erschien manchmal etwas theoretisch. Heute, in diesen disruptiven Zeiten, besitzt sie praktische Sprengkraft.

Man kann das negativ sehen, als Verlust von Wissen. Man kann es aber auch anders sehen: als Zugewinn für unseren Realitätssinn, verbunden mit der Aufforderung, mehr und intensiver zu fragen und eine neue Achtsamkeit im Führungsalltag zu entwickeln. »To be prepared for the unexpected!« Das meint Disruptive Thinking: das Nichtwissen trainieren, experimentieren und dabei eine neue Form der Achtsamkeit entwickeln. Das kann vielleicht dazu führen, dass wir uns von manchem lösen, was wir in Zukunft nicht mehr brauchen, und dafür manches entwickeln, was überraschend einfach ist.

Das Einfache wird schwer zu machen sein. Denn die sich wandelnde Welt ist ein Playground und zugleich ein Battleground. Das klingt martialisch. Aber so wird in manchen amerikanischen Tech-Companies geredet. Viele sind dort in einem kulturellen Milieu aufgewachsen, in dem die Game Industry keine unerhebliche Rolle spielt und die TV-Serie House of Cards als eine Spiegelung der Realität empfunden wird. Diese Dimension der Transformation sollten wir nicht unterschätzen.

Natürlich kann man fragen: Was soll das? Wir müssen in der digitalen Transformation erst unsere Pflicht erfüllen. Diese Auffassung ist ehrenwert und nachvollziehbar. Und die Hausaufgaben sind bekannt. Zum Beispiel eine saubere Stärken-Schwächen-Analyse durchführen und sich fragen: Wie weit sind wir mit dem Thema Digitalisierung in der Organisation? Wo sind wir gut, wo nicht so gut? Wo könnten welche Wettbewerber aus welchen Branchen disruptiv angreifen? Wie können wir uns davor schützen? Haben wir eine klare Vision und strategische Ausrichtung? Wie weit ist die Organisation einbezogen? Wie weit arbeitet sie schon vernetzt – und zwar nicht nur horizontal, sondern auch vertikal vernetzt? Brauchen wir neue Organisationseinheiten, die mit einem ganz neuen strategischen Ansatz arbeiten? Welche Mitarbeiter brauchen wir für den künftigen Weg? Haben wir genügend gute Softwareentwickler und genügend Teamplayer in unseren Reihen?

Ja, allein diese Fragen zu beantworten und daraus Maßnahmen abzuleiten, ist ein ziemlich herausforderndes Pensum, ein Pflichtprogramm, das viele Kräfte bindet. Fast alle großen innovativen Unternehmen beschäftigen sich direkt oder indirekt mit diesen Aufgaben. Manches davon wird hier auf den folgenden Seiten auch noch einmal aufgegriffen und eingehend behandelt.

Doch das gehört alles auf die Seite dessen, was wir schon wissen. Wie aber kommen wir zur anderen Seite? »How do you come to know things that you don’t know?«, bringt es John Kao, Jazzpianist und Kreativitätsforscher, auf den Punkt. Disruptive Thinking entsteht, wenn wir in der Lage sind, die Seiten zu wechseln. Von der Seite des Bekannten zu der des Unbekannten – und wieder zurück. Manchmal.

Bisweilen jedoch bleiben die Fragen. Unbequeme Fragen, denen wir nicht ausweichen dürfen, wenn wir alle Hausaufgaben der digitalen Transformation erledigt haben. Wo stehen wir dann? Und wo stehen die, von denen wir all das gelernt haben, als wir unsere letzte Reise ins Silicon Valley unternommen haben? Laufen wir nur den Entwicklungen hinterher? Oder schaffen wir etwas Eigenes? Und was wäre das? Wo führt eigentlich die ganze Aufholjagd hin? Was ist der »Next Level« der Entwicklung?

Und während wir uns mit diesen Fragen beschäftigen, fallen uns noch ein paar andere ein: Was ist eigentlich mit all den Menschen, die nicht so gut sind auf dem Battleground? Was machen wir mit denen, die nicht mitkommen bei dieser Aufholjagd? Wie schöpferisch sind wir in der Zerstörung? Und wie nachhaltig ist unsere Transformation?

Und hier schließt sich der Kreis. Wir erinnern uns an die Szenerie in Davos und die dort präsentierten Ergebnisse der Studie zum Thema Vertrauen. Wir werden uns ein wenig anstrengen müssen. Dazu brauchen wir mehr soziale Verantwortung und mehr spielerische Leichtigkeit. Auch dieser Widerspruch gehört zum Disruptive Thinking.

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